Sie wurden geschlagen, erniedrigt und eingesperrt. Unter oft unvorstellbaren Bedingungen wuchsen in den fünfziger und sechziger Jahre Hunderttausende Kinder und Jugendliche in kirchlichen Heimen auf. "Wir waren Zwangsarbeiter", sagen sie heute. Ein dunkles Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte.
Hamburg - In den sechziger Jahren trimmten staatliche,
katholische und evangelische Erzieher Kinder und Jugendliche in
rund 3000 Heimen mit mehr als 200.000 Plätzen. Gut die Hälfte der
Kinder war zwei bis vier Jahre lang in solchen Heimen. Andere
verbrachten ihre ganze Kindheit und Jugend in den oft hermetisch
abgeschlossenen Häusern. Erst wenn sie das 21. Lebensjahr
vollendet hatten, als Volljährige, wurden sie in die Gesellschaft
entlassen. Heute leben vermutlich noch mindestens eine halbe,
wahrscheinlich aber mehr als eine Million ehemaliger Heimkinder
aus dieser Zeit in Deutschland. Sie sind zwischen 40 und 65 Jahre
alt.
Rund 80 Prozent der Heime waren in konfessioneller Hand.
Insbesondere die katholischen Frauen- und Männerorden führten
jahrzehntelang zahlreiche Erziehungsanstalten. Sie hießen "Zum
Guten Hirten" oder waren nach Heiligen und Ordensgründern benannt:
"Don-Bosco-Heim", "St. Vincenzheim", "St. Hedwig" oder
"Marienheim". Die alte Mönchsregel "Bete und arbeite" erlebte eine
perverse Renaissance in diesen konfessionellen Erziehungsheimen
der jungen Bundesrepublik.
In der Diakonie Freistatt bei Diepholz, einer Zweigstelle der von
Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, wurde sie brutal
umgesetzt. Freistatt mit seiner Presstorfproduktion, mit seinen
Schlossereien und Schmieden war als reiner Wirtschaftsbetrieb
konzipiert, der die billigen Arbeitskräften ausnutzte. Wenn nicht
gerade Choräle gesungen wurden, mussten die 14- bis 21-Jährigen im
Sommer wie im Winter im Moor Torf stechen und pressen.
"Besenstiele als Züchtigungsmittel"
In der abgelegenen Anstalt schufteten viele Jugendliche, bei denen
"Verwahrlosung drohte", bis 1970 getreu dem Motto des Pastors
Gustav von Bodelschwingh: "Ein Junge, der am Tage stramm
gearbeitet hat, der hat nach dem Feierabend keine Neigung für
dumme Streiche mehr." Dennoch versuchten Zöglinge zu fliehen.
Diese mussten nach ihrer Ergreifung den Torf in schweren
"Kettenhosen" stechen, die nur Trippelschritte erlaubten. Selbst
zum Kirchgang mussten die Jugendlichen die Beinschellen tragen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die inzwischen auf sechs Häuser
angewachsene Diakonie Freistatt ständig überfüllt. In den
fünfziger Jahren waren in Freistatt etwa 500 junge Männer
eingesperrt. Damals war es noch üblich, dass Neuankömmlinge, die
etwa aus anderen Heimen entwichen waren, aus Schikane anfangs auf
dem Boden schlafen mussten.
Trotz des Verbots staatlicher Stellen, zu züchtigen oder als
Strafmaßnahme die Haare abzuschneiden, prügelten die Erzieher in
Freistatt, meist evangelische Diakone, munter weiter. 1960
beanstandete das Landesjugendamt Hannover "die Verwendung von
Forkenstielen, Torflatten, Pantoffeln und Besenstielen als
Züchtigungsmittel".
"Der Wille muss erst gebrochen werden"
Schon 1928 war die SPD Hannover bei Pastor von Bodelschwingh
abgeblitzt, als die Genossen nach der Entlohnung für die harte
Arbeit fragten: Die jungen Männer könnten ja frei wohnen,
antwortete der Gottesmann, ein Lohn sei nicht drin, sie würden
hier als Pfleglinge vor einer Notlage in Freiheit geschützt. Das
Torfstechen wird bei einer Tagung der "Betheler Inneren Missions
Anstalt Freistatt" auch 1950 noch als "eine wertvolle
Beschäftigungsmöglichkeit" bezeichnet. "Wer nicht spurte, wurde
verprügelt", berichtet Dieter Grünenbaum, ein ehemaliger Erzieher
und Diakon. Ihm wurde zum Dienstantritt von einem älteren Aufseher
gesagt, er solle doch einfach nur den Stärksten in seiner Gruppe
herausfinden: "Dem müssen Sie rechts und links hinter die Ohren
hauen, dann haben Sie hier die nötige Autorität." Grünenbaum
begriff rasch: "Der Wille musste erst gebrochen werden. Das
Prinzip war, der Jugendliche muss erst ganz unten sein."
Diese Vergangenheit holt Norbert Mehler manchmal ein. Mehler lebt
heute in Spanien, in sicherer Entfernung zum norddeutschen Moor.
Die Diakonie Freistatt ruft nur Erinnerungen an Gewalt und
hilflose Wut in ihm wach. Freistatt war für ihn, das berichtete er
dem "Weser-Kurier", "der Moorhof zur Hölle". Verzweifelt versuchte
er 1959 zu entkommen. "Ich schluckte Glassplitter, um meinen
Blinddarm kaputt zu kriegen und so über das Krankenhaus Diepholz
eine bessere Fluchtchance zu bekommen als inmitten des Sumpfes."
Mehlers Vergehen, das ihn nach Freistatt brachte: Im Alter von 19
Jahren war er mit der 16-jährigen Elke durchgebrannt, seiner
späteren Ehefrau.
1964 kam Michael Hoffmann als 17-Jähriger ins Moor, er war seinen
Pflegeeltern weggelaufen. "Bevor wir zur Arbeit ins Moor
rausmarschiert sind, haben wir uns in drei Zehnerreihen
aufgestellt und abgezählt. Alles geschah auf Kommando." Kaum mehr
als vier Mark erhielt Hoffmann als Lohn im Monat, er tauschte sie
gegen Karamellbonbons, der größte Luxus.
1970 schufteten noch immer 300 Menschen im Moor. Die "Hausväter"
sind weiterhin ohne pädagogische Ausbildung. Hinter den
vergitterten Fenstern werden die Jugendlichen in zellenartigen
Schlafräumen nachts eingeschlossen. Drei Jahre später geht die
Moorkirche in Flammen auf - zwei Zöglinge haben sie als Fanal des
Protestes angezündet. Kurz darauf feiert man in Freistatt den 75.
Geburtstag und errechnet, dass genau 92716 "Betreute" die Moorburg
durchlaufen haben, allesamt "abgeschobene Unbequeme".
Strammstehen zum Morgengebet
Wie viel Geld sie den Protestanten in Bethel insgesamt
erwirtschaftet haben, kann man in der Jubiläumsbroschüre nicht
lesen. Viele Heime finanzierten sich wie Freistatt weitgehend
selbst. Es gab Wäschereien, Landwirtschaft und Gärtnereien, die
vornehmlich der Eigenversorgung dienten. Es gab aber auch
gewerbliche Schlossereien, Tischlereien und andere Werkstätten,
die Bargeld in die Heimkasse brachten. Mancherorts mussten die
Jugendlichen in den Schreinereien Kirchenbänke herstellen. Im
schwäbischen St. Konradihaus gab es eine mechanische Werkstatt,
die hochwertige Maschinenteile für die Industrie lieferte. Im
"Haus Sonnenwinkel" in Tecklenburg mussten die älteren Mädchen im
Haushalt einer der zahlreichen Tecklenburger Ärzte-,
Rechtsanwälte- oder Beamtenfamilien arbeiten.
Gerald Hartford erinnert sich daran, im Salvator-Kolleg Klausheide
Scheinwerfer für die Firma H. und Matratzen für eine Firma aus
Delbrück gefertigt zu haben. Im Dortmunder Vincenzheim wurde
Wäsche im großen Stil für Hotels, Fabriken, Brauereien und
Privathaushalte gewaschen, gebügelt und gemangelt. Außerdem gab es
eine Näherei mit reichlich Auftragsarbeit. "Wir waren jugendliche
Zwangsarbeiter", brachte es das ehemalige Heimkind Gisela Nurthen
aus dem Dortmunder Vincenzheim auf den Punkt.
Schweigend mussten sie und die anderen Mädchen stundenlang mit den
schweren Laken und Tüchern an der großen Heißmangel stehen. Wer
unerlaubt sprach, riskierte Schläge. Gesungen werden durfte - aber
nur Marienlieder. "Mein Platz war an der großen Heißmangel. Das
stundenlange Stehen in großer Hitze - selbst im Sommer ohne
zusätzliche Getränke -, das ständige Falten riesiger Bettwäsche
ließ sämtliche Glieder schmerzen. Die Kolonne trottete abends
schweigend durch die Gänge zurück wie geprügelte Hunde." Aufstehen
mussten die Mädchen morgens um sechs. Strammstehen zum
Morgengebet. Dann waschen, ein hastiges Frühstück, Einteilung zur
Arbeit. Mittags gab es nach fünf Stunden die erste Pause. Am
Nachmittag noch eine kurze Kaffeepause, mit "Muckefuck".
Schweigsam, effektiv und einträglich
Bis zu zehn Stunden schuftete die 15-Jährige unbezahlt im immer
gleichen Takt. Am Samstag mussten sie bis mittags arbeiten.
Sonntags wurden Taschentücher zum Verkauf in der Nähstube
umhäkelt. Die hauseigene Großwäscherei war für die
Vincentinerinnen ein lukratives Geschäft. Die Arbeit bringe, so
schrieb 1962 der Dortmunder "Kirchliche Anzeiger" ganz offen, "um
die Steuerzahler etwas zu beruhigen", einen "nicht unerheblichen
Teil" der Kosten ein. Hotels, Firmen, Krankenhäuser und viele
Privathaushalte zahlten gut - und fragten nicht, wer da fürs
Reinwaschen missbraucht wurde.
"Die Kunden bekamen uns nie zu sehen, es gab extra einen
Abholraum, zu dem war uns der Zutritt streng verboten." In der
Hausordnung des Heims "Zum Guten Hirten" in Münster war das
Schweigegebot bei der Arbeit jahrzehntelang festgeschrieben:
"Während den der Arbeit gewidmeten Stunden wird so viel wie
möglich Stillschweigen beobachtet, welches durch Gebet und Gesang
unterbrochen wird. Auch im Speisesaal und in den Schlafsälen ist
für gewöhnlich das Sprechen untersagt." Schweigsam, effektiv und
einträglich - so sollten die Zöglinge sein.
Unterlagen aus dem "Guten Hirten" in Münster belegen die
erbärmliche Bezahlung der Zöglinge selbst noch zu Beginn der
siebziger Jahre: "Das Entgelt für eine 40-stündige Arbeit in der
Woche schwankt zwischen 2 und 4 DM." In der Regel erhielten die
Kinder und Jugendlichen - trotz harter Arbeit mit bis zu 48
Stunden die Woche - keinen entsprechenden Lohn. Sie waren auch
nicht sozialversichert.
Ehemalige Heimkinder erwägen Klage
Die "verlorenen Jahre" sind für die Betroffenen heute finanziell
ein Debakel. Sie fehlen bei der Rente, die für die meisten ohnehin
recht schmal ist. Bei der AOK Dortmund etwa recherchierten
ehemalige Heimkinder vergeblich nach Beiträgen, die für sie aus
dem Vincenzheim ihrer Ansicht nach hätten eingehen müssen.
Die ehemaligen Heimkinder überlegen jetzt, ob sie Wiedergutmachung
für Arbeit und Misshandlungen einklagen sollen, etwa nach dem
"Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten". Dieses
Gesetz beinhaltet eine Einstandspflicht des Staates für
unschuldige Opfer von vorsätzlichen, rechtswidrigen Gewalttaten.
Fürsorgezöglinge wurden in den Erziehungsheimen trotz staatlicher
Aufsicht im großen Stil als billige Arbeitskräfte ausgenutzt.
Dieses System hatte eine lange Tradition.
In einer Caritas-Festschrift über die katholische Kinder- und
Jugendfürsorge hieß es bereits in den dreißiger Jahren: Dem
Fürsorgezögling "darf es schon in Fleisch und Blut übergehen, dass
die Arbeit in Gottes Auftrag geschieht und nicht bloß klingende
irdische Münzen einbringt, sondern auch den ewigen Lohn bedingt.
Das Wort 'Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot
essen' darf den Eingang jeder Werkstätte zieren."