akj



Home

Aktuell

Erklärungen

das freischüßler

Vorträge

Projekte

Seminare

Links

Impressum



Offener Brief
an das Amtsgericht Tübingen, die Staatsanwaltschaften Tübingen
und Stuttgart sowie das Polizeipräsidium Potsdam

akj-berlin kritisiert fehlerhaftes Urteil,
das Antifaschisten zum Förderer faschistischer Organisationen macht

Berlin, den 12. Dezember 2005

Staatsanwaltschaft Stuttgart
Postfach 106048, 70049
Stuttgart

Amtsgericht Tübingen
Postfach 1840, 72008 Tübingen

Staatsanwaltschaft Tübingen
Postfach 2526, 72015 Tübingen

Polizeipräsidium Potsdam
Henning-von-Tresckow-Straße 9 - 13, 14467 Potsdam

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

der arbeitskreis kritischer juristinnen und juristen an der Humboldt-Universität zu Berlin (akj-berlin) beobachtet in letzter Zeit die bedenkliche Tendenz in Justiz und Polizei, AntifaschistInnen wegen angeblichen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a StGB) zu verfolgen. Dazu tragen leider auch eine Richterin Ihres Gerichts und MitarbeiterInnen Ihrer Behörden bei.

In verschiedenen Medienberichten wurde unter anderem die Verurteilung eines 21-jährigen Studierenden in Tübingen bekannt sowie ein Ermittlungsverfahren in Potsdam gegen die für ihr Engagement gegen rechtsradikale Schmierereien bekannt gewordene und dafür mit dem „Erich-Kästner-Preis“ ausgezeichnete Irmela Mensah-Schramm. Darüber hinaus berichtete das WDR-Politikmagazin Monitor in seiner Sendung vom 24.11.2005 über Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmen beim Nix-Gut-Versand, die von der Staatsanwaltschaft Stuttgart veranlasst worden sind.

Alle drei Fälle sind dadurch gekennzeichnet, dass den Betroffenen vorgeworfen wird, sie verstießen durch das öffentliche Zeigen oder den Vertrieb von Darstellungen, auf denen NS-Hakenkreuze durchgestrichen, zertreten oder angeprangert werde, gegen § 86a StGB. Das bedeutet, dass die Betroffenen dadurch die Wiederbelebung nationalsozialistischer und damit verfassungswidriger Organisationen und der von diesen verfolgten verfassungsfeindlichen Bestrebungen, auf die das Kennzeichen symbolhaft hinweist, unterstützt hätten. Nach dem Zweck der Strafvorschrift hätten die Betroffenen dadurch auch den Anschein erweckt, in Deutschland gebe es eine rechtsstaatswidrige politische Entwicklung, dass verfassungsfeindliche Bestrebungen in der durch das Kennzeichen symbolisierten Richtung geduldet würden.

Nach dieser Logik stellt jede Kritik an neonazistischen Umtrieben, sobald sie sich dabei zur Darstellung dessen, was es zu bekämpfen gilt, der Symbole von NS-Organisationen bedient, zugleich eine Unterstützung nationalsozialistischer Bestrebungen dar. Mit der gleichen Logik kann sich demnächst ein Verkehrssünder damit herausreden, das Wendeverbotszeichen (Zeichen 272 gem. § 41 StVO) sei in Wirklichkeit eine Aufforderung zum Wenden. Ist also ein durchgestrichenes Hakenkreuz tatsächlich als eine Bejahung des Nationalsozialismus deutbar?

Der akj-berlin versteht diese Strafverfahren und das Urteil um so weniger, als derartige Fälle bereits höchstrichterlich geklärt sind. So nehmen der Bundesgerichtshof (BGH) und die Oberlandesgerichte in gefestigter Rechtsprechung an, dass in solchen Fällen eine Verwendung von Symbolen verfassungswidriger Organisationen gar nicht vorliegt, wenn der Schutzzweck der Norm ersichtlich nicht verletzt wird. Davon ist auzugehen, wenn das Kennzeichen in einer Weise gebraucht wird, die seinem ursprünglichen Symbolgehalt augenfällig entgegensteht. Genau dies trifft auf ein durchgestrichenes Hakenkreuz zu. Die in der mündlichen Urteilsbegründung geäußerte Auffassung der Tübinger Richterin Christiane Barth: „Auch zum Widerstand gegen Rechtsradikalismus sollen keine NS-Zeichen verwendet werden“ (Schwäbisches Tageblatt vom 08.11.2005), ist damit schlichtweg falsch.

Jede Juristin oder jeder Jurist kann dies unschwer den Erläuterungen zu § 86a in diversen Strafgesetzbuch-Kommentaren entnehmen. Der akj-berlin ist davon überzeugt, dass sich einschlägige Standardkommentare, wie etwa der von Tröndle/Fischer (53. Auflage, Randnummer 18) oder Lackner/Kühl (25. Auflage, Randnummer 4), auch beim Amtsgericht Tübingen oder Staatsanwaltschaften finden.

Dass die Staatsanwaltschaft Tübingen im Hinblick auf die Beurteilung des Aussagegehalts des Symbols anführt: „Es geht nicht um Otto Normalverbraucher, sondern um den japanischen Touristen, der nach Tübingen kommt“, zeugt nicht nur von einer eigenartigen Sichtweise auf ausländische BesucherInnen. Denn das durchgestrichene Hakenkreuz lehnt sich ja gerade bewusst an international verständliche und gebräuchliche Verkehrs- und Verbotszeichen an (z.B. „Rauchen verboten!“). Diese Ansicht beruht offen­sichtlich auf einer unreflektierten, schematischen Übertragung neuerer BGH-Rechtsprechung, die sich mit der Frage auseinandersetzt, ob ein bestimmtes Symbol dem Kennzeichen einer NS-Organisation „zum Verwechseln ähnelt“.

Der akj-berlin fordert Sie angesichts der begrenzten Ressourcen bei Justiz und Polizei auf, Ihre Arbeit auf die reale Bedrohung durch rechtsradikale Gewalt- und Propagandadelikte zu konzentrieren und nicht diejenigen zu verfolgen, die sich gerade gegen das Wiederaufleben des Nationalsozialismus engagieren.

Mit freundlichen Grüßen

akj-berlin

 

Kontakt: akj@akj-berlin.de


Antwortschreiben der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 26.1.2006 (pdf) >>

zurück