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Claus
Förster Die Stellung der jüdischen
Gemeinden nach preußischem Recht zwischen 1869 und 1918
Sowie das
preußische Gesetz zum Austritt aus einer Gemeinde
Beschreibung:
Seminararbeit im Rahmen des rechtshistorischen Seminars
„Zur Geschichte der rechtlichen Stellung der Juden“
bei Prof. Dr. Hans-Peter Benöhr und Stephan M.
Eibich im Wintersemester 1999/2000 an der Humboldt-Universität
zu Berlin.
Das im
Norddeutschen Bund erlassene Gesetz, betreffend die
Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und
staatsbürgerlicher Beziehung
vom 3. Juli 1869 verbot die rechtliche
Diskriminierung von Juden als Einzelpersonen, enthielt aber keine
Bestimmung über ihr Zusammenleben in Religionsgemeinschaften.
Hier blieb es den Einzelstaaten überlassen, ihre Gesetzgebung
der neuen Zeit anzupassen.
A.
Bestehende Normen
I.
Landesverfassungsrecht
In
Preußen, dem Staat, in dem ca. 416 von 615 Tausend Juden des
Deutschen Reichs lebten,
gab es bis 1873 außer der
Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31.
Januar 1850 (PrVerf) kein landesweit geltendes, die Verhältnisse
der Synagogengemeinden regelndes Gesetz. Die Verhältnisse der
Kirchen und Religionsgemeinschaften wurden in Artt. 12 ff. PrVerf
geregelt.
Wichtig
war dabei einerseits Art. 12 PrVerf, der die Freiheit des
religiösen Bekenntnisses, der Vereinigung zu
Religionsgesellschaften und der gemeinsamen Religionsausübung
gewährleistete. Auch hier war die für die Juden
bedeutsame Bestimmung enthalten, nach der bürgerliche und
staatbürgerliche Rechte und Pflichten vom religiösen
Bekenntnis unabhängig waren. In einem gewissen Widerspruch
hierzu stand Art. 14 PrVerf, der bei „denjenigen
Einrichtungen des Staates, welche mit der Religionsübung im
Zusammenhange“ standen, die christliche Religion zu Grunde
legte. Jedenfalls gehörte aber aufgrund von Art. 12 PrVerf
die frühere Unterscheidung zwischen den „ausdrücklich
aufgenommenen“ Kirchen und der „geduldeten“
jüdischen Religionsgesellschaft der Vergangenheit an.
Art. 15 PrVerf bestimmte, dass die
Religionsgesellschaf-ten ihre Angelegenheiten selbst ordneten und
verwalteten und im Besitz ihrer Anstalten, Stiftungen und Fonds
blieben.
II. Einfaches
Landesrecht
Auf
der Ebene des landesweit geltenden einfachen Rechts gab es das
Gesetz vom 14. Mai 1873, betreffend den Austritt aus der Kirche
(KiAustrG)
und das Gesetz vom 28. Juli 1876, betreffend
den Austritt aus den jüdischen Synagogengemeinden
(SynAustrG).
Da
bis 1866 das preußische Staatsgebiet hauptsächlich
durch Kriege immer wieder vergrößert worden war, in den
hinzugekommenen Gebieten aber das alte Recht weitgehend bestehen
blieb, gab es eine Vielzahl verschiedener Rechtsgebiete. Auch was
das Recht der jüdischen Religionsgemeinschaften anbetraf, gab
es zwölf verschiedene Rechtsgebiete.
Dies war zum einen das ursprüngliche
Staatsgebiet in den Provinzen Berlin, Brandenburg, Ostpreußen,
Pommern, Posen, Rheinland, Sachsen, Schlesien, Westfalen und
Westpreußen, in dem 82,9 Prozent der Juden des Landes
lebten.
Die Provinz Hannover bildete ein Rechtsgebiet.
In der Provinz Hessen-Nassau gab es mit Kurhessen, Nassau,
Hessen-Homburg, der Stadt Frankfurt und früheren Teilen der
Nachbarstaaten Bayern und Hessen-Darmstadt sechs verschiedene
Rechtsgebiete, in der Provinz Schleswig-Holstein und den
Hohenzollerschen Landen mit Schleswig und Holstein bzw.
Sigmaringen und Hechingen je zwei.
Das
Gesetz über die Verhältnisse der Juden
vom 23. Juli 1847 (Ges1847)
galt dementsprechend nur für Altpreußen.
B.
Synagogengemeinde und Staat
Das
rechtliche Verhältnis der Synagogengemeinde zum Staat kann
so-wohl zu früheren als auch zu späteren Zeiträumen
abgegrenzt werden. Zum einen hatte die Synagogengemeinde gegenüber
der Zeit vor dem Edikt vom 11. März 1812, betreffend die
bürgerlichen Verhältnisse der Juden im Preußischen
Staate keine staatlichen Funktionen mehr, sondern beschränkte
sich auf religiöse und soziale Aufgaben.
Gegenüber der Zeit zwischen 1812-1853
zeichnete sich das Verhältnis durch eine starke
Verrechtlichung aus.
Die „Kultus- und
Unterrichts-Angelegenheiten der Juden“ wurden in Altpreußen
durch die §§ 35-73 des Ges1847
reglementiert. Die Synagogengemeinden wurden
gemäß § 37 Ges1847
voll rechtsfähige öffentlich-rechtliche
Körperschaften.
Im
Vergleich zur Weimarer und zur Bundesrepublik fällt vor allem
auf, dass der Gedanke der Selbstverwaltung der
Religionsgemeinschaften, der in Art. 137
III WRV zum Ausdruck kommt und über Art. 140 GG auch in der
Bundesrepublik gilt, sich noch nicht vollständig durchgesetzt
hatte. Vielmehr kam der Eingriff sowohl des Gesetzgebers als auch
der Verwaltung in Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften im
Ges1847 an
vielen Stellen zum Ausdruck. Art. 15 PrVerf stand der Wirksamkeit
dieser Bestimmungen nicht entgegen, da nach Art. 110 PrVerf alle
durch vorkonstitutionelle Gesetze angeordneten Behörden bis
zur Ausführung der sie betreffenden organischen Gesetze in
Tätigkeit bleiben sollten.
I.
Gesetzgeber
Reglementierungen
allein durch den Gesetzgeber waren zunächst die §§
38-40 Ges1847,
die die Bildung der Organe Vorstand und Repräsentantenversammlung
sowie minimale und maximale Mitgliederzahlen vor-schrieben. In den
§§ 46 f. Ges1847
wurden die Kompetenzen beider Organe en detail
abgegrenzt. Demgegenüber nehmen sich die Zuständigkei-ten
des nach § 50 Ges1847
von der Gemeinde zu erlassen Statuts recht
gering aus. Das Statut unterlag im übrigen der Genehmigung
des Oberpräsidenten.
In
§ 41 Ges1847
schließlich wurde der Kreis der zu
beiden Organen aktiv Wahlberechtigten mit der Gesamtheit der
„männlichen, volljährigen, unbescholtenen
Mitglieder“, die sich selbständig ernährten und
mit Abgaben nicht im Rückstand geblieben waren, definiert und
die Dauer der Wahlperiode festgelegt. Nicht vorgeschrieben und
damit gemäß § 50 I 1 statuarischer Normierung
überlassen waren aber die Wählbarkeit und das
Wahlsystem.
Letzteres war in den einzelnen Gemeinden
entweder am Dreiklassenwahlrecht der Abgeordnetenhaus- und
Kommunalwahlen orientiert oder entsprach dem Mehrheitswahlrecht
der Reichstagswahlen.
II.
Exekutive
Darüber
hinaus war auch eine Mitwirkung der ausführenden Gewalt des
Staates vorgesehen. Nach § 36
Ges1847 wurden
die Synagogenbezirke durch die Regie-rungen gebildet, wobei aber
die Beteiligten angehört werden mussten.
Nach
§ 42 S. 1 Ges1847
oblag die Wahlleitung einem Vertreter der
Regierung. Die meisten Bezirksregierungen übertrugen diese
Aufgabe auf die örtlichen Bürgermeister.
Gemäß § 43 Ges1847
mussten die Wahlen beaufsichtigt und genehmigt
werden. Gegebenenfalls konnte die Regierung einzelne
Vorstandsmitglieder „wegen vorsätzlicher
Pflichtwidrigkeit oder wiederholter Dienstvernachlässigungen“
nach administrativer Untersuchung entlassen. Zudem erlaubte §
46 IV der Repräsentantenversammlung, den Vorstand als ganzes
oder einzelne Mitglieder wegen Ver-nachlässigungen
anzuzeigen.
Aufgrund
des § 44 S. 2 war die Synagogengemeinde gegenüber den
Staats- und Kommunalbehörden zur Auskunft über alle
Angelegenheiten der Gemeinde und über ihre Mitglieder
verpflichtet. Neue Auflagen, Anleihen und Grundstücksgeschäfte
bedurften gemäß § 48 Ges1847
der Genehmigung der Regierung. Diese verfügte
allerdings 1893, dass sich dies nur auf Grundstücke, die
gottesdienstlicher Zusammenkunft dienen sollten, bezog.
In
Ergänzung zu den einzelnen Kontrollrechten der Regierung war
schließlich in der Generalklausel des § 49 I Ges1847
ein allgemeines Kontrollrecht der Regierung
vorgesehen. Außerdem wurde durch § 49 I Nr. 3 Ges1847
die Regierung Beschwerdeinstanz für die
Verletzung von Mitgliedsrechten.
III.
Tatsächliche Einwirkungen
Trotz
der nach dem Wortlaut so umfangreichen Einflussmöglichkeit
wirkte die Regierung in der Praxis nur formal und mischte sich
nicht in religiöse oder personelle Fragen ein.
Dies entsprach zum einen dem Grundsatz des
Art. 15 PrVerf und zum anderen auch der allgemeinen Stimmung.
Dennoch standen die Normen nicht bloß auf dem Papier.
Beispielhaft hierfür ist eine Entscheidung des RG von 1895,
das einen Kaufvertrag für unwirksam erklärte, weil die
Genehmigung nach § 48 Nr. 2 fehlte.
IV.
Unterschiede zu den Kirchen
Eine
Einwirkung des Staates in innere Angelegenheiten gab es zwar auch
in den schon traditionell staatsnahen Kirchen. Diese vollzog sich
aber auf zentraler Ebene. Bei der evangelischen Kirche ergab sich
dies schon daraus, dass das Staatsoberhaupt als summus
episcopus zugleich Kirchenoberhaupt war.
Bei der katholischen Kirche sicherte sich der
Staat seinen Einfluss durch eine Mitsprache bei der Ernennung von
Bischöfen.
So gesehen war die Einflussnahme durchaus
nicht geringer als bei den Synagogengemeinden. Andererseits
erstreckte sich diese aber nicht auf die unteren Ebenen. So wurden
die königlichen Funktionen in der evangelischen nicht mehr
wie in früheren Zeiten durch eine Abteilung der
Staatsregierung wahrgenommen.
Die Kontrolle der einzelnen Gemeinden durch
Provinz- und Bezirksregierungen war daher ein Spezifikum gegenüber
der jüdischen Religionsgemeinschaft.
C.
Der Austritt aus der Synagogengemeinde
I.
Rechtslage
1.
Vor 1873
Vor
Inkrafttreten der Austrittsgesetze 1873 und 1876 hatten sich die
Mitgliedschaft in der Religionsgemeinschaft und die Zugehörigkeit
zu der Synagogengemeinde, zu deren Bezirk der Wohnort des
Gläubigen gehörte, gegenseitig bedingt. Dies ergab sich
für Altpreußen aus § 35 des Ges1847.
Auch in Hannover, Schleswig-Holstein, Kurhessen, Frankfurt, Nassau
und Hohenzollern-Sigmaringen gab es ausdrückliche Regelungen
dieses Inhalts. In dem früher großherzoglich-hessischen
Landesteil, in Hessen-Homburg und in Hohenzollern-Hechingen wurde
das Bestehen dieser Verknüpfung aus systematischer Auslegung
bzw. Gewohnheitsrecht abgeleitet. Lediglich für den ehemals
bayerischen Landesteil hatte der Staat darauf verzichtet, in
dieser Frage Normen zu setzen.
2.
KiAustrG
An
dieser so genannten Zwangsmitgliedschaft änderte auch das
1873 in Kraft getretene KiAustrG nichts. Zwar bestimmte § 8
KiAustrG seine analoge Anwendung auf „alle
Religionsgesellschaften, welchen Korporationsrechte gewährt
sind“. So konnte ein Jude gemäß §§ 8, 1
I KiAustrG aus seiner Religionsgemeinschaft durch Erklärung
vor dem örtlichen Richter austreten. Allerdings hatte die
Regierung in den Motiven zu § 9 des Entwurfs zum KiAustrG,
der dem späteren § 8 inhaltlich entsprach, festgehalten,
dass eine „analoge Anwendung auf die Juden nur im Falle des
Austritts aus dem Judentum, nicht aber im Falle des Austritts aus
einer einzelnen Synagogen-Gemeinde zulässig“ sei, da
sich der Austritt aus der Kirche ja auch nicht auf den Austritt
aus der einzelnen Pfarrei beziehe. Für den gesonderten
Austritt aus der Synagogengemeinde verwies sie auf die
bevorstehende „gesetzliche Regelung der Verhältnisse
der Juden überhaupt“.
3.
SynAustrG
Wesentlich
für das SynAustrG ist die in § 1 I SynAustrG
ausgesprochene Unterscheidung zwischen der jüdischen
Religionsgemeinschaft als ganzem und der einzelnen
Synagogengemeinde. Nunmehr ermöglichte das Gesetz den
Austritt aus der Gemeinde bei bestehen bleibender Zugehörigkeit
zur Religionsgemeinschaft. Das Gesetz regelte gemäß §
9 I SynAustrG ausschließlich diesen Fall und verwies für
den Austritt aus der jüdischen Religionsgemeinschaft auf das
KiAustrG.
In
§§ 1 I, 9 I SynAustrG wurde eine Legaldefinition des
Judentums als jüdische Religionsgemeinschaft getroffen. §
2 SynAustrG machte die bürgerliche Wirksamkeit des Austritts
von der Erklärung des Austretenden gegenüber dem
örtlichen Richter abhängig, dass der Austritt auf
religiösen Bedenken beruhe. Obwohl dies aus dem Wortlaut der
Norm nicht hervorgeht, wurde davon ausgegangen, dass diese
Erklärung auch für die Ehefrau und die minderjährigen
Kinder galt.
§§
3 f. SynAustrG regelten die Form des Austritts. § 3 S. 2
SynAustrG sicherte dabei die Information des Vorstands der
betroffenen Synagogengemeinde. §§ 5, 7 SynAustrG
enthielten lokale Sonderregelungen.
§
6 SynAustrG konkretisierte die Rechtsfolgen für den
Austretenden. Seine Mitgliedsrechte gegenüber der Gemeinde
erloschen gemäß § 6 I Nr. 1 SynAustrG mit
sofortiger Wirkung. Lediglich das Recht zur Mitbenutzung des
Begräbnisplatzes verblieb ihm nach § 6 II 4 so lange,
wie er keine Nutzungsberechtigung für einen anderen
Begräbnisplatz besaß. Für die Pflichten gab es
Übergangsregelungen. Gemäß § 6 I Nr. 2
SynAustrG endeten die aufgrund der Mitgliedschaft bestehenden
Pflichten erst mit Ablauf des auf die Austrittserklärung
folgenden Kalenderjahres. Für bestimmte Leistungspflichten
wurde die Übergangszeit noch länger bemessen: für
die Kosten eines spätestens im Kalenderjahr des Austritts für
notwendig erklärten außerordentlichen Baus dauerte sie
gemäß § 6 II Buchst. a SynAustrG ein weiteres
Jahr. Zur Differenz aus den zur Zeit des Austritts bestehenden
Verpflichtungen der Gemeinde gegenüber Dritten und den
Einnahmen der Gemeinde aus Grundstücken musste der
Austretende gemäß § 6 II Buchst. b SynAustrG sogar
bis zum Ablauf des fünften Kalenderjahres nach Austritt
beitragen; allerdings wurde gemäß § 6 II 3
SynAustrG der Betrag auf den früheren Durchschnittsbetrag
begrenzt.
§
8 SynAustrG schließlich ermöglichte die Bildung neuer
Synagogengemeinden durch zuvor Ausgetretene aufgrund königlicher
Verordnung.
II.
Entstehungsgeschichte des SynAustrG
1.
Beratung des § 8 KiAustrG im Jahr 1873
a)
Kommission
Die
von der Regierung in den Motiven zum KiAustrG geforderte
Voraussetzung des „Austritts aus dem Judentum“ (s. o.
Rn. 10) wurde im Abgeordnetenhaus in der XIV. Kommission,
betreffend den Austritt aus der Kirche kritisiert. Dies entspreche
nicht den Verhältnissen der Christen, die mit dem Austritt
aus der Kirche nicht aus dem „Christentum“ auszutreten
pflegten. Die Erklärung der jüdischen
Religionsgemeinschaft als „Gesamtinbegriff“ der
staatlich geschaffenen Synagogengemeinden zum „Judentum“
sei eine willkürliche Fiktion. Es sei deshalb unzulässig,
vom preußischen Juden zu fordern, entweder aus dem Judentum
auszutreten oder einer bestimmten Synagogengemeinde anzugehören.
Es müsse den Juden möglich sein, sich „dem
staatlich anerkannten Begriff der Religionsgemeinschaft“ zu
entziehen und „doch innerhalb des Judentums“
auszuharren. Die konfessionellen Unterschiede müssten
innerhalb des Judentums entsprechend denen des Christentums
berücksichtigt werden.
Von
Mitgliedern der Kommission wurden daher verschiedene Änderungen
an dem Entwurf vorgeschlagen. Allerdings setzte sich dann die
Sichtweise durch, eine Änderung der Vorlage sei nicht
möglich, ohne den Rahmen dieses Gesetzes zu verlassen. Eine
Lösung lasse sich aber durch eine umfassenden Revision des
Ges1847 erreichen.
b)
Der
Antrag Warburgs
Bei
der zweiten Beratung des Gesetzes im Abgeordnetenhaus am 18. März
1873 schlug der jüdische Abgeordnete Warburg eine Lösung
da-hingehend vor, am Schluss des § 8 den Satz „Die
Separation von dem Kultus einer Synagogengemeinde befreit nur von
den Kosten dieses Kultus“ anzufügen.
Es
solle getrennt werden zwischen der politischen Funktion, die die
Synagogengemeinde seit dem Ges1847
ausübe und dem eigentlichen Kultus. Er
plädierte dafür, eine Regelung im KiAustrG zu treffen
und auf ein eigenes Gesetz zu verzichten, da die Emanzipation der
Juden nur erreicht werden könne, wenn mit der Tradition der
„Spezialjudengesetze“ gebrochen werde. Die unteren
Schichten des Volkes würden die Juden für „nicht
gute Menschen“ halten, wenn sie sähen, dass die „Männer
an der Spitze“ die Juden durch die Gesetzgebung schlechter
stellten.
Da der Antrag keine Zustimmung finden würde, zog Warburg
ihn dann zurück.
c)
Die Resolution Laskers
Der
Antrag des nationalliberalen jüdischen Juristen Lasker
hingegen verzichtete auf eine Veränderung des KiAustrG
und forderte stattdessen die Regierung auf, eine Vorlage zu
erarbeiten, „durch welche auch den Juden in allen Teilen der
Monarchie der Austritt aus einer Religions-Gemeinschaft aus
konfessionellen Bedenken ohne gleichzeitigen Austritt aus dem
Judentum ermöglicht“ werde und „die in einzelnen
Landesteilen etwa entgegenstehenden gesetzlichen Bestimmungen
aufgehoben“ würden.
Der Antrag wurde mit „sehr erheblicher
Majorität“ angenommen.
In
der Begründung griff er die Kritik der XIV. Kommission an der
Gleichsetzung von „Judentum“ und jüdischer
Religionsgemeinschaft auf.
Lasker differenzierte dabei nicht
zwischen der Synagogengemeinde und der Religionsgemeinschaft.
Soweit er Entsprechungen zwischen christlichen und jüdischen
Einrichtungen beschrieb, verglich er die jüdische
Religionsgemeinschaft mit der Kirche und das „Judentum“
mit dem keine rechtliche Institution darstellenden „Christentum“.
Die in den Motiven ausgedrückte Auffassung der Regierung, der
Austritt aus der Religionsgemeinschaft sei ein Austritt aus dem
Judentum (s.o. Rn. 10), stelle eine Verletzung der
Gewissensfreiheit dar. Weil es unterschiedliche Haltungen zu
Reformbestrebungen und neuen Kultussitten gebe, müsse die
Möglichkeit bestehen, neue Gemeinden zu gründen.
Dem Vorwurf, bei einer Verwirklichung seines
Vorschlags seien Liquidität und Infrastruktur (z.B. der
unterhaltenen Schulen) gefährdet, hielt er den Vorrang der
Gewissensfreiheit entgegen. Zudem liege die Stärke einer
Religion in der freiwilligen Unterwerfung ihrer Anhänger. Die
befürchteten Gefahren unterschieden sich nicht von jenen, mit
denen auch die christlichen Kirchen bei einem Austritt von
Mitgliedern konfrontiert seien.
Lasker
interpretierte die Rechtslage in der Provinz Hannover so, dass
dort ein Austritt aus der jüdischen Religionsgemeinschaft im
Gegensatz zu Altpreußen nicht möglich sei.
Weiteres Ziel seines Antrags war deshalb auch
eine Vereinheitlichung des Rechts.
2.
Regierungsentwurf
Erst
drei Jahre später und in einer neuen Legislaturperiode, am 4.
April 1876 legte die Staatsregierung dem Landtag den Entwurf eines
SynAustrG vor.
Er enthielt noch nicht § 6 II Sätze
2 ff. und § 8 des späteren Gesetzes. In § 3 S. 2
des Entwurfs fehlten noch die Worte „ohne Verzug“; im
übrigen unterschied er sich in der Zählung. Er
beinhaltete eine Legaldefinition des Judentums als jüdische
Religionsgemeinschaft und stand damit, was die Diktion betraf,
ebenso im Gegensatz zum Text der Resolution, aufgrund der er
erarbeitet worden war wie zu Laskers Begründung.
a)
Allgemeine Begründung
Als
Ziel des Entwurfs wurde die „Beseitigung eines durch die
Gesetzgebung herbeigeführten Zustands, welcher vielfach als
Gewissenszwang angesehen wird“ angeführt. Das
gesetzlich vorgesehene Prinzip der Zwangsmitgliedschaft in der
örtlichen Synagogengemeinde wurde wegen der unter den Juden
bestehenden Glaubensstreitigkeiten als problematisch angesehen.
Bereits im Ges1847
sei diese Schwierigkeit erkannt worden. Ihr
sei mit den Mechanismen der Konfliktregelung durch eine staatliche
Kommission gemäß §§ 53–57 Ges1847
Rechnung getragen worden.
Diese hätten sich aber nicht bewährt,
da sie zum einen niemals zur Anwendung gekommen seien und zum
anderen eine Einmischung des Staates in die inneren
Angelegenheiten der Religionsgesellschaft darstellten.36
Es
sei unangemessen, dass die Minderheit, die ihre Kultus-Bedürfnisse
auf eigene Kosten befriedige, zugleich auch für die
Mehrheits-Gemeinde zahlen müsse.36
Aus Sicht des Staatsinteresses sei die
vorgeschlagene Regelung nicht bedenklich.
Aufgrund
Mitgliederverlust zu klein gewordene Synagogengemeinden könnten
im Verwaltungsweg mit benachbarten fusioniert werden.
Der Vertrauensschutz Dritter sei aufgrund der
in § 6 II des Entwurfs
enthaltenen Übergangsregelung bei einem
Austritt gewährleistet.
Alternativen Vorschlägen, das Problem durch Finanzregelungen
zu lösen, wurde entgegengehalten, dass diese nicht den
Gewissenszwang des einzelnen Gläubigen beseitigten.
b)
Die Bestimmungen im einzelnen
Die
in § 1 I des Entwurfs enthaltene Voraussetzung „religiöser
Bedenken“, die nach § 2 der Vorlage auch erklärt
werden mussten, solle eine Schwächung des jüdischen
Korporationswesens vermeiden, da andernfalls aus anderen Gründen
ausgetreten würde. Zwar wurde zugestanden, dass dem Staat
eine Nachprüfung dieser Versicherung nicht zukomme.
Allerdings erhoffte man sich, dass die Zahl derer, die die
Möglichkeit zum Austritt aus Gründen des Eigennutzes
oder wegen persönlichen Streits nutzten, gering bleiben
werde.
Die
Formvorschriften der §§ 2-5 entsprächen denen beim
Kirchenaustritt.
Das nach § 6 I Nr. 1 des Entwurfs
vorgesehene sofortige Erlöschen der Mitgliedsrechte folge aus
dem Umstand, dass die meisten dieser Rechte mit den den Grund des
Austritts bildenden Kultuseinrichtungen zusammenhingen.41
Die
Übergangsregelung für die Leistungen gegenüber der
Gemeinde entspreche den Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts
über das Ausscheiden aus Korporationen. Leistungen i. S. d. §
6 I Nr. 2 seien auch solche gegenüber den hannoverschen und
kurhessischen Kultus-Aufsichtsbeamten.
Das
Erlöschen der Beitragspflicht bei Wohnsitzwechsel und
Eintritt in die Gemeinde des neuen Wohnorts gemäß §
6 III der Vorlage entspreche der bisherigen Rechtslage.
Das Verhältnis des Austretenden zu den öffentlichen
jüdischen Schulen sei durch das Gesetz nicht berührt, da
diese – anders als die Religionsschulen – nicht durch
die Synagogengemeinde getragen würden.
3.
Diskussionen innerhalb des Judentums
In
den Jahren vor 1876 hatten sich die Richtungskämpfe im
deutschen Judentum verschärft. Wurden bis dahin die deutschen
Rabbiner zentral im Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau
ausgebildet, so wurde 1870 und 1873 von der liberalen und der
orthodoxen „Fraktion“ jeweils ein eigenes Seminar in
Berlin gegründet.
Im
Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens gab es zahlreiche Petitio-nen
von jüdischer Seite zu dem Entwurf. Anlässlich der
zweiten Beratung im Abgeordnetenhaus berichtete der Abgeordnete
Lehfeldt als Referent der Petitionskommission von 66
Petitionen, die das Offenstehen des Austritts i.S.d. Entwurfs
begrüßten gegenüber 14, die ihn ablehnten. Acht
Eingaben, die für „Toleranz innerhalb einer Gemeinde“
seien, ordnete er keinem der beiden Lager zu.
a)
Gegner
Zu
den Gegnern des Gesetzes gehörten dabei die Vorstände
der Mehrheit der Synagogengemeinden, darunter denen von Berlin,
Frankfurt am Main, Magdeburg, Trier, Emden und Königsberg,
der deutsch-israelitische Gemeindetag, der nassauische
Bezirksrabbiner Hochstetter, der ehemalige Bezirksrabbiner
Philippson sowie der Rechtsanwalt Meyer.
Die Rabbiner
erklärten ihre Stellungnahme zunächst theologisch. In
der jüdischen Religionsgemeinschaft gebe es keine
Sektenbildung. Das einzige Dogma der Religion bestehe darin, dass
der, welcher „an einen einigen Gott und an die
Unsterblichkeit der Seele“ glaube, Jude sei und auch, wenn
er gesündigt habe, Jude bleibe. Durch die Möglichkeit
des Austritts werde der religiöse Indifferentismus gefördert
und somit der Bestand der jüdischen Gemeinden gefährdet,
insbesondere deren Religionsschulen, Wohltätigkeitsanstalten
und Friedhöfe. Dieser Argumentation schlossen sich andere
Petitionen an. Die Synagogengemeinde Emden sah im Entwurf
zusätzlich eine Verletzung der Gleichberechtigung der
Religionsgemeinschaften. Die Austrittsregelung des KiAustrG reiche
völlig aus. Der Jurist Meyer forderte als Alternative
zum vorgelegten Gesetz ein neues Organisationsgesetz, das die
Bedingungen der Bildung neuer Synagogengemeinden regele.
Im
einzelnen wurde eine Verlängerung der Übergangsfristen
des § 6 der Vorlage verlangt, insbesondere eine Erhöhung
des Fünf-Jahres-Zeitraums gemäß § 6 II
Buchst. b auf zehn Jahre. Auch die Ersetzung
der kontinuierlichen Leistungsverpflichtung nach dem Austritt
durch einen einmaligen Liquidationsbeitrag wurde vorgeschlagen.
Die Synagogengemeinde Königsberg
schlug zudem vor, den Wiedereintretenden zur doppelten
Nachzahlung der zwischenzeitigen Beiträge zu verpflich-ten.
Rechtsanwalt Meyer beklagte weiterhin, es fehle eine
Regelung über die rechtliche Situation der unter väterlicher
Gewalt stehenden Mitglieder der Familie eines Austretenden. Ein
anderer Änderungsvorschlag ging dahin, in § 2 eine
eidesstattliche Erklärung, „nur“ aus religiösen
Bedenken auszutreten, vorzuschreiben. Hochstetter schlug
als Alternative zum Entwurf außerdem vor, die Teilnahme an
der Trägerschaft der sozialen Einrichtungen von der
Gemeindemitgliedschaft unabhängig zu machen.
b)
Befürworter
Für
die Annahme des Gesetzes sprachen sich vor allem Angehörige
der orthodoxen Glaubensrichtung aus. Darunter waren der bei der
jüdischen Presse in Berlin arbeitende Prediger Seligmann
Meyer, die Religionsgesellschaft in Frankfurt am Main,
und die Berliner Religionsgesellschaft Adaß Jisroël.
Viele Petitionen stammten aus dem ehemaligen Herzogtum Nassau, wo
die Bittsteller sich durch den dortigen Bezirksrabbiner
Hochstetter unterdrückt fühlten, und aus
Kurhessen.
Die
Frankfurter Religionsgesellschaft verwies auf die ihre
Kosten für die höhere Töchterschule und die
Wohltätigkeits- und Krankenanstalten, die sie betreibe.
Dennoch müssten ihre Mitglieder zusätzlich Beiträge
für die offizielle Gemeinde zahlen. Den Vorwurf des
Indifferentismus wies sie zurück. Gerade die
Austrittswilligen wollten den Glauben der Väter bewahren.
Nach Adaß Jisroël war die damalige Situation von
einem Gewissensdruck geprägt.
Trotz
der grundsätzlichen Zustimmung gab es aber auch eine Kritik
im Detail, die darauf zielte, dass der Entwurf nicht weit genug
gehe. Es müsse auch einer ganzen Gemeinde gestattet werden,
aus einem übergeordneten Verband auszuscheiden. Außerdem
müsse den Ausgetretenen ein Recht zum Besuch des Grabes
Verwandter eingeräumt werden.
Was die letztere Befürchtung betraf, gab
es aber eine Erklärung Philippsons von der liberalen
Mehrheit, dass nicht daran gedacht sei, den Austretenden die
Benutzung des Friedhofs zu verweigern.
4.
Beratungen des SynAustrG im Landtag 1876
Im
Jahr 1876 beriet über das Gesetzesvorhaben erst das
Abgeordnetenhaus am 22. Mai,
am 24. Mai
und am 26.
Mai
und danach das
Herrenhaus – nach einer Vertagung am 19. Juni
– am 20. Juni
und am 23. Juni.
Über die vom Herrenhaus vorgenommenen Änderungen beriet
dann abschließend das Abgeordnetenhaus am 28.
Juni
und stimmte ihnen zu.
a)
Ablehnende Reden
Der
einzige Gegner des Gesetzes, der in den Debatten des
Abgeordnetenhauses das Wort ergriff, war der wie Lasker der
nationalliberalen Frak-tion abgehörende Historiker von
Sybel.
Er
begründete seine Position wesentlich mit der Parallele
zwischen der Synagogengemeinde und der kirchlichen Parochie
einerseits und der jüdischen Religionsgemeinschaft und der
Kirche andererseits. Wie bei den Christen dürfe der
Parochialzwang nicht ohne Änderung des Bekenntnisses
aufgehoben werden.
Die Gleichsetzung von Judentum und jüdischer
Religionsgemeinschaft sei ein sprachlicher Fehler; dennoch bleibe
es möglich, zugleich aus der jüdischen
Religionsgemeinschaft aus-zutreten und sich als Jude zu fühlen.
Die Einwände gegen den von ihm vorgenommenen Vergleich
könnten nicht überzeugen. Der angebliche „Mangel
an Dogmatik“ sei ebenso wenig entscheidend wie das Fehlen
zentraler kirchlicher Organisationen. Außerdem gebe es auf
jüdischer Seite freie Verbandstage und Synoden.
Sybels
Argumentation war aber in weiten Teilen auch von der
Diskreditierung der potentiell Austrittswilligen geprägt, die
er „fanatische Zeloten“ nannte.
So sprach er von der „Schlechtigkeit der
von den Dis-sidenten vertretenen Sache“.
Es liege kein Gewissenszwang, sondern ein
Finanzzwang vor.
Wer einen Gewissenszwang behaupte, müsse
diesen gegenüber dem Gesetzgeber „anschaulich machen“
und „Beweise liefern“. Es handele sich „nur“
um Differenzen des Kultus.
Deswegen habe der Austrittswunsch nichts mit
Religionsfreiheit, sondern mit „fanatischer Rechthaberei“
und „Mangel an Gemeinsinn“ zu tun. Darüber hinaus
würden die ultraorthodoxen gegenüber den Reformen
anstrebenden Juden gestärkt.
Dabei brachte er, der selbst kein Jude war,
seine Sympathien und Antipathien deutlich zum Ausdruck und
bezeichnete diejenigen, die überwiegend deutsch beteten, das
Orgelspiel ausführten und auf Gebete um die Herstellung der
Schlachtopfer und um persönliche Rückkehr nach Jerusalem
verzichteten, als den „gebildeteren Teil unserer jüdischen
Landesgenossen“.
Da der Kultus-Etat nur ein Viertel bis ein
Drittel des Gesamt-Etats einer Synagogengemeinde ausmache und der
übrige Etat u.a. sozialen Zwecken diene, sei es unredlich,
bloß wegen „äußerlicher“
Kultus-Differenzen auszutreten.
Das
Gesetz könne „nachteilige und schwere Folgen für
das Gemeinwesen“ haben, da ein Austritt leichter sei als
nach dem KiAustrG, ein Massenaustritt wahrscheinlicher sei und so
die Liquidität der Gemeinden gefährdet sei.
In
diesem Sinne beantragte von Sybel dann anstelle des
vorliegenden Entwurfs ein Gesetz, betreffend die Einrichtung
verschiedener Gottesdienste in den jüdischen
Synagogengemeinden zu verabschieden. Nach diesem konnten
Gemeindemitglieder, die mit der bestehenden Form des
Gottesdienstes nicht einverstanden waren und einen eigenen
Gottesdienst auf ihre Kosten errichteten, einen entsprechenden
Teil ihrer Gemeindesteuern zurückfordern. Außerdem
sollten §§ 53-57 Ges1847,
die die Streitschlichtung durch eine staatliche Kommission
vorsahen, aufgehoben werden.
Der Antrag wurde abgelehnt.
Im Herrenhaus folgte das Mitglied Baron Senfft von Pilsach der
Argumentation von Sybels.
b)
Zustimmende Reden
Die
trotz der Vielfalt der Argumentation vorhandene Gemeinsamkeit
derjenigen Redner, die sich im Grundsatz für den
Gesetzentwurf aussprachen, war die Berufung auf die
Gewissensfreiheit.
Darunter waren mit den Abgeordneten Warburg,
Lasker und Hirsch und dem die Universität
Königsberg im Herrenhaus vertretenden Ordinarius Friedländer
vier der fünf jüdischen Mitglieder des Landtags,
aber auch der katholische Zentrums-Abgeordnete
Roeckerath, der konservative Abgeordnete von Bismarck
(Flatow) und der wegen altem und befestigtem Grundbesitz dem
Herrenhaus angehörende von Winterfeld.
Von
Sybels Parallele zwischen kirchlichen und jüdischen
Institutionen berücksichtige nicht, dass die evangelische
Landeskirche eine rechtliche Organisation sei, während im
Gegensatz dazu die Gesamtheit der Synagogengemeinden nur durch ein
inneres Band zusammengehalten werde.
Eine
Bewertung religiöser Streitigkeiten als konfessionell oder
rituell oder als untergeordnet stehe dem Gesetzgeber nicht zu.
Nach Ansicht Roeckeraths waren zudem
die konfessionellen Unterschiede im Judentum größer als
bei den christlichen Konfessionen.
Zwischen
dem Gewissenszwang und der Verpflichtung zum finan-ziellen Beitrag
bestehe sehr wohl ein Zusammenhang.
Wenn die Gemeinschaft nicht mehr gewollt sei,
sei das geistige Band zerschnitten, so dass kein Platz mehr für
den Beitrag sei.
Es sei unwürdig, zu einem fremden Kult
beitragen zu müssen. Ein Gewissenszwang liege vor, wenn die
betreffenden eine entsprechende Erklärung abgäben.
Gegen die Behauptung, mit dem Gesetzentwurf
würden ausschließlich pekuniär Interessierte
begünstigt, spreche schon die gegenwärtige Praxis, dass
viele Menschen bereit seien, die Doppelbelastung der
Gemeindebeiträge und der Finanzierung eigener Einrichtungen
zu tragen.
Auf
die strömungstaktischen Überlegungen Sybels erwiderte
Lasker, Orthodoxe und Reformer hätten den gleichen
Anspruch auf die Freiheit des religiösen Gewissens. Zudem
seien die Mehrheitskonstellationen nicht in allen Gemeinden
gleich.
Außerdem sei die Existenz der jüdischen
Gemeinden nicht gefährdet.
Der Bestand des Judentums beruhe auf der Kraft
seiner inneren Idee bzw. der Kraft des Glaubens.
Im Gegenteil leide nach den Berichten
begeisterter Anhänger des Judentums die Ausstrahlung der
Religion unter der bisherigen Zwangsregelung.
Andere
Beispiele zeigten, dass auf der Basis der Freiwilligkeit starke
Gemeinden entstehen könnten. Dabei wurden die jüdischen
Gemeinden in Danzig,
wo auf die Umsetzung des Ges1847
verzichtet worden war und in Amerika
genannt und auf die Religionsgemeinschaft der
Mennoniten
sowie auf die Situation der Juden in Preußen
vor Inkrafttreten des Ges1847
verwiesen.
Zu
der Befürchtung, dass die Tätigkeit der
Synagogengemeinden auf dem Gebiet der Wohltätigkeit infolge
des Gesetzes eingeschränkt werden müsse, wurde
verschieden Stellung genommen. Während Hirsch diese
Gefahr einräumte, aber bereit war, sie hinzunehmen,92
waren nach Lasker die
Wohltätigkeitsanstalten durch bestehendes Vermögen
geschützt.
Warburg argumentierte, jeder, der ein
„Herz im Busen“ habe, werde diese immer finanzieren;
dies dürfe aber kein Zwang sein.
Was die gemeindeeigenen Schulen anbetreffe, so
sei deren Existenz nicht wünschenswert, da sie eine
„konfessionelle Scheidewand“ bildeten, die die
heranwachsenden Generationen voneinander entfernten.
Weiterhin
wurde die Chance gesehen, dass der Druck möglicher Austritte
als Korrektiv gegen eine in der menschlichen Natur angelegte
autokratische Machtausübung des Vorstands wirken könne.
Im Ergebnis werde man größere
Vorsicht gegenüber den Bedürfnissen der Mitglieder
beweisen müssen.
Der Sybel-Antrag sei keine Alternative,
da er einen viel tieferen Einschnitt in die Selbständigkeit
der Gemeinden bedeuten würde.
c)
„wegen religiöser Bedenken‘‘
Der
Abgeordnete Warburg brachte im Abgeordnetenhaus einen
Antrag zur Streichung der Worte „wegen religiöser
Bedenken“ in den §§ 1 I, 2 des Gesetzes ein.
Er kritisierte, dass durch diese Formulierung
der Austritt erschwert werden solle. Wenn man sich zu dem Prinzip
bekenne, dass dieser zulässig sei, so müsse man es ganz
verwirklichen. Es habe niemand zu untersuchen, ob der Austritt
religiös motiviert sei.
Für
diesen Vorschlag fand Warburg bei keinem der anderen Redner
Unterstützung. Lasker und Hirsch verteidigten
die strengeren Austrittsbedingungen des Regierungsentwurfs. Es
müsse verhindert werden, dass jemand aus anderen Gründen
wie z. B. Streitigkeiten oder der Beitragspflicht
austrete.
Lasker betonte, dass die Erschwernis
auch effektiv sei, da sie zwar nicht auf alle, aber auf die
„anständigen“ Menschen wirke.
Zu
dieser Diskussion gehört auch die erst nach Abstimmung des
Antrags vorgetragene Überlegung Bismarcks (Flatow),
der in der Erfordernis religiöser Bedenken zwar eine
Privilegierung jüdischer Gemeinden gegenüber anderen
Religionsgemeinschaften sah, bei denen sich der Austritt nur nach
dem KiAustrG gestalte. Diese Privilegierung sei aber aufgrund
mehrerer Gründe gerechtfertigt. Dazu gehörten das Fehlen
einer zentralen Organisation und der Umstand, dass nur ein kleiner
Teil der Einnahmen für Kultuszwecke bestimmt sei.
Aufgrund
dieser Stimmungslage fand der Änderungsantrag denn auch keine
Mehrheit.
d)
Benutzung des Begräbnisplatzes
Die
Vorlage wurde bezüglich der Rechte an Begräbnisstellen
insgesamt dreimal geändert. Auf den Antrag der Abgeordneten
Hirsch, Lasker, Klotz, Lehfeldt,
Petri, und Warburg wurde die besondere Erwähnung
des Verlusts des Rechts am Begräbnisplatz in § 6 I
gestrichen und hinter § 6 I Nr. 2 eine Bestimmung angefügt,
die das Recht der Mitbenutzung der Begräbnisplätze für
die Dauer der Übergangszeit nach § 6 I Nr. 2 (ein
Kalenderjahr) gewährleistete und erworbene Privatrechte an
Begräbnisstellen für unberührt erklärte.
Das Herrenhaus beseitigte in seiner ersten
Beratung wiederum die zeitliche Begrenzung und glich dies durch
die Bestimmung aus, dass das ausscheidende Mitglied zu Leistungen
für den Begräbnisplatz solange verpflichtet bleibe, bis
sein Bedürfnis nach diesem anderweitig befriedigt sei.
Nach dem Änderungsantrag Friedländers
in der zweiten Beratung, der dem Gesetz seine endgültige
Fassung gab, wurde diese Bedingung konkretisiert: Für das
Recht am Begräbnisplatz und die entsprechende
Leistungspflicht kam es darauf an, ob der Ausgetretene die
Berechtigung besaß, einen anderen Begräbnisplatz zu
benutzen.
Die
in den Debatten über diese Fragen vorgetragenen Ansichten
lassen sich einordnen in solche, die mit dem Austritt einen
Verlust, eine übergangsweise Beibehaltung i. S. d. Antrags
Hirsch u. a. oder eine Erhaltung des Rechts am
Begräbnisplatz darüber hinaus verknüpfen wollten.
Für
einen Verlust dieses Rechts wurde angeführt, dies sei eine
zwingende Konsequenz aus der Austrittserklärung. Andernfalls
würden die Rechte der in der Gemeinde verbleibenden
Mitglieder verletzt.
Durch eine Beibehaltung würde in den
Gemeinden Unfrieden geschaffen.
Dieser
Meinung entgegnete Petri, die Übergangsregelung sei
gerecht, wenn sie demjenigen, der während der Dauer seiner
noch bestehenden Leistungsverpflichtungen versterbe, auch das
Recht am Begräbnisplatz einräume und zweckmäßig,
weil sie dem Austretenden Zeit biete, sich eine neue
Begräbnisstelle zu besorgen.
Der genau entgegengesetzten Position hielt man
entgegen, dass einerseits die Ernsthaftigkeit der Gewissensgründe
auf die Probe gestellt werde und andererseits für ein
dauerndes Nutzungsrecht kein Rechtsgrund existiere. Außerdem
berief man sich auf die oben (Rn. 20) bereits erwähnte
Erklärung Philippsons, wonach aus religiösen
Gründen an eine Verweigerung des Begräbnisses gegenüber
den ehemaligen Mitgliedern nicht gedacht sei.
Für
ein länger geltendes Nutzungsrecht sprachen sich sowohl
Roeckerath als auch der als Repräsentant seines
Familienverbands im Herrenhaus sitzende von Kleist-Netzow und
der diesem als Stadtdirektor von Hannover angehörende Rasch
aus. Roeckerath berief sich auf die Mitteilungen
orthodoxer Juden, nach denen das gemeinsame Begräbnis ein
verbindendes Band der verschiedenen Richtungen im Judentum sei.
Der von Lasker bezweifelte Rechtsgrund sei der Ausgleich
für den Verlust des auf den Beiträgen der Vergangenheit
basierenden Anteils am Vermögen der Gemeinde. Des weiteren
verwies er auf das praktische Problem einer anderweitigen
Begräbnis an Orten ohne kommunalen Kirchhof.
Auch von Kleist-Netzow verwies auf die
vergangenen Beitragsleistungen.
Er befürchtete aber vor allem die
Beerdigung von Juden auf „christlichen“ Totenhöfen,
worunter er nicht nur kirchliche, sondern auch kommunale
verstand.
Nach Ansicht Raschs würde eine
Beerdigung von Juden auf einem christlichen Friedhof von der
betreffenden Kirchengemeinde als „sehr unangenehm“
empfunden werden.
e)
Weitere Veränderungen
Aufgrund
des Antrags Hirsch u. a. wurden auch in § 3 S. 2
(gerichtliche Bekanntmachung des Austritts) die Worte „ohne
Verzug“ hinzugesetzt und der spätere § 8
eingefügt, der die Gründung neuer Synagogengemeinden
durch Verordnung ermöglichte.
5.
Den Beratungen zugrundeliegende Einstellungen
Der
Debatte über das SynAustrG lassen sich aber auch einige
Indizien entnehmen, wie die im Landtag vertretenen Schichten der
damaligen Gesellschaft zum Judentum und zur Religion standen. Eine
Analyse dieses Standpunkts ist zum einen wichtig, da die
rechtliche Stellung der Juden nicht isoliert von der Haltung der
Gesellschaft zu ihnen betrachtet werden kann. Zum anderen ist
gerade die Beratung des bedeutendsten „Judengesetzes“
des Kaiserreichs in einem Landtag, in dem zwar nicht das Volk,
wohl aber die Männer der herrschenden Schichten im ungefähren
Maßstab ihres Einflusses repräsentiert waren, hierfür
besonders aufschlussreich.
a)
Antisemitismus
Hier
interessiert vor allem, in welchem Maß und in welcher Form
sich Antisemitismus zeigte. Einen Hinweis auf die Intensität
des Antisemitismus in den siebziger Jahren des Jahrhunderts gab
auch Lasker, als er von den ungereimtesten Angriffen von
vielen Seiten gegen die Juden sprach.
Rassisch
begründeter Antisemitismus, der schon lange zuvor in
Schriften vertreten worden war, kam in den Beratungen des Landtags
aber nicht zum Vorschein.
Am
deutlichsten im Sinne eines religiös motivierten
Antisemitismus äußerte sich von Kleist-Netzow.
Er erklärte, geneigt zu sein, den Anmaßungen des
jüdischen Volkes, das meine, zur Herrschaft der Welt und auch
zur Herrschaft über die Christen berufen zu sein,
entgegentreten zu müssen. Dabei ging er davon aus, im Namen
des Publikums zu sprechen. In Wirklichkeit sei den Christen die
Herrschaft der Welt verheißen worden. Den Juden warf er vor,
mit einem angeblichen Gewissensdruck die Christen
zu belästigen und damit bei diesen einen wirklichen
Gewissensdruck zu erzeugen. Zugleich sprach er sich gegen
Simultanschulen von Juden und Christen aus. Jüdische Kinder
dürften in christlichen Schulen nur Gäste sein, die –
dem christlichen Prinzip unterworfen – bekehrt werden
könnten.
Eher
in die Strömung des Antisemitismus, die Juden zur eigenen
Nation zu erklären, passte Senffts Vorschlag, das Wort
„Religionsgemeinschaft“ in § 1 I SynAustrG durch
„Nationalgemeinschaft“ zu ersetzen.
In Sybels Assoziation orthodoxer
Kulthandlungen mit mangelnder Bildung (s. o. Rn. 22) kam eine
Projektion der ursprünglich allen Juden geltenden Vorurteile
auf die Orthodoxen zum Vorschein. Dies verdeutlicht seine
Befürchtung, das SynAustrG werde der Todesstoß für
die „begünstigte fortschreitende Kulturentwicklung der
Juden und des Judentums während der letzten Dezennien“
sein,
d. h., er akzeptierte nicht die jüdische
Identität als solche, sondern die Anpassung der als
minderwertig angesehenen Kultur.
Gleichzeitig
wurde jedoch die Benennung von judenfeindlichen Haltungen
tabuisiert. So verwahrte sich Senfft gegen die „schlechten
und erbärmlichen Zeitungen“, die das Herrenhaus als
Feind und Gegner des Judentums angegriffen hätten.
b)
Gemeinsamkeiten der Redner
Darüber
hinaus fallen vor allem beim Vergleich mit den späteren
Jahrzehnten, in denen die Sozialdemokraten in stärkerem Maße
die gesellschaftlichen Debatten beeinflussten, zwei trotz der
unterschiedlichen Standpunkte vorhandene Gemeinsamkeiten der
Redner auf.
Zum
einen wurde trotz der gegenüber verschiedenen Religionen
geäußerten Toleranz der „religiöse
Indifferentismus“ als zu bekämpfendes Übel
gesehen.
Den Grund hierfür deutete Lasker an: von
den Religionen erwartete er, „gute Staatsbürger“
heranzubilden.
Zum
anderen wurde die Unmündigkeit der verheiraten Frau auch in
religiösen Fragen von keiner Seite in Frage gestellt.
III.
Auswirkungen
1.
Glaubensrichtungen
Während
vor der Verabschiedung von den Gegnern des Austrittsgesetzes eine
Stärkung des minoritären orthodoxen Flügels
vorausgesagt worden war, zeigte sich in der Folgezeit eher das
Gegenteil: die Anhänger dieser Glaubensrichtung waren sich
nicht einig, ob sie in den Hauptgemeinden verbleiben oder aus
ihnen austreten sollten. Dadurch spalteten sie sich in eine
„austrittsorthodoxe“ Strömung außerhalb der
Hauptgemeinden und eine „gemeindeorthodoxe“ Strömung,
die die Zugehörigkeit zur Hauptgemeinde dann für
vertretbar hielt, wenn diese auch orthodoxen religiösen
Bedürfnissen gerecht werde.
Ein Grund für die zögerliche Haltung
vieler Orthodoxer war dabei auch die historische und familiäre
Verbundenheit zur Mehrheit. Zum anderen konnten sie – wie z.
B. in Frankfurt am Main – in Verhandlungen mit der
Hauptgemeinde wesentliche Zugeständnisse erreichen.
Auf
der Seite der liberalen Mehrheit erreichte das Gesetz vor dem
Hintergrund drohender Austritte eine stärkere
Kompromissbereitschaft gegenüber der traditionalistischen
Minderheit und verhinderte eine Radikalisierung.
Hier bestätigte sich die von Warburg
und Lasker vorausge-sagte korrektive Wirkung des
Gesetzes (s. o. Rn. 26).
Auch
die sich gegen Ende des Jahrhunderts bildende zionistische
Minderheit wurde in den Gemeinden integriert.
2.
§ 8 SynAustrG
Recht
selten nutzten übrigens die Ausgetretenen die Möglichkeit,
i. S. d. § 8 SynAustrG förmlich eine Personalgemeinde
aufgrund königlicher Verordnung zu bilden. Während des
gesamten Zeitraums von 1876-1918 wurden solche nur dreimal
gegründet: 1879 die Altisraelitische Kultusgemeinde in
Wiesbaden, 1885 Adaß Jisroël in Berlin und 1908
Adaß Jeschurun in Köln.
Adaß Jisroël als größte
dieser Gemeinden zählte dabei weniger als 400 Mitglieder.
D.
Beendigung des Rechtszustands
Die
meisten Bestimmungen des KiAustrG und des SynAustrG wurden
aufgrund des Gesetzes, betreffend die Erleichterung des Austritts
aus der Kirche und aus den jüdischen Synagogengemeinden vom
13. Dezember 1918 geändert oder gegenstandslos.
Endgültig aufgehoben wurden beide Gesetze
durch § 5 II des Gesetzes, betreffend den Austritt aus den
Religionsgesellschaften öffentlichen Rechts vom 30. November
1920.
Inwieweit
das Ges1847 und
die anderen Organisationsgesetze der einzelnen Rechtsgebiete
aufgrund der Selbstverwaltungsgarantie des Art. 137 III 1 WRV
unwirksam wurden, blieb juristisch umstritten.
E.
Bewertung
Schon
kurz nach dem Inkrafttreten des Ges1847
hatten sich infolge der Ereignisse die
Kräfteverhältnisse zwischen dem Monarchen und seiner
Regierung samt Verwaltungs- und Militärapparat einerseits und
dem Bürgertum verschoben. Das Bürgertum vertrat
selbstbewusster eigene, sich immer stärker differenzierende
Haltungen in allen gesellschaftliche Bereichen und somit auch der
Religion. Diese Entwicklung gab es im jüdischen Teil des
Bürgertums ganz genau wie bei der christlichen Mehrheit. Dies
drückte sich in den zunehmenden Strömungskämpfen
innerhalb des Judentums und der wachsenden Bedeutung des liberalen
Flügels aus. Die Gemeindestruktur nach dem Ges1847,
das die Religionsgemeinschaft bis zur Abgrenzung der
Synagogenbezirke dem Eingriff des Staates aussetzte (s. o. Rn. 6),
war nicht länger zeitgemäß. Das SynAustrG, das den
einzelnen Juden mehr Flexibilität gewährte, war eine
Anpassung, die der neuen Entwicklung eher gerecht wurde. Erst mit
dem Verzicht auf eine Bewertung religiöser Motive fand diese
Entwicklung ihren Abschluss in der Weimarer Republik.
Literaturverzeichnis
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