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Wochenendseminar
“Eine neue Verfassung für die Humboldt-Uni”
8. bis 9. Mai 2004
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Übersicht]
B. Inputreferate
I. Thomas Neie
(Rechtsanwalt)
Hochschulmitbestimmung und Verfassungsrechtsprechung – Wieviel Demokratie
darf sich die Wissenschaft leisten?
1.) Wieviel Mitbestimmung sieht das Grundgesetz vor? Das Bundesverfassungsgericht
gibt Antwort
a) die Wissenschaftsfreiheit
- Angelpunkt dieser Frage ist die in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG festgeschriebene
Wissenschaftsfreiheit: “Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre
sind frei.”
- fraglich ist jedoch, wer Träger dieser Wissenschaftsfreiheit sein
soll (ProfessorInnen?, Hochschule selbst?, alle Mitglieder der Hochschule?)
- die Wissenschaftsfreiheit ist in erster Linie die Freiheit der Wissenschaft
vor dem Staat:
- in der Forschung: Abwehrrecht gegen staatliche Einmischung
in die Entwicklung und Durchführung von Gedankengängen
- in der Lehre: Fähigkeit, müdige und erkenntnisfähige BürgerInnen
für eine demokratische Gesellschaft zu formen
b) Beschränkung der Wissenschaftsfreiheit
- Gewährt die Wissenschaftsfreiheit auch Schutz vor überfüllten Seminaren
oder Lehrverpflichtung für DoktorandInnen?
- Hier sind bereits Abgrenzungen zu anderen Grundrechten vorzunehmen:
- so fallen überfüllte Vorlesungen und Seminare nicht unter den
Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit, sondern der Berufsfreiheit
nach Art. 12 Abs. 1 GG;
- ebenso die Frage der Gewichtung von Lehre und Forschungsverpflichtungen
von DoktorandInnen
- eben alle Fragen der beruflichen Karriere
c) Art. 5 III GG als Teilhabe- und Leistungsrecht
- neben dem Abwehrcharakter von Art. 5 III GG, ist dem Grundrecht auch
ein Teilhabe- bzw. Leistungscharakter immanent: nämlich die Verpflichtung
des Staates zur institutionellen Ermöglichung von Forschung und Lehre
durch Bereitstellung von notwenigen Ressourcen
- Art. 5 III GG garantiert damit die Voraussetzungen zur Durchführung
wissenschaftlicher Tätigkeiten: Bereitstellung von Forschungsmaterialien
ausgerichtet an der Funktionsfähigkeit der Hochschulen
- der Staat wird verpflichtet, einen funktionsfähigen Angebotsaperat
zur Verfügung zu stellen
- es verpflichtet den Staat ferner dazu, die GrundrechtsträgerInnen
an der Organisation zu beteiligen, gibt jedoch nach der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) keine klaren Vorgaben für die
Wissenschaftsorganisation vor
d) Beschränkung der Teilhabe- und Leistungsrechte
- die zunächst schrankenlos gewährten Rechte aus Art. 5 III GG werden
allerdings durch kollidierende Rechte beschränkt
- so muss hinsichtlich der GrundrechtsträgerInnen differenziert werden
und insbesondere je Gruppe besonders geschützt werden, die den Hauptteil
der Wissenschaft ausmacht und am längsten in der Hochschule verbleibt,
kurzum die ProfessorInnen
- nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfGE 35,
79; Urteil vom 29. Mai 1973; siehe Seminarreader S. 109 ff.) muss die
Gruppe der ProfessorInnen daher in den Gremien mindestens über die Hälfte
der Stimmen verfügen, in denen über die Kernbereiche von Lehre und Forschung
entschieden wird (bei rein forschungsrelevanten Fragen und Berufungen
sogar über die Mehrheit der Stimmen: “ausschlaggebender Einfluss”)
2.) Andere Ansichten
a) Das Minderheitenvotum zum Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1973
- nicht alle Richter konnten dem Tenor der Entscheidung des BVerfG vom
29. Mai 1973 folgen; so legten die Richter Simon und Rupp-v. Brünneck
ein Minderheitenvotum (siehe Seminarreader S. 123 ff.) ein
- darin vertraten sie die Ansicht, dass Art. 5 III GG kar keine Aussagen
über die Wissenschaftsorganisation treffe, sondern zunächst vor allem
ein Abwehrrecht gegen den Staat vor Einmischung in die wissenschaftliche
Lehr- und Forschungstätigkeit sei
- soweit Art. 5 III GG Teilhabe- und Leistungsrechte begründe, könnten
diese nur im Lichte der “fundamentalen Bedeutung der Grundrechte für
die Integration einer Demokratie freier, mitverantwortlicher Bürger[Innen]”
gesehen werden und zielen damit auf eine Beteiligung aller am Wissenschaftsprozess
beteiligten Gruppen
- zur Ausgestaltung dieser Beteiligungsformen sei der Gesetzgeber aufgrund
des Gewaltenteilungsgrundsatzes berufen; er ist darin frei ein Organisationsmodell
zu entwerfen, das er für sinnvoll hält, solange er die Belange der Wissenschaft
berücksichtigt und die Mitglieder der Hochschulen beteiligt werden
b) Bundesregierung und Bundesassistentenvereinigung
- die Bundesregierung argumentierte, dass schlichtweg jede gesetzlich
gewollte Organisationsform zulässig sei, solange die Wissenschaft dadurch
nicht behindert werde, sondern durch den gewählten Organisationsbetrieb
die wissenschaftlichen Spezifika sichergestellt werden
- die Bundesassistentenvereinigung legte in einer Dokumentation das
Wesen dieser Spezifika dar, nämlich:
- Offenheit für wissenschaftliche Prozesse und Ideen
- Tranzparenz der gewählten Verfahren
- Anpassungfähigkeit an gewandelte (Ausgangs-)Bedingungen
3.) Weitere Verfassungsrechtsprechung und Ausblick
a) Verfassungsrechtsprechung nach 1973
- das BVerfG hat sich nach seinem Urteil von 1973 sehr zurück gehalten,
was die Ausgestaltung oder Verteidigung der ProfessorInnenrechte anbelangt
und sich dem Sondervotum zunehmend angenähert
- nicht zuletzt wegen der vielfach pubilzierten Literaturmeinung,
das BVerfG hätte durch seine weitreichenden Interpretationen in
diesem Urteil gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz verstoßen, weil
es dem eigentlich zur Entscheidung berufenen Gesetzgeber das Recht
genommen hätte, die politisch gestaltenden Grundentscheidungen selbst
zu treffen
- 1995 hatte das BVerfG über die Frage zu entscheiden, ob der/die DekanIn
das Recht zustehe, anderen ProfessorInnen die Weisung zu erteilen, bestimmte
Lehrveranstaltungen anzubieten
- damals urteilte Karlsruhe, dass diese Weisung unter ProfessorInnen
verfassungskonform sei, weil die Wissenschaftsfreiheit nicht etwa
einzelne ProfessorInnen vor ihrer Verantwortung für die Lehre schütze,
sondern die Organisationsfähigkeit der Hochschule insgesamt
- 2001 urteilte das BVerfG, dass auch die Unterzeichnung von Hochschulverträgen
durch den/die RektorIn der Hochschule mit der Wissenschaftsfreiheit
vereinbar sei, obwohl sich daraus auch konkrete Konsequenzen für die
an der Hochschule tätigen GrundrechtsträgerInnen ergaben
- nach Ansicht der VerfassungsrichterInnen sind die Teilhaberechte
der ProfessorInnen auf die repräsentative Einflussnahme in den zuständigen
Gremien begrenzt; eine Beteiligung der ProfessorInnen in den Gremien
mit eigenen Schutzrechten genüge daher (Urteil vom 7. Mai 2001)
- Hinsichtlich des Schleswig-Hollsteinischen Hochschulgesetzes hatte
das BVerfG schließlich auch über die Frage zu entscheiden, ob die Wahl
der Hochschulleitung durch ein paritätisches Gremium mit der Verfassung
vereinbar wäre
- dazu urteilte das Gericht, dass ein durch ProfessorInnenmehrheit
zustandegekommenes Vorschlagsrecht (z.B. durch eine entsprechend
zusammengesetze Findungskommission oder durch den Vorschlag des
Akademischen Senates) genüge und die Wahl selbst dann auch durch
ein paritätisch besetztes Gremium erfolgen könne
b) Ausblick für eine Verfassungsdiskussion an der Humboldt-Universität
- Kontrollorgane sind wichtig -> eine Trennung der Funktionen ist dabei
der richtige Ansatz
- es gibt noch einige beim BVerfG anhängige Klagen bzgl. des Kompetenzumfangs
von Hochschulleitungen, grds. kann das Urteil von 1973 aber dahingehend
verstanden werden, dass die Wissenschaftsverwaltung maßgeblich durch
die Hochschulmitglieder und insbesondere die ProfessorInnen entschieden
werden muss und nicht durch hierarchisierte Einzelpersonengremien
- eine Reduzierung des Akademischen Senates auf ein bloßes Beratungsgremium
ist daher verfassungsrechtlich problematisch
- Beteiligung von DekanInnen im Akademischen Senat mit Stimmrecht?
- DekanInnen sind keine InteressenträgerInnen von Gruppen – wie
sie das BVerfG in den Mittelpunkt der Hochschulorganisation stellt
–, sondern von Institutionen; ihre Beteiligung macht daher nur dann
Sinn, wenn sie sich zugleich als GruppenvertreterInnen fühlen (z.B.
wenn der Stimmenanteil der Gruppe der ProfessorInnen um die Anzahl
der DekanInnen gesenkt wird)
- Hochschulräte, in denen regelmäßig außeruniversitäre Mitglieder entscheiden,
sind nach der Rechtsprechung des BVerfG verfassungswidrig, insbesondere
wenn ihnen zunehmend mehr Kompetenzen zuwachsen, die Auswirkung auf
die Rechte der Hochschulmitglieder haben
- um aber die Gesellschaft und ihre Interessen an den Entscheidungen
der Hochschule zu beteiligen, sind Gremien wie das alte Kuratorium
sinnvoll
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zu II. Andreas Keller: Hochschulreform oder Hochschulrevolte?]
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