Ulrike Meinhof:
 
"Heimerziehung, das ist der Büttel des Systems, der Rohrstock , mit dem den   proletarischen Jugendlichen  eingebläut wird, daß es keinen Zweck hat sich zu wehren"

     Bambule. Fürsorge – Sorge für wen?
         (Aus der Vorbemerkung)
 
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Die Zahl der in Erziehungsheimen befindlichen Jugendlichen ist nicht sehr hoch. Etwas über 30.000 nach der offiziellen Statistiken, nach anderen Schätzungen 50.000. Die Zahlen beziehen sich auf FE und FEH. FE – das ist Fürsorgeerziehung und wird gerichtlich angeordnet, vormundschaftsgerichtlich, die Eltern müssen für die Dauer der FE das Sorgerecht an das Jugendamt abgeben. FEH – das ist Freiwillige Erziehungshilfe, die Heimeinweisung erfolgt im Einverständnis der Eltern, die Eltern können die Kinder jederzeit wieder rausholen. Für die Jugendlichen macht das keinen Unterschied, die Behandlung ist die gleiche.
[...]
 
Bürgerliche Familien haben kaum mit dem Jugendamt zu tun, die Familienfürsorge hat es nicht mit bürgelichen Familien zu tun. [...] Fürsorgeerziehung hat für die proletarische Familie zwei Funktionen: Die Familie zu entlasten; den Jugendlichen zu disziplinieren. Fürsorgeerziehung ändert an den Verhältnissen nichts, aufgrund derer ein Jugendlicher aus der Bahn gekommen ist. Nicht dass die Lehrstelle mies war, interessiert das Jugendamt, sondern dass der Jugendliche sie verlassen hat. Nicht dass die Wohnung zu eng war und die Geschwisterzahl zu groß, um Schularbeiten machen zu können, sondern dass der Jugendliche Schule geschwänzt hat. Nicht dass er mit seinem Taschengeld nicht auskommen konnte, sondern dass er geklaut hat.
[...]
 
Mit Fürsorgeerziehung wird proletarischen Jugendlichen gedroht, wenn sie sich mit ihrer Unterpriviligiertheit nicht abfinden wollen. [...] Fürsorgeerziehung  verbessert nicht die miese Situation des proletarischen Jugendlichen, sondern zwingt ihn dazu, sich damit abzufinden. Wenn die Eltern nicht imstande sind, diesen Zwang auszuüben, die Anpassung des Jugendlichen an seine miese Lage zu erzwingen, springt der Staat ein, übt der Staat die dafür notwendige Gewalt aus, ordnet Fürsorgeerziehung an.
[...]
 
Heimerziehung, das ist der Büttel des Systems, der Rohrstock, mit dem den proletarichen Jugendlichen eingebläut wird, dass es keinen Zweck hat, sich zu wehren, keinen Zweck, etwas anderes zu wollen, als lebenslänglich am Fließband zu stehen, an untergeordnete Stelle zu arbeiten, Befehlsempfänger zu sein und zu bleiben, das Maul zu halten.
 
Fürsorgeerziehung ist öffentliche Erziehung, da können die Eltern nicht mehr reinreden, da macht der Staat, was er für richtig hält. Heimerziehung ist insofern ein exemplarischer Fall von Erziehung – an der Situation von Fürsorgezöglingen ist ablesbar, welche Erziehungsvorstellungen in einem Staat herrschend sind.
 
Der äußere Zwang in Heim soll jenes Wohlverhalten erzwingen, von dem man offenbar glaubt, dass es – lange genug erzwungen – verinnerlicht und zur Gewohnheit wird. Zwangsmittel im Heim, das sind: Bunker, Ausgangssperre, Taschengeldentzug, Zigarettenentzug.
 
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[...] Im Heim kann man keine dauerhaften Bindungen eingehen, weder mit Erziehern, noch mit Zöglingen. Heim bedeutet Heimwechsel, Trennung von alten Freunden, neue Freunde, Trennung von den neuen Freunden, Trennung, Freunde, Trennung. Verwahrlosung – behaupten die Psychologen – sei unter anderem die Unfähigkeit, feste Bindungen einzugehen. Heim, das ist die Unmöglichkeit, Bindungen einzugehen und festzuhalten.
 
Mädchen im Heim bekommen keine Ausbildung. Sie arbeiten für 20 Pfennig die Stunde in [...] idiotisierende, ungelernte Industriearbeit. [...] In der Klassengesellschaft ist Armut Schande, der Kriminalität benachbart. Arme sind unglaubwürdig. Also wird man sagen, was hier berichtet werde, das sei unglaubwürdig. [...] Die Disziplinierung  der bürgerlichen Jugend erfolgt über die Ausbildung. Der proletarische Jugendliche wird geradezu durch Ausbildungsverweigerung bestraft und diszipliniert.
 
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Gewalt produziert Gegengewalt, Druck Gegendruck. Die Formen von Widerstand, die in den Heimen praktiziert werden, entwickeln sich immer nur spontan und planlos, unorganisiert, als Aufstand, Widerstand, Rabatz, als Bambule.
[...]
 
4
 
Was gemeinhin für Missstände in den Heimen gehalten wird, ist deren Praxis und Prinzip. Anpassung und Disziplinierung sind das Erziehungsziel – hinter verschlossenen Türen sind alle Mittel erlaubt. Und wie werden diejenigen reagieren, die das lesen oder anhören? Die Mädchen sind skeptisch in Bezug auf den Nutzen solcher Unternehmung:
 
Jynette: Irgendwelche Leute hörn sich bestimmt das an.
 
Irene: Und dann ham se wieder n Grund zu klagen, ›Scheiße, spinnen da rum…‹
 
Jynette: Ja was heißt spinnen da rum – was wir erzählt haben, das muss doch alles in den Akten vermerkt sein.
 
Irene: Muss! Meinste die schreiben da rin, wenn die Mist gebaut ham? Da steht höchstens Rotet drin – die Nacht mit m Weib im Bett erwischt, in’ Bunker jekommen wegen dem und dem.
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(Diese »Vormerkungen« von Ulrike Marie Meinhof wurden den Sendungen »Bambule« und »Mädchen in Fürsorgeerziehung« (Hessischer Rundfunk) sowie »Bunker, Bunker« (Westdeutscher Rundfunk) entnommen. Sie bilden dort die kommentierenden Teile, die bei der Umarbeitung für das Fernsehspiel »Bambule« nicht übernommen wurden).