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Michael Plöse
Der Gegensatz von "Gemeinschaft und Gesellschaft" nach F. Tönnies

im besonderen Blickwinkel des Verhältnisses
von Individuum, Gesellschaft und Staat

 

Beschreibung: Thesenblatt und grobes Vortragsskript eines im SoSe 2001 gehaltenen Referats im Rahmen des rechtsphilosophischen Seminars "Individuum - Gesellschaft - Staat" bei Prof. Hasso Hofmann an der Humboldt-Universität

Thesenblatt:

I. Biographische Daten

Ferdinand Tönnies, Dr. phil.; Dr. jur. h. c. (Hamburg 1921); Dr. rer. pol. h. c. (Bonn 1927); Geheimer Regierungsrat; ord. Prof. an der Universität Kiel; Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie; seit 1894 Membre, seit 1899 Vizepräsident des Institut international de sociologie; Korrespondierendes Mitglied der englischen, ebenso japanischen Gesellschaft für Soziologie; Ehrenmitglied der Wiener soziologischen Gesellschaft und des Rumänischen Sozialinstituts, der Genfer Société de sociologie und der American Sociological Society; Mitglied des Ausschusses des Vereins für Sozialpolitik und des Ausschusses der Gesellschaft für soziale Reform; Sodalis extraordinarius der Societas Spinozana 1927; Präsident der Societas Hobbesiana 1929.

    • Am 26.7.1855 als Sohn eines reichen Landwirtes im Kirchspiel Oldenswort, Landschaft (jetzt Kreis) Eiderstedt, Herzogtum (jetzt Regierungsbezirk) Schleswig nahe Husum geboren.
    • 1872 - 1877 Studium u.a. in Jena, Bonn, Berlin und Tübingen.
    • 1877 mit der Dissertation ,De Jove Ammone quaestionum specimen‘ zum Dr. phil. promoviert und ging dann zum meist privatem Studium der Philosophie und der Staatwissenschaften über. Das Studium des Philosophen Thomas Hobbes führte ihn zuerst im Spätsommer 1878 nach England, wo er in London, Oxford und im Schlosse Hardwick des Herzogs von Devonshire wertvolle Entdeckungen über Leben und Werke Hobbes‘ machte.
    • 1881 Habilitation in Kiel; Privatdozent an der Christian-Albrechts-Universität. Seine kritischen Bemerkungen über den Kaiser führten dann dazu, dass er erst 1911 Professor wurde und den ersten Lehrstuhl für ,,Gesellschafts- lehre" erhielt. Ferdinand Tönnies wurde damit zum Gründer der deutschen Soziologie.
    • 1887 Veröffentlichung ,,Gemeinschaft und Gesellschaft"
    • 1909 Gründung der ,,deutschen Gesellschaft für Soziologie" und Wahl Tönnies' zum Präsidenten. Vorher Veröffentlichung ,,Wesen der Soziologie"
    • 1916 emeritierte Tönnies.
    • 1921 Verleihung der Ehrendoktorwürde der neugegründeten Universität Hamburg. Öffentlich Kritik am aufkommen- den Nationalsozialismus
    • 1930 Beitritt zur SPD 1933 Lehr- und Schreibverbot durch die Nazis. ,,Rücktritt" vom Vorsitz der ,,Deutschen Gesellschaft für Soziologie" wird erzwungen. Tönnies' langjähriger Assistent und Schwiegersohn emigriert
    • 1936 Tod; hinterließ ein Lebenswerk in 24 Bänden, daß zur Zeit wieder aufgelegt wird

II.Grundbegriffe der „reinen Soziologie“

1. Gemeinschaft:
Geprägt durch den sozialen Willen als Eintracht, Sitte, Religion, geht die Theorie der Gemeinschaft „von der vollkommenen Einheit menschlicher Willen als einem ursprüng-lichen oder natürlichen Zustande aus, welcher trotz der empirischen Trennung und durch dieselbe hindurch, sich erhalte, je nach der notwendigen und gegebenen Beschaffenheit der Verhältnisse zwischen verschieden bedingten Individuen mannigfach gefaltet.“
-> natürliches, organisches Zusammenleben (Volkstum, Kultur)

a) Arten und Zusammenhänge der Gemeinschaft:

(1) Gemeinschaft des Blutes: Familie, Erbe (als Zusammenhang vegetativen Lebens)
-> Verwandtschaft

(2) Gemeinschaft des Ortes: die im Zusammenleben bzw. -wohnen ihren unmittelbaren Ausdruck findende Form dauerhaften und abgeschlossenen häuslichen Zusammenlebens (als Zusammenhang des animalischen Lebens)
-> Nachbarschaft

(3) Gemeinschaft des Geistes: das bloße Miteinanderwirken und Walten in der gleichen Richtung, im gleichen Sinne (als Zusammenhang des mentalen Lebens)
-> Freundschaft

 

b) Lebenswirklichkeit:

(1) Familienleben = Eintracht. Hierin ist der Mensch mit seiner ganzen Gesinnung. Ihr eigentliches Subjekt ist das Volk.

(2) Dorfleben = Sitte. Hierin ist der Mensch mit seinem ganzen Gemüte. Ihr eigentliches Subjekt ist das Gemeinwesen.

(3) Städtisches Leben = Religion. Hierin ist der Mensch mit seinem ganzen Gewissen. Ihr eigentliches Subjekt ist die Kirche.

 

c) Erscheinungsformen:

(1) Hauswirtschaft: beruht auf Gefallen - nämlich auf Lust und Liebe des Erzeugers, Schaffens, Erhaltens. In Verständnis sind die Normen dafür gegeben.

(2) Ackerbau: beruht auf Gewohnheiten - nämlich regelmäßig wiederholter Arbeiten. In Bräuchen wird dem Zusammenarbeiten Maß und Richtung gewiesen.

(3) Kunst: beruht auf Gedächtnissen - nämlich empfangener Lehre, eingeprägter Regel, eigener Ideen. Im Glauben an Aufgabe und Werk verbinden sich die künstlerischen Willen.

 

d) Menschliche Motivation zur Gemeinschaft: Wesenswille

    • umfaßt alle realen Willensgestalten, bei denen das Denken (als bewußtseinsmäßiges Äquivalent des Geistes) noch vollumfänglich in der Ganzheit des Willens aufgehoben ist
    • bezogen auf den Zusammenhang der Willenskräfte befindet sich das Denken dabei in der Phase des Herauswachsens, d.h. der zunehmenden Besonderung und Verselbständigung
    • die dabei hervortretenden eigenen Willenskräfte bleiben jedoch in der Ganzheit des (gemeinschaftlichen) Willens erhalten
    • als natürlich gegebene Einheit des Willens

     

2. Gesellschaft:
Bezeichnet den gesetzmäßig normalen Prozeß des Verfalles aller „Gemeinschaft“ als Konstruktion eines Kreises von Menschen, „welche wie in Gemeinschaft, auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind[...].“ Das Individuum steht für sich allein, „die Substanz des gemeinen Geistes ist so schwach, oder das Band, welches ihn mit den anderen verbindet, so dünn geworden,“ daß es im Zustand der Spannung gegen alle anderen Individuen steht. „Wir verstehen ein Zusammenleben und einen sozialen Zustand, worin die Individuen wider einander in derselben Isolation und verhüllte Feindseligkeit verharren, so daß sie nur aus Furcht oder aus Klugheit sich der Angriffe gegeneinander enthalten.“ Dies ist der Zustand der gesellschaftlichen Zivilisation, „in welchem Friede und Verkehr durch Konvention und in ihr sich ausdrückende gegenseitige Furcht erhalten wird, welchen der Staat beschützt, durch Gesetzgebung und Politik ausbildet.“
-> rationales, kalkuliertes Zusammenleben (Zivilisation)

 

a) Lebenswirklichkeit:

(1) Großstädtisches Leben = Konvention. Diese setzt der Mensch mit seiner gesamten Bestrebung. Ihr eigentliches Subjekt ist die Gesellschaft schlechthin.

(2) Nationales Leben = Politik. Diese setzt der Mensch mit seiner gesamten Berechnung. Ihr eigentliches Subjekt ist der Staat.

(3) Kosmopolitisches Leben = Öffentliche Meinung. Diese setzt der Mensch mit seiner gesamten Bewußtheit. Ihr eigentliches Subjekt ist die Gelehrten-Republik.

 

b) Erscheinungsformen:

(1) Handel: beruht auf Bedachten - nämlich Aufmerksamkeit, Vergleichung, Rechnung ist die Grundbedingung alles Geschäftes; Handel ist die reine willkürliche Handlung, und Kontrakt ist Brauch und Glaube des Handels
-> vegetative Willensform

(2) Industrie: beruht auf Beschlüssen - nämlich vernünftiger produktiver Anwendung von Kapital und des Verkaufes von Arbeitskraft. Satzungen beherrschen die Fabrik
-> animalische Willensform

(3) Wissenschaft: beruht auf Begriffen - wie von selbst evident. In Lehrmeinungen gibt sie sich ihre eigenen Gesetze, und stellt ihre Wahrheiten und Ansichten dar, die in die Literatur, die Presse, und somit in die öffentliche Meinung übergehen
-> mentale Willensform

Menschliche Motivation zur Gesellschaft: Kürwille

    • umfaßt alle realen Willensgestalten, bei denen das Denken sich aus der ursprünglichen Willensganzheit herausgelöst hat und nunmehr gleichsam von außerhalb über die übrigen Willenskräfte gebietet
    • was dem Wirken des Willens Gestalt und Richtung verleiht, kommt aus dem Denken, und in diesem Sinne ist das Denken nicht mehr im Wille, sondern der Wille im Denken enthalten
    • die Vereinzelung des Denkens macht die Entwurzelung, die Abtrennung vom Kontext des eigenen Werdens erforderlich
    • als ideell konstruierte Einheit des Willens (wie sie durch das Denken im Umgang mit den übrigen Willenskräften richtiggehend hergestellt wird)

III. Das Individuum in „Gemeinschaft und Gesellschaft“

  • In der Gemeinschaft versteht sich das Individuum als ihr untrennbarer Teil und ist dieser im Denken und Handeln verpflichtet.
  • Als Ganzes im Teil steht es zunächst gleichberechtigt den anderen Individuen gegenüber.
  • Durch Sozialisation, Sitte, Religion und notwendige Unterstellung unter die, die jeweilige Gemeinschaft repräsentierenden Persönlichkeiten (Vater, Herzog, König oder Versammlungen) bleibt er jedoch in festgelegter sozialer Ungleichheit gefangen, auch wenn er sich mit ihr zu identifizieren vermag; dies ist Ausdruck der patriarchalischen Gemeinschaftsstruktur.
  • Andererseits sind die Repräsentanten der Gemeinschaft verpflichtet, definieren sich aus ihrem Wohlwollen und sind nur Repräsentanten kraft ihres Willens, zu ihrem Schutz (Güterverteilung, Rechtsprechung und Feindabwehr).
  • Das Individuum befindet sich also in einem festgelegten System des Zusammenlebens, an dessen Definition er nicht mitgewirkt hat, aus dem sich zu lösen die Überwindung des Wesenswillen durch Ausbildung eines egoistischen Kürwillens und damit die Überwindung der Gemeinschaft bedingt, um als selbständige, aber von der Gemeinschaft ausgeschlossene und ihr damit als eine ihr feindlich gesinnte Persönlichkeit gegenüberzustehen (bzw. umgekehrt).
  • In dem Maße, wie Religion und gewohnheitsrechtliches Zusammenleben überwunden wird (Aufklärung, Industrialisierung) und sich mit der Individualität der Kürwille in der Gemeinschaft durchsetzt, ist diese zu Sterben verurteilt, wo nicht natürliche Bindungen bestehen bleiben (Familie, Freundschaft)
  • Um der im Zustand der Freiheit drohenden feindlichen Auseinandersetzung zwischen den Persönlichkeiten zu entgehen, dort wo sich Interessensphären überschneiden, finden sich die Individuen aus rationalen Gründen zum Übereinkommen (Kontrakt, Vertrag) bereit, beschränken sich selbst aber nur um der Optimierung ihrer Freiheit willen.
  • Diese Freiheit, wie sie durch den Kontrakt der Gesellschaft garantiert werden soll, ist ihrer Natur nach eine auf die Optimierung der Lebenslust gerichtete.
  • In der industrialisierten, kapitalistischen Gesellschaft erscheint Lebenslust in der Gestalt von Eigentum, welches nur um den Preis des Profites erhältlich ist; folglich ist die Freiheit der Individuen, die sie schützenden Rechtsnormen und der diese erlassende Staat (als „allgemeine gesellschaftliche Verbindung, bestehend und gleichsam errichtet zu dem Zwecke, Freiheit und Eigentum seiner Subjekte zu beschützen“) auf die Maximierung des Profits gerichtet.
  • Dieser wird zur Lebensgrundlage, wo gemeinschaftliche Versorgungsmechanismen versagen.
  • Die Freiheit, an der Gewinnoptimierung teilzunehmen, mag jedem Individuum in theoretisch gleicher Weise offen stehen, die Verteilung des Profits jedoch ist nicht gleich, denn wo sich auf der einen Seite Gewinn häuft, muß er auf der anderen Seite entweder vermindert oder aber produziert werden.
  • Da aber die Produktionsmöglichkeiten sich in der Hand einer Minderheit befindet, ist die Mehrheit durch Verkauf ihrer Arbeitskraft auf eine Beteiligung am Gewinn angewiesen, wie der kapitalistische Unternehmer als Herr des Produktions- und Verwertungsverfahrens auf die Arbeitskraft des Individuums angewiesen ist.
  • Wie aber der habgierige Herrscher in der Gemeinschaft die Verteilung der aus Arbeitskraft entstandenen Werte auf die Individuen zum Eigenen Vorteil beschränken kann, so kann der Kapitalist sein Profit durch Reduzierung der Beteiligung für die in seinem Betrieb arbeitenden Individuen maximieren.
  • Diese Ungleichheit der Gesellschaft wird durch die Gesetze des Staates um des Profites willen geschützt bzw. notdürftig ausgeglichen, weil diese von der öffentlichen Meinung entwickelt werden, diese wiederum Ausdruck der im Kapitalismus herrschenden Minderheit ist.
  • Das Individuum hat folglich in der Gesellschaft zwar theoretisch größere Chancen auf freie Entwicklung und Entsprechung seines Kürwillens, aber praktisch keine Möglichkeiten, weswegen in dem Maße wie die gesellschaftlichen Mechanismen sich als feindlich erweisen, sich Individuen auch wieder in Gemeinschaften zusammenfinden werden, in denen sie zwar nicht frei, aber durch freien Willen formiert erscheinen.

IV. Literatur

Bickel, Cornelius
Ferdinand Tönnies, Soziologie als skeptische Aufklärung zwischen Historismus und Rationalismus, Opladen 1991.

Clausen, Lars / Schlüter, Carsten
Hundert Jahre „Gemeinschaft und Gesellschaft“, Ferdinand Tönnies in der internationalen Diskussion, Opladen 1991.

Riedel, Manfred
Gemeinschaft und Gesellschaft, in Geschichtliche Grundbegriffe (hrsg. v. O. Brunner u.a.)

Rudolph, Günther
Die philosophisch-soziologischen Grundpositionen von Ferdinand Tönnies, Ein Beitrag zur Geschichte und Kritik der bürgerlichen Soziologie, Hamburg 1995

Tönnies, Ferdinand
Gemeinschaft und Gesellschaft, Grundbegriffe der reinen Sozialogie, 6. Auflage, Berlin 1926.

Soziologische Studien und Kritik, Band 1, 3. Auflage, Jena 1925.


grobe Vortragsnotizen

I.Entstehungsgeschichtlicher und biographischer Hintergrund des Werkes
II.Architektur der Grundbegriffe der „reinen Soziologie“
III.Gemeinschaft und Gesellschaft
IV.Bedeutung und Kritik

I. Entstehungsgeschichtlicher und biographischer Hintergrund des Werkes

  • Biographische Erwägungen
  • Das Jahrzehnt, das der Vollendung von „Gemeinschaft und Gesellschaft“ voranging, war eine Zeit der Krise für die bürgerliche Politik. Die liberale Bewegung, die Deutschland seit der Achtundvierziger Revolution beherrscht hatte, war in einem Zerfall begriffen, von dem sie sich nie wieder erholen sollte.
  • Der Berliner Börsenkrach von 1873 leitete eine Zeit der raschen Enttäuschung über die Marktwirtschaft ein, in der besonders Handwerker und kleine Geschäftsleute sich von ihren ehemaligen Verbündeten aus dem gehobenen Bürgertum trennten.
  • Politische Kritik innerhalb der nichtsozialistischen gebildeten Schicht bezog sich auch auf eine ziemlich genau festgelegte Reihe von Fragen, die den Staat betrafen.
    • Zu den wichtigsten gehörten das Koalitionsrecht für Arbeiterparteien und Gewerkschaften sowie die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts (in Preußen und anderswo), also Maßnahmen die, nach Auffassung gewisser Angehöriger der gebildeten Klassen, zu einer vergrößerten Teilhabe an der politischen Macht führen und die tiefen Klüfte der deutschen politischen Landschaft überwinden würden.
  • Am Ende des Jahrzehnts verließen sie die liberalen Parteien, um sich rechten Bewegungen und Parteien anzuschließen, die ihre wirtschaftlichen und politischen Klagen vorbrachten. In den Augen idealistischer junger Leute war auch die Unterstützung der Nationalliberalen für die Sozialistengesetze, die der Reichstag am 19. Oktober 1878 verabschiedete, schädlich.
  • Diese Maßnahme verbannte die Sozialisten in den Untergrund, indem sie das liberale Prinzip der Gleichheit aller vor dem Gesetz preisgab. Der Zerfall der liberalen Bewegung und die drastische Verringerung liberaler Stimmen ab 1877 war das Schicksal einer Bewegung ohne innere Zielsicherheit, die die Verbindung mit den Wählern verloren hatte.
  • Tönnies wird zum Kritiker des Liberalismus hauptsächlich in der Zeit von 1878 bis 1881:
    • Er vergleicht die Fabrikbesitzer, die ihre Arbeiter entlassen, mit Kannibalen, und sieht in der Arbeiterschaft die große Hoffnung auf Aufklärung und Fortschritt für Deutschland. Treitschke, von vielen Studenten ehrfürchtig als zeitgenössischer Prophet verehrt, hält er für einen Narren. Die in der Entstehung begriffene Konzeption des Gegensatzpaares von Gemeinschaft und Gesellschaft ist, so schreibt er 1881, eine polemische Antwort auf die liberale Antinomie Gesellschaft und Staat.
  • Zu diesem frühen Zeitpunkt verstand Tönnies also bereits, wie der Liberalismus die Diskussion der modernen Gesellschaft anging und vorbereitete, indem sie vor allem auf die „freie“ und „natürliche“ Bewegung der Gesellschaft konzentriert wurde und die Gesellschaft nunmehr als Ort des Austausches und der freiwilligen Interaktion sah: Sie hatte sich demgemäß primär von staatlicher Kontrolle zu befreien.
  • Von dieser skizzenhaften Bemerkung aus dem Jahre 1881 ausgehend bis zur reifen Kritik am Staat, wie sie in „Gemeinschaft und Gesellschaft“ sechs Jahre später erhalten ist, kann man eine Kontinuität in Tönnies' Denken erkennen, die den „Staat“ hiergegen drastisch auf ein Nebenphänomen der Gesellschaft reduziert, welches mit ihr dem authentisch im Volk verwurzelten demokratischen Willen der Gemeinschaft gegenübergestellt wird.

II. Architektur der Grundbegriffe der „reinen Soziologie“

  • Dem Begriffsgebäude der reinen Soziologie, wie es Ferdinand Tönnies in seinem Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ ausgearbeitet hat, liegt die Absicht zugrunde, die gesamte „historische und actuelle Cultur“, also die Wirklichkeit menschlichen Zusammenlebens in ihrer (damals) gegenwärtigen Verfassung ebenso wie in ihrem geschichtlichen Gewordensein, denkbar und darstellbar zu machen als eine Einheit.
  • Einheit meint hierbei eine Form des Verbundenseins, wie sie, ungeachtet der Verschiedenheiten und Widersprüchlichkeiten im Gestaltetsein der konkreten interaktiven Zusammenhänge, einzig aufgehoben ist im modus existendi der sozialen Verhältnisse überhaupt.
  • Es ist dies der Versuch, die Wirklichkeitsansichten, wie sie in den im 19. Jahrhundert vorherrschenden Denkungsarten des Historismus als Ausfluß der historischen Rechtsschule und des Rationalismus eines rationalen Naturrechts durchaus entgegengesetzt betrachtet wurden, in einer einheitlichen Theorie zusammenzuführen.
  • Erklärtes Ziel ist die Begreifbarmachung der sozialen Wirklichkeit „aus einem Punkt“ heraus; einem Punkt jedoch, der das für die Konstitution der einzelnen Sozialformen verantwortliche Prinzip in seiner reinsten Form repräsentiert
  • Auf diesem Wege soll die gesamte soziale Wirklichkeit in ihrem Bestehen zurückgeführt werden können auf die Beziehungen von Ganzem und vom Teil, aber nicht als ein Teil des Ganzen, sondern im Sinne des Ganzen als Teil; also dergestalt, daß jedes konkrete Sozialverhältnis als eine Besonderung gerade des Grundzuges erscheint, durch den die soziale Wirklichkeit auch in ihrer Allgemeinheit, also in ihrer noch unspezifischen Ganzheit, gekennzeichnet wird.
  • Aus der Verschiedenheit der Betrachtungsweisen droht die Ganzheit zu zerfallen, nämlich in eine „historische“ Ansicht, die stets auf das Verwurzeltsein der Formen des menschlichen Zusammenlebens in Tradition und Überlieferung, in den stets fortwirkenden ursprünglichen Lebensbindungen gerichtet ist, und eine „rationalistische“ Ansicht, welche diejenigen Sozialverhältnisse beleuchtet, die unabhängig von einem solchen Fundament vermittels kontraktueller, allein unter Vernunftsgesichtspunkten getroffener Übereinkünfte hergestellt werden.
  • Die in Aussicht genommene Gesamtsicht soll nach Tönnies hergestellt werden durch das Theorem von „Gemeinschaft und Gesellschaft“.
  • Die Sozialform der Gemeinschaft soll repräsentativ sein für die historische, diejenige der Gesellschaft dagegen für die rationalistische Ansicht.
  • Zur Veranschaulichung dessen, wie diese beiden Begriffe, die anschaulich darzustellen ich mich nachfolgend bemühen will, zueinander stehen, bedient sich Tönnies einer zwischen dem Begreifen der sozialen Wirklichkeit und dem Begreifen des Wassers bestehenden Analogie:
    • „Wie wir das Wasser kennen als zusammengesetzt aus Wasserstoff und Sauerstoff, so soll die soziale Wirklichkeit dargestellt werden als bestehend aus gemeinschaft-lichen und gesellschaftlichen Elementen.
    • Daß Wasserstoff und Sauerstoff nur zusammen die Substanz des Wassers ausmachen, soll dabei seine Entsprechung finden im Konstituiertsein der sozialen Wirklichkeit aus gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Elementen.
    • Damit hat sich die Analogie aber schon erschöpft. Denn“ - so baut Tönnies seine beispielhafte Beschreibung weiter aus - „während wir beim Wasser das Mischverhältnis der Elemente stets als in einem stabilen Zustand befindlich begreifen müssen, ansonsten die betrachtete Substanz für uns nicht mehr Wasser wäre, haben wir bei unserer Gesamtsicht der sozialen Wirklichkeit durchaus einen Wechsel der Mischungsverhältnisse vorzusehen - einen Wechsel, der von beinahe ausschließlich gemeinschaftlich bestimmten bis hin zu vorrangig gesellschaftlich bestimmten Verhältnissen reichen kann.“
    • Bei der „Gemeinschaft“ wird dieses Verhältnis begriffen als fortschreitende Herauslösung der Mitglieder aus der Ganzheit der Verbindung - als ein Herauswachsen aus den ursprünglichen Sozialformen, in die jeder von vornherein eingebunden ist, zumal als eine Entwicklung von der Allgemeinheit zur Individualität;
    • Bei der „Gesellschaft“ erscheint dieses Verhältnis dagegen als erneute Zusammenfügung des durch diesen Herauslösungsprozeß entstanden Vereinzelten - als Produkt der Überwindung der Individualität durch eine künstliche, gleich einem Kontrakt überhaupt erst zu schaffende Ganzheit bzw. Allgemeinheit.

III. Gemeinschaft und Gesellschaft

  • Um das Theoriegebäude hinter den Begriffen „Gemeinschaft und Gesellschaft“ zu begreifen, muß zunächst klargestellt werden, daß ihre Gegensätzlichkeit und Trennung keinesfalls eine selbstverständliche ist.
  • Vielmehr waren sie als Grundtermini der Soziologie, Sozial- und Geschichtswissenschaft stets als Synonym für einander begriffen worden.
  • Mit der nahezu gegensätzlichen Begriffstrennung vollzieht Tönnies eine Verlagerung des theoretischen Interesses von der Gesamtgesellschaft und ihrer politischen Organisation, dem Staat, auf die sozialen Kleinverbände und Gruppen.
  • So stellen sich die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft zunächst als verschiedene Ausprägungen des menschlichen Zusammenlebens dar
  • Zur Veranschaulichung der Begriffspaare will ich versuchen, die Argumentationslinie Tönnies' nachzuzeichnen, ohne mich dabei zu sehr zu verlieren.

1. Grundannahme

  • Grundlage seiner Überlegung ist die Betrachtung der vielfachen Beziehungen menschlicher Willen zueinander, wie sie sich als Verhältnis der menschliche Wesen zu einander bezeichnen lassen.
  • Dieses Verhältnis nun kann positiv, nämlich „zur Erhaltung“, oder negativ, also zur „Zerstörung des anderen Willens oder Leibes“ bezweckt sein, da aber nur das positive, bejahende Verhältnis auch ein produktives ist, ist auch dies allein Gegenstand von Tönnies' Betrachtungen.
  • Diese Verbindung von Personen kann zwei Ausprägungen annehmen: Das Verhältnis kann entweder ein reales und organisches sein und wird dann als „Gemeinschaft“ bezeichnet, die sich durch das intime Zusammenleben einer eng miteinander verbundenen, kleinen Gruppe definiert; oder es kann eine ideelle und mechanische Verbindung sein und wird als Gesellschaft bezeichnet, die eine größere Gruppen von Menschen umfaßt, die nicht notwendigerweise in enger Verbindung, sondern eher nebeneinander stehen. Gesellschaft wird tritt hier auch als Öffentlichkeit in Erscheinung.
  • Tönnies sieht Gemeinschaft als etwas althergebrachtes und ursprüngliches an, während Gesellschaft etwas neues, sich entwickelndes ist, das in erster Linie mit der Entwicklung der Großstadt einhergeht.
  • Es verwundert daher nicht, wenn er sich bei der Beschreibung der Gemeinschaft auf bereits überwundene gentilgesellschaftliche und feudale Strukturen menschlichen Zusammenlebens beschränkt, während er mit der Gesellschaft die industriell entwickelte und kapitalistisch nach größt möglichem Profit strebende Moderne verbindet.

2. Gemeinschaft

  • „Die Theorie dem Gemeinschaft geht [...] von der vollkommenen Einheit menschlicher Willen als einem ursprünglichen oder natürlichen Zustande aus, welcher trotz der empirischen Trennung und durch dieselbe hindurch, sich erhalte, je nach der notwendigen und gegebenen Beschaffenheit der Verhältnisse zwischen verschieden bedingten Individuen mannigfach gestaltet.“
  • Tönnies beschreibt drei Arten von Zusammenleben in der Gemeinschaft: Familie, Dorf und Kleinstadt.
  • Die Gemeinschaft hat ihre Wurzeln in der Familie, als die vollkommenste und engste Form der Gemeinschaft,
    • Geburt, Einheit durch Abstammungsprinzip
    • intensivste Beziehung - Familie:
      • Verhältnis Mutter-Kind
      • Verhältnis Mann-Frau als Gatten
      • Verhältnis zwischen den Geschwistern

usw.

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