Am 3.5.2024 beobachtete ein Team des arbeitskreis kritischer jurist*innen HU und der Kritischen Jurist*innen FU Berlin kurzfristig eine spontane Versammlung vor dem Hauptgebäude der Humboldt-Universität Berlin (Unter den Linden 6).
Die Student Coalition Berlin hatte zuvor zusammen mit mehreren anderen Organisationen auf sozialen Medien zu einem Sit In aufgerufen und den konkreten Ort der Versammlung ca. 40 Minuten vor Versammlungsbeginn verkündet. Im Folgenden berichten wir von Auftreten und Maßnahmen der Berliner Polizei; insbesondere den erfolgten gravierenden Verstößen gegen die Versammlungsfreiheit.
Aufgrund der Unübersichtlichkeit der Versammlung und der enormen Polizeipräsenz kann der Bericht keine Vollständigkeit beanspruchen. Es ist anzunehmen, dass weitere Eingriffe in die Versammlungsfreiheit durch die Polizei stattgefunden haben, die in diesem Bericht nicht vorkommen.
Im Einsatz waren Abschnittspolizei, die 25. Einsatzhundertschaft und Zivilpolizist*innen der Spezialeinheit Politisch motivierte Kriminalität (PMK).
Die Versammlung fand auf dem Vorplatz des Hauptgebäudes der HU statt, dem sog. „Ehrenhof“. Nach einiger Zeit bildete sich eine weitere Versammlung auf dem Gehsteig Unter den Linden 6 unmittelbar vor dem Tor zum Hof. Laut Polizei zählten die beiden Versammlungen zusammen ungefähr 300 Personen, darauf kamen knapp 90 eingesetzte Polizist*innen.
Das unabhängige Beobachtungsteam konnte bis zur vollständigen Auflösung der Versammlungen um 17:08 massive Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, rechtswidriges Verhalten seitens der Polizei sowie mehrfach Fälle von starker Polizeigewalt dokumentieren.
Zugang zu der Versammlung
Bereits vor Beginn der Versammlung war die 25. Einsatzhundertschaft mit fünf Einsatzfahrzeugen vor dem Hauptgebäude präsent. Wenige Minuten nach Beginn der Kundgebung wurde sowohl das Eingangstor zum Hof als auch die Tür vom Hof ins Hauptgebäude durch Polizeikräfte gesperrt. Die Kundgebung, die auf dem Hof stattfand, war damit vorübergehend nicht mehr zugänglich. Ein Zu- bzw. Durchgang wurde nur durch Vorzeigen eines Studierendenausweises der HU in Kombination mit einem Personalausweis von den Einsatzkräften erlaubt. Auch an den anderen, zahlreichen Eingängen des Hauptgebäudes, die teils weit ab der Versammlung liegen, wurden über den gesamten Zeitraum Einlasskontrollen von Einsatzkräften durchgeführt.
Die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG beeinhaltet auch den uneingeschränkten Zugang zu Versammlungen. Laut Bundersverfassungsgericht ist „die Anmeldepflicht zwar unverzichtbar – aber eben nur eine Formvorschrift. Ihre bloße Nichtbeachtung lässt den grundrechtlichen Schutz deshalb nicht entfallen“ (BVerfGE 69, 315, 350; Dietel/Gintzel/Kniesel, VersG, § 14 Rn. 5 m.w.N.). Obwohl die Versammlungen nicht angemeldet waren, sind sie also trotzdem versammlungsrechtlich geschützt.
Auch gem. § 3 Abs. 2 VersFG Bln ist es Aufgabe der zuständigen Behörde, den ungehinderten Zugang zur Versammlung zu ermöglichen. Gegen dieses Grundprinzip der Versammlungsfreiheit wurde über die gesamte Dauer des Versammlungsgeschehens eklatant verstoßen. Auf dementsprechende Nachfragen und Hinweise seitens der Beobachtung reagierten die Beamt*innen abwertend. Die Beamt*innen waren zu keinem Zeitpunkt imstande, eine Rechtsgrundlage für ihr Handeln zu nennen.
Darüber hinaus wurde mehreren Vertreter*innen der Presse für knapp die erste Stunde der Veranstaltung der Zugang zum Versammlungsort auch unter Vorzeigen eines Presseausweises gänzlich verwehrt. Dies stellt einen schweren Verstoß gegen die Pressefreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG dar.
Nicht nur der Zugang zur Versammlung wurde verhindert, auch konnten sich Demonstrierende Strecken nicht mehr wegbewegen, da die Polizist*innen sowohl den Eingang ins Hauptgebäude als auch den Ausgang zurück auf die Straße teils in mehrreihigen Ketten versperrt hatten. Dies stellt eine Gewahrsamnahme von Versammlungsteilnehmenden und Außenstehenden dar und ist ein intensiver Eingriff in die Bewegungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG. Eingriffsgrundlage ist hier das Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz ASOG. § 30 normiert die Gewahrsamnahme zur Gefahrenabwehr. Diese ist nur zulässig, wenn sie unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit oder einer Straftat zu verhindern. Dies war vorliegend nicht der Fall, insbesondere stellt das Kesseln mehrerer Personen (Versammlungsteilnehmende als auch Außenstehende) eine unzulässige Kollektivmaßnahme dar.
Der zweite Teil der Versammlung, der sich vor den Toren auf dem Gehweg bildete, wurde über 20 Minuten mit Verweis auf die Anmeldepflicht nicht anerkannt. Maßnahmen der Polizei wurden in diesem Zeitraum nicht auf das Versammlungsfreiheitsgesetz Berlin (VersFG Bln) gestützt. Die Versammlung wurde während dieser 20 Minuten durch konstantes Hineinlaufen von zwei Ketten von Polizeibeamt*innen eingeschüchtert.
Weiterhin wurden an den von dem Versammlungsort gänzlich unabhängigen Eingängen der Mensa und des Cafés „c.t.“ Taschenkontrollen durchgeführt und teilweise Studierenden aufgrund ihres Aussehens und der vermeintlichen Zugehörigkeit zur Gruppe der Protestierenden der Zugang zum Gebäude verweigert. Als Indiz für diese Zugehörigkeit wurde polizeiseitig klar das Beisichführen einer Kuffiyeh gewertet, was eine rassistische Kriminalisierung von Studierenden darstellte.
Durchsuchungen
Während der Versammlung fanden immer wieder Durchsuchungen bei Teilnehmenden statt. Um eine solche grundrechtseinschränkende Maßnahme zu rechtfertigen, müssen gem. § 17 Abs. 1 VersFG Bln tatsächliche Anhaltspunkte für eine Mitführung von Waffen oder Gefahren für die öffentliche Sicherheit vorliegen. Solidaritätsbekundungen, das Tragen einer Kuffiyeh, oder die alleinige Anwesenheit in der Nähe der Versammlung stellen keinesfalls entsprechende Eingriffsgrundlagen dar. Die durchgeführten Maßnahmen waren folglich rechtswidrig. Die Polizei behinderte und kriminalisierte die Versammlung aktiv durch ihre Maßnahmen. Auch hier wurden Nachfragen nach der Rechtsgrundlage meist vollkommen ignoriert und führten eher zu Aggressionen seitens der Polizei.
Gewaltvolle Festnahmen & Räumung
Von Beginn der Versammlung an wurden Menschen durch die Polizei festgenommen, insgesamt haben wir um die 30 Festnahmen beobachtet. Durch das gezielte Abschirmen von Festgenommenen, Aggressionen gegen Umstehende und Beobachtende und die damit verbundene erschwerte Beobachtung kann der Bericht an dieser Stelle unvollständig sein.
Die genannten Gründe für Festnahmen, die unverhältnismäßige Dauer der Festnahmen sowie die massive körperliche Gewaltanwendung durch die Polizei fiel besonders auf. Jegliche polizei- und ordnungsrechtliche sowie strafprozessuale Maßnahme muss immer im Sinne der Versammlungsfreiheit und der Verhältnismäßigkeit abgewogen werden. Die gewaltvollen Festnahmen waren in vierlerlei Hinsicht unverhältnismäßig und offensichtlich rechtswidrig.
Gründe für die Festnahmen müssen Personen nach § 17 Abs. 2 S. 2 VersFG Bln mitgeteilt werden. Mehrfach verweigerte die Polizei auf Nachfrage die Aussage komplett oder nannte nur „Straftaten“ als Grund.
Mehrere Festnahmen wurden zudem auf angebliche Verstöße gegen das vorher durchgesagte Verbot des Spruches „from the river to the sea“ gestützt. Der hessische Verwaltungsgerichtshof stellte kürzlich klar, dass die Verwendung der Parole lediglich im Zusammenhang mit verbotenen Vereinigungen eine Strafbarkeit begründet, ein vollständiges präventives Verbot allerdings unzulässig ist. Auch von Berliner Gerichten wurde nie eine Strafbarkeit festgestellt. Ein Verstoß gegen die genannten Auflagen kann während der Demonstration eine Eingriffsbefugnis für die Polizei bedeuten. Jegliche polizeilichen Maßnahmen müssen aber immer im Sinne der Versammlungsfreiheit und der Verhältnismäßigkeit abgewogen werden. Dies ist vorliegend nicht geschehen.
Im späteren Verlauf der Versammlung wurde unter anderem eine Person außerhalb der Versammlung festgenommen, die eine Festnahme beobachtet hatte und deswegen neben einem der Polizeiwägen stand. Die Festnahme erfolgt vollständig anlasslos und unerwartet.
Neben den fadenscheinigen Gründen stellte auch die Dauer der polizeilichen Maßnahmen einen unverhältnismäßigen Eingriff dar. Nach § 17 Abs. 3 VersFG Bln sind Identitätsfeststellungen und Durchsuchungen „[…] so durchzuführen, dass dadurch die Teilnahme an der Versammlung nicht unverhältnismäßig behindert oder wesentlich verzögert wird.“ Die Festgenommen wurde ohne ersichtlichen Grund bis zu 60 Minuten in der prallen Sonne festgehalten. Dies stellt einen klaren Rechtsverstoß dar.
Mehrere Personen wurden wegen angeblicher Verstöße gegen das Presserecht und damit verbundenen Ordnungswidrigkeiten über 30 Minuten festgehalten. Dies ist offensichtlich ebenfalls völlig unverhältnismäßig.
Im Verlauf der Räumung kam es vielfach zur Anwendung von Schmerzgriffen. Schmerzgriffe rufen durch körperliche Einwirkungen auf schmerzempfindliche Stellen des Körpers oder eine Hebelwirkung Schmerzen hervor und sind besonders grundrechtsinvasiv, da sie direkt in die körperliche Unversehrtheit der Betroffenen gem. Art. 2 Abs. 2 GG eingreifen. Die Anwendung von Schmerzgriffen durch die Polizei wurde vielfach kritisiert, sie ist während einer friedlichen Demonstration nicht nur hochgradig unverhältnismäßig, sondern kann zudem einen Verstoß gegen das Folterverbot aus Art. 3 EMRK darstellen.
Die Polizei wendete darüber hinaus völlig unabhängig von polizeilichen Maßnahmen körperliche Gewalt gegen Demonstrierende an. In mindestens einem Fall wurde eine festgenommene Person in den Bauch geschlagen. Mehrere Menschen wurden ins Gesicht geschlagen. Diese polizeiliche Gewalt traf dabei nicht nur die festgenommenen Personen, sondern auch mehrere der umstehenden Versammlungsteilnehmenden.
Im Verlauf der Festnahmen kam es zudem wiederholt zu rassistischen Zuschreibungen und Äußerungen durch Polizeibeamt*innen.
Filmaufnahmen
Die Einsatzkräfte filmten die Versammlung von Beginn an. Filmaufnahmen sind aufgrund ihrer großen „Einschüchterungswirkung“ ein Eingriff in die innere Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG (VG Gelsenkirchen, Urteil vom 19.02.2019) und in das informationelle Selbstbestimmungsrecht nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG. Sie dürfen daher nach dem Berliner Versammlungsfreiheitsgesetz nur dann angefertigt werden, wenn eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit besteht (§ 18 Abs. 1 VersFG Bln); das heißt eine Gefahr für ein bedeutsames Rechtsgut, wie Leben, Gesundheit, Freiheit, wesentliche Vermögenswerte oder den Bestand des Staates. Im Verlauf der Versammlung konnte keine*r der von uns angesprochenen filmenden Beamt*innen eine Rechtsgrundlage für diese Maßnahme nennen. Dabei konnte uns in der Regel noch nicht mal das Gesetz genannt werden, das die Eingriffsgrundlage darstellen sollte. Stattdessen wurden vage Aussagen über „Gemengelage“ und „Gefahrenabwehr“ getätigt. Für jeden Grundrechtseingriff ist jedoch eine gesetzliche Grundlage notwendig (Vorbehalt des Gesetzes).
Auftreten der Einsatzkräfte
Von Beginn der Versammlung traten die Beamt*innen konfrontativ und eskalativ auf und liefen damit dem Deeskalationsgebot aus § 3 Abs. 4 VersFG Bln zuwider. Schon früh standen Beamt*innen mit Helmen unter dem Arm bereit, obwohl von der Versammlung keinerlei Gefahr ausging. Später waren Beamt*innen auch behelmt im Einsatz. Einzelne Einsatzkräfte hatten ihre Dienstnummer entfernt. Dies stellt einen Verstoß gegen die in § 5a ASOG festgelegte Kennzeichnungspflicht dar und erschwert rechtswidrig die Aufarbeitung von rechtswidrigem Verhalten und Polizeigewalt.
Das aggressive Verhalten der Berliner Polizei zeigte sich zudem darin, dass die anwesenden Demobeobachter*innen in ihrer Arbeit stark behindert wurden. Es wurde unter anderem mit dem Verhängen von Ordnungswidrigkeiten (ohne jegliche Rechtsgrundlage) und dem Verbringen in die Gefangenensammelstelle gedroht. Anlass waren Kontaktaufnahmen von Beobachter*innen mit von polizeilichen Maßnahmen betroffenen Personen. Dieses Vorgehen widerspricht drastisch dem Recht auf einen Rechtsbeistand nach § 1 Abs. 1 VwVfG BE i.V.m. § 14 Abs. 4 VwVfG. Die Polizei verwehrte den Betroffenen effektiv diesen Beistand, obwohl auf die rechtliche Grundlage aufmerksam gemacht wurde.
Den Höhepunkt erreichte die Repression gegen die Demobeobachtung durch aktives Wegschubsen einzelner Beobachter*innen. Die Verhinderung von Rechtsbeistand und von kritischer Begleitung der Polizeiarbeit ist nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten höchstgradig problematisch.
Polizei an der Uni
Es ist nicht neu, dass Polizeibeamt*innen sich nicht nachvollziehbar auf rechtliche Grundlagen beziehen können. Im Kontext dieser Versammlung war zudem besonders auffällig, dass der „Ehrenhof“, in dem der Sit In stattfand, polizei- und universitätsseitig wahlweise als öffentlicher Raum oder als privates Unigelände definiert wurde. Verschiedene Einsatzkräfte argumentierten beliebig mit dem „Schutz des privaten Universitätsgeländes“ und stritten die Anwendbarkeit des Versammlungsrechtes ab. Der „Ehrenhof“ als „öffentliches Forum“ (vgl. BVerfGE 128, 226) unterliegt – wie auch die Universitätsleitung der Humboldt-Universität in ihrer Pressemitteilung später selber anerkannt hat (https://www.hu-berlin.de/de/pr/nachrichten/april-2024/nr-2453) – jedoch ganz offensichtlich dem Versammlungsrecht. Trotzdem argumentierte die Polizei uns gegenüber immer wieder, dass sie hier nur das Hausrecht ausübe und „privaten Raum“ schütze. Diese Vermengung polizeilicher und hausrechtlicher Befugnisse finden wir besonders im Kontext einer Universität gefährlich, die frei von willkürlichen Kontrollen und rassistischer Gewalt durch die Polizei einen offenen und sicheren Raum für alle Studierenden gewährleisten soll.
Dass die Universitätsleitung der HU so bereitwillig und eng mit der Polizei kooperiert und dieser das Feld überlässt, anstatt sich schützend vor die Demonstrierenden zu stellen, bestürzt uns zutiefst.
Fazit
Im Gesamtbild mussten wir eine hochgradig gewaltvolle und eskalative Polizeitaktik beobachten, die mit großer Willkür anlasslose oder unverhältnismäßige Maßnahmen ohne Rechtsgrundlage durchführte. Zu kritisieren ist an dieser Stelle auch die Kooperation der Universität mit den Einsatzkräften, die sich nicht schützend vor eine studentische Versammlung stellte, sondern stattdessen der Polizei Zugang zu dem Universitätsgelände gestattete und dadurch weitreichende Einschränkungen der Versammlungsfreiheit sowie die gewalttätigen Festnahmen von über 30 Personen ermöglichte. Das Vorgehen der Berliner Polizei am 3.5.2024 steht in Kontinuität mit der rassistischen Kriminalisierung friedlicher Protestformen.