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Aktuell
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Ist
Europa in schlechter Verfassung?
EU-Verfassung
– ein zukunftsoffener Entwurf oder Diktatur der
Gegenwart über die Zukunft?
Freitag,
den 29. April 2005, 18.00 - 21.00 Uhr im Kinosaal
der Humboldt-Universität zu Berlin (Unter den Linden 6,
Tram: M 1, 12; Bus: 100, 200, TXL)
Beitrag von
Andreas Fisahn (Der
Beitrag entstammt der Kritischen Justiz 4/2004, S. 381 –
393)
Die europäische Verfassung – ein zukunftsoffener Entwurf?
Am
19. 6. 2004 haben sich die Regierungschefs der europäischen Union auf
einen Verfassungstext geeinigt, dem nun die Parlamente oder die Bevölkerung
der Mitgliedsstaaten zustimmen müssen. Die Regierungschefs waren mit
der Aufgabe, die europäischen Institutionen für ein Europa mit
25 Mitgliedstaaten umzubauen, /997
in Amsterdam und ganz offen 2001 in Nizza gescheitert.
Einstimmigkeitserfordernisse oder – pejorativ formuliert – Veto-Positionen
in wichtigen Politikbereichen sowie intransparente Verfahren und Zuständigkeiten
drohen die erweiterte Union zu blockieren und konterkarieren alle Versuche,
eine europäische Zivilgesellschaft zu beschwören oder zu schaffen
oder – prosaischer formuliert — im Alltagsdiskurs der Mitgliedstaaten
Interesse für europäische Politik zu erzeugen. So wurde im Dezember
2001 im Belgischen Laeken beschlossen,
einen Konvent einzuberufen, der einen Verfassungsentwurf erarbeiten sollte,
mit dem die vorhandenen Probleme angegangen werden könnten. Leider
ist dies nicht überzeugend gelungen, vor allem weil im Teil III
der Verfassung der ganze Ballast der EU-Verträge
übernommen und z.T. verschlimmbessert wurde, sodass der Entwurf wegen
der mangelnden Offenheit in die Zukunft kaum die Bezeichnung Verfassung
verdienen kann. Das veranlasst zu fragen, welchen Kriterien eine Verfassung
genügen sollte, was insbesondere die Bürger von einer
europäischen Verfassung erhoffen können.
1.
Anforderungen an eine Verfassung
1.
Anforderungen an eine Verfassung
a)
Verfassung als Gesellschaftsvertrag
Zunächst
kann man einen Unterschied zwischen einer Verfassung und internationalen
Verträgen herausstellen, der Maßstab einer Beurteilung der
vorgelegten Verfassung sein kann. Bei internationalen Verträgen einigen
sich Regierungen und Staaten darauf, Verpflichtungen für ihre Staaten
zu übernehmen, auf Rechte zu verzichten; d. h. sie verpflichten sich
gegenüber anderen Staaten, bestimmte Politiken zu verfolgen, etwa
Treibhausgase zu reduzieren. Und sie schaffen meist Institutionen, welche
die Verpflichtung »durchsetzen« oder zumindest ihre Durchsetzung
kontrollieren und den Vertrag eventuell fortschreiben sollen. In internationalen
Konventionen, etwa zur Umweltpohtik, wird zu diesem Zweck regelmäßig
ein Rat und/oder ein Sekretariat eingerichtet. Ganz ähnlich funktionieren
die EU-Verträge – allerdings erheblich komplexer,
sodass sie über den typischen völkerrechtlichen Vertrag qualitativ
hinausgehen.
Eine Verfassung wird dagegen seit der Aufklärung gedacht als Gesellschaftsvertrag,
dem alle Mitglieder der Gesellschaft, die sich zu einer Einheit zusammenschließen
und sich gemeinsamen Regeln unterstellen, zustimmen sollten oder zumindest
können sollten.
b)
Zustimmungsfähigkeit
Die
Zustimmungsfähigkeit wird einerseits dann verlangt, wenn die
Mitglieder der Gesellschaft nicht tatsächlich der Verfassung
zustimmen oder in den Vertrag einwilligen (können) und –
das ist hier wichtiger – beinhaltet ein normatives
Kriterium. Auch bei einer Volksabstimmung über eine
Verfassung wird es keine Einstimmigkeit geben. Erwartet wird von
einer Verfassung aber, dass auch die Minderheit, also diejenigen,
die nicht zustimmen, mit der Verfassung leben kann, ihr
prinzipiell zustimmen können sollte, um nicht in eine
Fundamentalopposition zu dieser Verfassung zu geraten oder geraten
zu müssen, weil ihre Rechte und politischen Chancen
prinzipiell unberücksichtigt bleiben oder benachteiligt
werden. Dies ergibt sich aus der Konstruktion des
Gesellschaftsvertrages.
In
der liberalen Tradition einigen sich die Mitglieder der
Gesellschaft auf die Spielregeln des Zusammenlebens, schließen
sich über den Gesellschaftsvertrag zusammen, wodurch der
Einzelne – je nach Konzeption – seine Freiheit mehr
oder weniger aufgibt, dagegen aber vor allem Sicherheit und Rechte
erhält
und – in der demokratischen Tradition – zunächst
grundsätzlich gleichberechtigt an den Entscheidungen der
Gesellschaft mitwirken kann. Wenn der Einzelne aber auf seine
Freiheiten verzichten soll, dann muss er entweder die Chance
haben, dem Vertrag fernzubleiben, nicht zuzustimmen und sich einer
anderen Gesellschaft anzuschließen, oder der
Gesellschaftsvertrag muss zumindest grundsatzlich zustimmungsfähig
sein, ansonsten besteht keine Veranlassung, diesem Vertrag
zuzustimmen. Da ein Opting-Out real nicht möglich ist, bleibt
als normatives Kriterium die Zustimmungsfähigkeit. Über
ideale Maßstäbe an die Zustimmungstahigkeit gibt es
eine breite Diskussion, wobei dann aber meist eine gerechte
Gesellschaft insgesamt zur Diskussion steht.
Für die Beurteilung des vorgelegten Verfassungsentwurfs sind
solche Konzeptionen möglicherweise zu weitreichend, und eine
allgemeine Zustimmung zu philosophischen Entwürfen kann nicht
unterstellt werden.
c)
Zustimmung als Ergebnis historischer Kämpfe
Ein
weniger anspruchsvoller, im gegebenen Fall aber ausreichender Maßstab
kann empirisch gewonnen werden: Die Zustimmungsfähigkeit kann sich
am historisch erreichten Niveau der gleichen Beteiligung und Rechtsgarantien
für den Einzelnen orientieren, also Zustimmungsfähigkeit empirisch
aus der mehr oder weniger großen Akzeptanz der bestehenden nationalstaatlichen
Verfassungen schließen und aus deren gemeinsamem Nenner die Maßstäbe
für die Zustimmungsfähigkeit zur europäischen Verfassung
ableiten. Man kann also zunächst die grundlegenden Essentials der
nationalstaatlichen Verfassungen in Europa zum Maßstab einer Europäischen
Verfassung machen, also vor allem: Menschcnrechte, rechts- und sozialstaatliche
Garantien und demokratische Teilhabe. Diese Essentials können nicht
nur als historisches Niveau einer Verfassung zum normativen Maßstab
ihrer Bewertung werden. Sie selber sind auf Akzeptanz und Zustimmungsfähigkeit
angelegt, eben weil sie Ergebnis historischer Kämpfe um Freiheit
und rechtliche Garantien sind, bzw. in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen
mit kirchlichen sowie staatlichen Autoritäts- und Machtanspruchen
gefunden wurden.
d)
Zustimmung zu den Spielregeln des politischen Konflikts
Ein
zentraler Integrationsmechanismus der Demokratie, der also die Zustimmung
zu einem Gesellschaftsvertrag ermöglicht, ist die Aussicht der politischen
Minderheit, – gewaltlos – zur politischen Mehrheit werden
zu können, und das gegenseitige Übereinkommen, bei wechselnder
Mehrheit deren Beschlüsse zu akzeptieren und umgekehrt von Repressionen
gegen die Minderheit abzusehen. Dies ist ohne Zweifel ein zivilisatorischer
Fortschritt. Das heißt, Mehrheitsentscheidungen werden nicht über
metaphysische »Substanzen« wie Schicksalsgemeinschaft, nationale
Homogenität oder ähnliches akzeptabel, sondern aus den Spielregeln
der Demokratie selbst. Dieser Integrationsmechanismus hat jedoch tatsächliche
Voraussetzungen.
Eine
wichtige Voraussetzung ist die Dominanz politischer Konfliktlinien, die
bekanntlich durch andere, wie ethnische oder religiöse, Konfliktlinien
in den Hintergrund gedrängt werden können,
was strukturelle Minderheiten erzeugt und den Wechsel von Mehrheiten unwahrscheinlich
macht. Dabei darf der politische Konflikt oder Wettbewerb gleichzeitig
nicht in ein Freund-Feind-Schema abrutschen, d. h. die Ausschaltung des
politischen Feindes bis zur physischen Liquidierung muss im Wettbewerb
tabu sein. Dies ist gewissermaßen Bestandteil der Grundregel wechselnder
Mehrheiten, denn in einem Freund-Feind-Verhältnis wird eine neue
Mehrheit im Zweifel nicht akzeptiert, bzw. es kann eine solche gar nicht
geben. Diese schwierige Balance zwischen Dominanz der politischen Konflikte
und Freund-Feind-Konflikt hat wiederum soziale und kulturelle Voraussetzungen,
die jedoch sehr unterschiedlich sein können, was ein Vergleich zwischen
US-amerikanischer Demokratie und der deutschen oder französischen
Version des Rheinischen Kapitalismus deutlich macht.
Im
Einflussbereich der rechtlichen Regelungen des Gesellschaftsvertrages
oder der Verfassung liegt es, erstens, die Zentralität des politischen
Konfliktes zu institutionalisieren
oder zumindest institutionell zu unterstützen, zweitens, die Minderheit
vor Repressalien zu schützen oder einen demokratischen Wettbewerb
überhaupt zu erlauben, und drittens, eine politische Offenheit der
Verfassung herzustellen, die es für eine Minderheit überhaupt
möglich erscheinen lässt, zur Mehrheit zu werden und eine andere
politische Konzeption zu verfolgen.
e)
Zukunftsoffenheit als Maßstab für eine Europäische Verfassung
Eine
solche Offenheit setzt voraus, dass die Verfassung die Spielregeln für
den politischen Wettbewerb bestimmt, d. h. die Mechanismen der Entscheidungsfindung.
Es setzt weiter voraus, dass sich die Verfassung bei politischen Festlegungen
für die Zukunft zurückhält oder auf ein Mindestmaß,
wovon die Spielregeln selbst wesentlicher Bestandteil sind, beschränkt,
dass sie insbesondere kein detailliertes politisches Programm vorgibt.
Dies soll ja Gegenstand der politischen Auseinandersetzung sein. Kurz:
Die Verfassung muss sich auf Essentials von Kompetenzen, Rechten und Programmsätzen
beschränken, wobei die beiden letztgenannten vor allem in den Grundrechten,
die nicht alle den demokratischen Prozess absichern, und Staats-Zielbestimmungen
zum Ausdruck kommen. Die Offenheit der Verfassung, verstanden als Möglichkeit
in der Zukunft, andere politische Grundentscheidungen zu treffen, zwischen
politischen Richtungen zu entscheiden und diese auswählen zu können,
kurz, ihre Zukunftsoffenheit erweist sich so als zentraler Maßstab,
der an einen Verfassungsentwurf anzulegen ist.
Selbstverständlich
gibt es unterschiedliche Konzeptionen eines Verfassungsbegriffs,
der in der europarechtlichen und -politischen Debatte in
Abhängigkeit vom Verständnis der Konstruktion der Union
unterschiedlich konnotiert wird.
Diese Debatte wird darum geführt, ob Europa eine
(demokratische) Verfassung hat, haben kann oder haben soll, wobei
die Ergebnisse meist durch die Prämisse, nämlich durch
die Konstruktion des Charakters der europäischen
Gemeinschaft, vorbestimmt ist.
Nun wird Europa absehbar eine Verfassung bekommen, es geht nicht
mehr um das »Ob«
einer europäischen Verfassung, sondern um deren Inhalt, um
das »Wie«. Hier scheint eine Rückbesinnung auf
die Grundideen der Verfassung als Gesellschaftsvertrag
sinnvoll.
Man
kann an die großen rechtstheoretischen Strömungen
anschließen und zwischen einem eher positivistischen und
einem eher naturrechtlichen Verständnis der Verfassung
unterscheiden: Die positivistische Position betont den
Spielregelcharakter der Verfassung. Diese normiert
Verfahrensbedingungen für die Generierung frei setzbaren
Rechts.
Dessen Inhalt ist nicht vorgegeben, sondern wird bei offenem
Ausgang im politischen Prozess bestimmt. Recht wird erzeugt durch
allgemeinverbindliche Entscheidung über abstrakt formulierte
Verhaltensanforderungen oder Erwartungshaltungen an ein solches
Verhalten, wobei die Entscheidungen durch ein in der Verfassung
bestimmtes Verfahren erzeugt worden sein müssen. Die
naturrechtliche Position behauptet heute nicht mehr, dass der
Inhalt des Rechts durch Gott oder Naturgesetzlichkeiten vorgegeben
ist, aber sie bindet Recht stärker an inhaltliche Maßstäbe,
an Maßstäbe der Gerechtigkeit, die heute vor allem
durch die Grundrechte und Staatsprinzipien vorgezeichnet werden.
Diese inhaltlichen Maßstäbe organisieren dann nicht nur
den politischen Prozess, etwa über die Meinungs-, Presse-
oder Versammlungsfreiheit, sondern setzen außerdem
Orientierungspunkte für die Politik, auch jenseits der
Grenzen, wo diese reflexiv auf die Verfassung wirkt, indem –
implizit – die Spielregeln verändert werden, etwa durch
die Beschränkung bestimmter politischer Meinungen.
Insbesondere zu Beginn der Bundesrepublik wurde das Grundgesetz
stärker als Werteordnung
verstanden, während heute eher seine konstitutive Bedeutung
für den politischen Prozess
betont wird. Dabei war aber unbestritten, dass die
Verfassungsnormen politische Entscheidungen nicht determinieren,
ein weiter Spielraum für politische Richtungsentscheidungen,
die sich im demokratischen Prozess Mehrheiten organisieren müssen,
besteht. Im Unterschied zu internationalen Verträgen wird
eine Verfassung nicht als Übereinkommen von Staaten oder
Regierungen, sondern als Gesellschaftsvertrag verstanden. Wenn die
Verfassung aber auch Vertrag – wenn auch Vertrag der
Gesellschaftsmitglicder untereinander – ist, so könnte
man folgern, dann können die Gesellschaftsmitglieder –
oder ihre Repräsentanten – doch vertraglich
vereinbaren, was sie wollen. Hannah Arendt hat in ihrer
politischen Lehre als zentralen Gesichtspunkt hervorgehoben, dass
sich im Gesellschaftsvertrag nur die vertragsschließende
Generation binden kann. Grundsätzlich hat die lebende
Generation kein Recht, zu Lasten oder auch nur ohne den Willen der
nachfolgenden Generation deren Lebensbedingungen vertraglich zu
fixieren.
Auch
wenn man dieses Postulat nicht wörtlich nehmen kann, da jede
Generation unter den von vorhergehenden Generationen
hinterlassenen Bedingungen leben muss,
so lässt es sich doch als regulative Idee für den
Gesellschaftsvcrtrag verstehen. Daraus würde wiederum folgen,
dass die Verfassung zukunftsoffen gestaltet sein muss, dass sie
die Bedingungen ihrer eigenen Veränderbarkeit enthalten muss
und zukünftigen Generationen – jedenfalls in einer
demokratischen Gesellschaft – die Möglichkeit zu einem
Richtungswechsel in der Politik gestatten muss. Zukunftoffenheit
ist so ein zentrales Kriterium, das eine Verfassung erfüllen
sollte – sie muss zukunftsoffen in dem Sinn sein, dass sie
die Spielregeln für die politischen Kräfte festlegt, die
dann im Rahmen der Verfassung unterschiedliche politische Konzepte
oder Strategien verfolgen können. Und sie muss zukunftsoffen
in dem Sinne sein, dass Regeln für die Weiterentwicklung,
Änderung und Anpassung der Verfassung selbst gefunden werden,
die auf die vorhandenen Institutionen des geschaffenen politischen
Gebildes zurückgreifen, nicht aber auf außerhalb
gefundene Kompromiss- und Konsenslinien angewiesen sind.
Eine
Verfassung unterscheidet sich also von internationalen Verträgen
dadurch, dass sie nicht Politikinhalte festlegt, sondern den Rahmen, die
Spielregeln, z.T. auch die Grenzen von Politik festlegt, sie organisiert
politische Prozesse, bestimmt aber deren Ergebnis nicht oder nur mit dem
Blick auf wenige Eckpunkte. Um es vorweg zu nehmen: Die vorliegende EU-Verfassung
besteht den Test allenfalls schlecht – sie wird zu einer Diktatur
der Gegenwart über die Zukunft.
2.
Zukunftsoffenheit der politischen Spielregeln im Entwurf der Europäischen
Verfassung
a)
Ziel und Aufbau der Verfassung
Der
Europäische Rat beauftragte den Konvent in Laeken, Vorschläge
für drei Anliegen zu unterbreiten, »nämlich den
Bürgern das europäische Projekt und die europäischen
Organe näher zu bringen, das politische Leben und den
europäischen politischen Raum in einer erweiterten Union zu
strukturieren und die Union zu einem Stabilitätsfaktor und zu
einem Vorbild in der neuen Weltordnung zu machen.« –
hoch gesteckte Erwartungen also. Der Konvent hat sich deshalb nach
eigenen Worten u. a. folgendes Ziel gesetzt: »Er schlägt
Maßnahmen für mehr Demokratie, Transparenz und
Effizienz in der Europäischen Union vor«. Wird dieses
selbst gesteckte Ziel durch die nun auf den Weg gebrachte
Verfassung erreicht?
Der
von den Regierungschefs beschlossene Entwurf hat vier Teile. Teil
I beinhaltet die grundlegenden Ziele und Institutionen der Union
und kommt zusammen mit Teil II in Diktion und Präzision bei
gleichzeitiger Abstraktion einem Verfassungstext am nächsten.
Teil II beinhaltet die Charta der europäischen Grundrechte,
die der Konvent in die Verfassung übernommen hat – und
dies sind die beiden Teile, die der Konvent anscheinend überhaupt
intensiv diskutiert hat, während der Teil III
weitgehend ohne Diskussion den Weg in
die Verfassung gefunden hat.
Teil III beinhaltet
Regelungen, die an die Struktur und den Inhalt des EG-Vertrages
angelehnt sind, z.T. aber modifiziert (etwa die Vorschrift zum
Gesetzgebungsverfahren) und erweitert wurden.
Teil IV enthält
allgemeine und Schlussbestimmungen.
b)
Verfassungsänderung
Der
Konvent hatte die Aufgabe, eine Verfassung zu schaffen, die für das
erweiterte Europa tauglich ist. Gefordert wurde, Entscheidungsmechanismen
zu schaffen, die politische Entscheidungen überhaupt ermöglichen,
d.h. mit Bezug auf die einfache Rechtsetzung der Gemeinschaft, Veto-Positionen
zu schleifen. Dies kann aber – im Sinne einer Zukunftsoffenheit
der Verfassung – auch Maßstab für die Verfassung selbst
sein. Nur ein handhabbarer und auf die Verfassung selbst verweisender
Mechanismus der Verfassungsänderung kann sich tauglich erweisen,
Anpassungen an zukünftige Entwicklungen zu vollziehen, offen zu sein
für die Zukunft.
Die
rechtswissenschaftliche Diskussion hat spitzfindig zwischen Verfassungsvertrag
und Verfassung unterschieden, was allerlei demokratietheoretische
Verschrobenheiten implizierte, die sich insbesondere am Begriff des Europäischen
Volkes
festmachen.
Ein Regelungsbereich, für den diese Unterscheidung Sinn macht, ist
der Bereich der institutionalisierten Mechanismen der Verfassungsänderung.
Eine Verfassung lässt sich als zukunftsoffen bezeichnen, wenn die
durch die Verfassung geschaffenen Institutionen oder das Volk als Souverän
und eigentliches Subjekt des Gesellschaftsvertrages, die Verfassung –
meist mit erhöhten Mehrheitsanforderungen – fortschreiben können.
Nach dem Grundgesetz sind es eben Bundestag und Bundesrat, die mit einer
2/3 Mehrheit die Verfassung (in bestimmten Grenzen) ändern können.
Das macht die Verfassung in dem Sinne zukunftsoffen, dass eine große
Mehrheit zu der Meinung kommen kann, dass sich Werte oder Fakten derart
geändert haben, dass dies im Gesellschaftsvertrag Ausdruck finden
muss. Der Verfassungsentwurf für die Europäische Union enthält
Änderungsvorschriften in den Art. IV 443
und 444. Dabei normiert Art. 443 das ordentliche Änderungsverfahren:
Verfassungsänderungen sollen danach grundsätzlich von einem
Konvent vorbereitet werden und anschließend von jedem Mitgliedstaat
ratifiziert werden. Das Verfahren wird also noch komplizierter als die
bisherigen Vertragsänderungen. Der Konvent war von sich selbst so
begeistert, dass in Zukunft Verfassungsänderungen der Mitwirkung
eines Konvents bedürfen. Etwas einfacher soll es nach Art. IV
444 sein, die Mehrheiten und Gesetzgebungsverfahren
in den einzelnen Politikbereichen zu ändern. Hier soll zunächst
der Europäische Rat beschließen;
der Beschluss wird Verfassung, wenn kein nationales Parlament widerspricht.
Diese Erleichterung ist nur eine scheinbare, weil sie nur interessant
wird, wenn ein nationales Parlament eine andere Haltung einnimmt als seine
Regierung. In Art. 18 findet sich die sog. Flexibilitätsklausel.
Mit Zustimmung des Parlaments kann danach der Ministerrat einstimmig die
Kompetenzen für weitere Politikbereiche schaffen.
Ansonsten enthält er keine Vorschriften über Änderungsverfahren.
Das ist gegenüber den bestehenden Verträgen keine nennenswerte
Änderung, sodass die Mitgliedstaaten, selbst oder vertreten durch
den Europäischen Rat, die Letztentscheidungsbefugnis über
die Verfassung nicht verloren haben. Man kann hier auch den Blickwinkel
der Kompetenzen einnehmen und von fehlender »Zuständigkeit
zur Selbstorganisation« der Union sprechen.
Zukunftsoffen ist die Verfassung damit nicht. Es wäre vielleicht
noch hinnehmbar, dass die Verfassung nur im Konsens der Mitgliedstaaten
zu ändern ist, wenn sie sich auf zentrale Spielregeln des gesellschaftlichen
Zusammenlebens beschränken würde, also im Bereich der Politikinhalte
offen wäre. Genau das ist aber nicht der Fall, vielmehr wird eine
bestimmte politische Konzeption der Gesellschaft für alle Zukunft
festgeschrieben – was noch genauer zu zeigen ist.
c)
Das Budgetrecbt da Parlaments
Zentral
für politische Spielregeln, die einen Politikwechsel ermöglichen
und eine Offenheit der politischen Entwicklung der Gesellschaft schaffen,
sind die Kompetenzen des gewählten Parlaments. Hier drücken
sich veränderte Mehrheiten im verfassungsrechtlichen Institutionengefüge
unmittelbar aus. Historisch gehört das Budgetrecht zu den ältesten
und gleichzeitig zu den heiß umkämpften Parlamentsrechten.
Budgetrecht meint, dass das Parlament autonom über die Einnahmenseite
und vor allem die Ausgabenseite der entsprechenden politischen Körperschaft,
im Rahmen ihrer Kompetenzen, beschließen darf.
Von einem Budgetrecht des Parlaments kann bisher keine Rede sein.
Welchen
Fortschritt bietet nun die Verfassung? Auf der Einnahmenseite
sieht sie keine wesentlichen Änderungen vor. Der Ministerrat
bestimmt die Obergrenze der Finanzmittel der Union – und
zwar einstimmig nach Anhörung des Parlaments. Das Parlament
könnte also theoretisch im Haushaltsplan nach unten von
diesem Vorschlag abweichen – aber eben nur theoretisch, weil
die frei verfügbaren Finanzmittel der Union sowieso
ausgesprochen gering sind. Es hat weiterhin keine Kompetenz,
(neue) Finanzquellen der Union zu erschließen.
Das
Verfahren bei der Aufstellung des Haushaltsplanes wurde zugunsten
des Parlaments modifiziert, und zwar in dem Sinne, dass es im
Ergebnis ein Veto-Recht hat, aber keinen abweichenden
Gestaltungsspielraum. Stimmt es nämlich dem vom Rat
verabschiedeten Entwurf des Haushaltsplanes nicht zu, wird ein
Vermittlungsausschuss einberufen. Mit einer Mehrheit von 3/5 kann
das Parlament aber dessen Vorschlag ablehnen und die Aufstellung
eines neuen Haushaltsplanes verlangen. Trotz der gestärkten
Stellung des Parlaments bleibt es reagierender Teil, während
Rat und Kommission der agierende Teil sind, an deren Vorgaben sich
das Parlament abarbeiten muss. Ein Budgetrecht im überkommenen
Sinne existiert auch bei der Ausgabenseite, bei der Aufstellung
des Haushaltsplanes, in der neuen Verfassung nicht.
Nun
könnte man argumentieren, Europa sei das Europa der Völker
und der Nationen, sodass das Budgetrecht des Parlaments kein
Essential eines demokratischen Europas ist, sind doch die
Regierungen ebenfalls demokratisch legitimiert.
Allerdings ist der Rat – auch in Zukunft – nach einem
Stimmschlüssel zusammengesetzt, der von einer repräsentativen
Vertretung noch weiter entfernt ist, als dies beim Parlament der
Fall ist. Zweitens werden die nationalen Regierungen für
andere Politikbereiche gewählt. Sie sind Institutionen,
funktional oder nach der Logik der politischen Verantwortlichkeit
wesentlich zumindest auch Vertreter nationaler Interessen, während
das Parlament institutionell-normativ darauf angelegt ist, ein
allgemeines europäisches Interesse zu vertreten, d.h. im
europäischen Allgemeinwohl zu handeln.
Anders gesagt: Es geht nicht um die Konzeption der »demokratischen
Legitimation«, die bekanntlich unterschiedlich beantwortet
wird,
sondern um die Offenheit der Fortentwicklung der Verfassung
und der Union, d.h. um die Möglichkeit der Bildung einer
europäischen Allgemeinheit jenseits der nationalstaatlichen
Egoismen, die sich wiederkehrend im Feilschen um das Budget
ausdrucken.
d)
Gesetzgebungsverfahren
Geht
man dem historischen Verlauf nach, folgt auf das parlamentarische Budgetrecht
der Aufstieg der Parlamente zum Gesetzgeber. Die Gesetzgebung ist Sache
des Parlaments, das allerdings in föderalen Staaten auf die Zustimmung
der Bundesstaaten angewiesen ist, in Präsidialdemokratien mit dem
Präsidenten zusammen wirken muss.
Der Verfassungsentwurf bringt Fortschritte zugunsten des Parlaments, allerdings
nur kleine – ähnliches gilt für die Übersichtlichkeit
und Leichtigkeit der Verfahren. Es bleibt beim Europa der kleinen Schritte.
Art. I 34 bestimmt kurz und knapp: Europäische Gesetze und Rahmengesetze
werden »nach besonderen Gesetzgebungsverfahren vom Europäischen
Parlament und vom Rat gemeinsam erlassen.« Das genaue Prozedere
des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens wird in Art. III
396 geregelt. Der Kommissionsvorschlag soll
beiden gleichzeitig zugeleitet werden, stimmt der Rat oder das Parlament
nicht zu, gibt es einen Vermittlungsausschuss, dessen Ergebnis vom Rat
mit qualifizierter Mehrheit, vom Parlament mit einfacher Mehrheit gebilligt
werden muss. Finden sich diese Mehrheiten nicht, ist der Rechtsakt nicht
verabschiedet.
Aber
es finden sich in den einzelnen Politikbereichen weiterhin
Sondervorschriften, die Einstimmigkeit oder qualifizierte
Mehrheiten des Ministerrates und nur ein Anhörungsrecht des
Parlaments vorsehen. Das gilt etwa für einige Bereiche der
Sozialpolitik (Art. III 210
Abs. 3 – einstimmig), der Währungspolitik (Art. 187
Abs. 4 i.V.m. Art. I 23
Abs. 3 – qualifizierte Mehrheit) und Bereiche der
Agrarpolitik (Art. III 130
Abs. 3 – qualifizierte Mehrheit sogar ohne Anhörung des
Parlaments).
Das Initiativrecht für Europaische Gesetze und Rahmengesetze
liegt gemäß Art. 33 regelmäßig bei der
Kommission – jedenfalls nicht beim Parlament.
Die Nationalstaaten sichern sich auf diesem Wege, weil sie die
Zusammensetzung der Kommission weiterhin entscheidend bestimmen,
die Kontrolle über die Gegenstande und Inhalte der
Europäischen Gesetzgebung.
Kurz:
Der demokratische Fortschritt besteht dann, dass das Verfahren der
Mitentscheidung mit qualifizierter Mehrheit verallgemeinert wurde
– oder anders herum: Das Verfahren der Zusammenarbeit wurde
abgeschafft. Aber die Ausnahmen vom Prinzip, von der gemeinsamen
Gesetzgebung von Ministerrat und Parlament, sollen bleiben –
zugunsten des Ministerrates. Auch die Unübersichtlichkeit
wurde kaum geringer. Ebenso wenig kann man von einer
entscheidenden Verbesserung der Entscheidungsfähigkeit der
Organe der Union sprechen, weil von der Verfassung für
bestimmte Politikbereiche weiterhin die Einstimmigkeit im
Ministerrat gefordert wird.
Anders
als das Grundgesetz – jedenfalls in der herrschenden
Interpretation – beinhaltet die Verfassung Elemente der
Volksgesetzgebung. Allerdings bleibt sie hier auch wieder auf
halbem Wege stehen. Gemäß Art. I 46 Abs. 4 gibt es eine
Art Volksbegehren, die Bürgerinitiative genannt wird.
Unterzeichnen eine Millionen Bürger eine solche Initiative zu
einem europäischen Rechtsakt, können sie die Kommission
damit zwingen, geeignete Vorschläge für einen Rechtsakt
zu unterbreiten. Das entscheidende Mittel, der Volksentscheid,
fehlt jedoch, und die Bürgerinitiative bestimmt nur das
Thema, nicht den Inhalt des Kommissionsvorschlages.
Die politischen Steuerungsmittel, Geld und Recht, bleiben
weitgehend unter der Kontrolle der Nationalstaaten. Eine
europäische Allgemeinheit, über deren Ausgestaltung in
einer europäischen Zivilgesellschaft gestritten werden
könnte, kann sich so nicht herausbilden. Politische
Richtungsentscheidungen werden weiter auf der nationalstaatlichen
Ebene stattfinden mit der Folge, dass die europäischen
Institutionen im politischen Diskurs trotz ihrer Bedeutung für
die nationale Politik unterbelichtet bleiben, keine wesentliche
Rolle einnehmen. Der Verfassungsentwurf bleibt auf dem Niveau
eines Vertrags zwischen Regierungen und wird nicht zu einem
Vertrag der europäischen Gesellschaft. Die verschiedenen
Veto-Positionen erschweren zudem auch jeden pragmatischen
Politikwechsel, gegenwärtige Mehrheiten werden für die
Zukunft festgeschrieben.
e)
Demokratische Wahl und Verantwortlichkeit der Regierung
Dies
wird in der Regelung der Bestellung und Verantwortlichkeit der
Kommission deutlich. Sie bleibt weiterhin vor allem den
Mitgliedstaaten gegenüber verantwortlich, nicht gegenüber
der europäischen Gesellschaft. Die Zentralität des
politischen Konfliktes, ein essentielles Moment der demokratischen
Integration und für die Zustimmungsfähigkeit der
Verfassung, hängt u.a. davon ab, ob die Spitze der Exekutive
nach politischen Gesichtspunkten ausgewählt und besetzt
werden kann. In der Mediendemokratie wird die Wahl der
Regierungschefs und die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber
dem Parlament und damit mittelbar gegenüber dem Wahlvolk zu
einem zentralen Mechanismus eines demokratischen
Verfassungsgefüges.
Entschieden wird in der Wahl oft nur über Kandidaten, die
allenfalls eine Politik personifizieren oder für diese
abgestraft werden, und nicht über politische Programme oder
Konzeptionen. Dies mag man für eine Reduktion oder
Degeneration der demokratischen Idee halten, in der Realität
der parlamentarischen Demokratien ist es ein wesentlicher Aspekt
bei der Äußerung des Willens durch das Wahlvolk und
schon deshalb ebenfalls Essential einer demokratischen
Konstitution. Auch hier wagt die auf den Weg gebrachte Verfassung
nur sehr kleine Schritte nach vorn.
Zunächst
wird klargestellt, welche Rolle die Kommission im zukünftigen
institutionellen Aufbau der Union haben soll, bzw. diese Rolle
wird in der klassischen Trias der Gewaltenteilung dingfest
gemacht. So heißt es in Art. 26 Abs. 1: Die Kommission »übt
nach Maßgabe der Verfassung Koordinierungs-, Exekutiv- und
Verwaltungsfunktionen aus«. Wenn die Kommission
exekutivische Aufgaben wahrnimmt, ist unter demokratischen
Gesichtspunkten eine parlamentarische Kontrolle und
Verantwortlichkeit zu fordern, unter rechtsstaatlichen Aspekten
eine gerichtliche Kontrolle. Letztere ist wenig problematisch,
anders sieht es mit ersterer aus.
Der Konvent hatte vorgeschlagen, dass das Parlament den unter
Berücksichtigung der Mehrheitsverhältnisse im Parlament
vom Rat vorgeschlagenen Kommissionspräsidenten bestätigen
muss. Der Präsident sollte dann die Kommissionsmitglieder aus
Dreierlisten der Mitgliedstaaten auswählen können. So
hätte man sich bei der Bestellung der Spitze der Exekutive
einer politischen Richtungsentscheidung genähert. Den
Regierungen der Mitgliedstaaten ging das schon zu weit. Die
Dreierlisten wurden wieder aus der Verfassung gestrichen, sodass
die Kommissionsmitglieder weiter von den Mitgliedstaaten bestimmt
werden. Neu ist nur die Rotation der Kommissare (Art. 27).
Von
einer parlamentarischen Verantwortlichkeit und Wahl der Exekutive
ist man weiterhin weit entfernt. Wettbewerb schreibt die
Verfassung nur im Wirtschaftsprozess groß, in der Politik
bleibt er eine Randerscheinung. Gerade ein solcher politischer
Wettbewerb, durch den die Politik darauf angewiesen ist,
Zustimmung zu politischen Konzepten oder zum politischen Personal
zu gewinnen, wäre aber Voraussetzung, europäische
Politik transparent zu machen oder – minimalistischer –
im Alltagsdiskurs der Bevölkerung überhaupt präsent
werden zu lassen.
3.
Wechselnde demokratische Mehrheiten in der Sozial- und Wirtschaftsverfassung
Zukunftsoffenheit
der Verfassung setzt voraus, dass sie sich detaillierter politischer Programmsätze
enthält, sodass über wechselnde Mehrheiten unterschiedliche
politische Richtungen am politischen Geschehen teilhaben können,
indem sie Mehrheiten für ihre politische Programmatik beschaffen
können. Der Verfassungsentwurf für die Europäische Union
wird solchen Maßstäben nicht gerecht. Der dritte Teil wurde
vielmehr mit detaillierten Programmsätzen und programmatischen Festlegungen
so vollgestopft, dass von einem politischen Spielraum der Europäischen
Politik kaum noch die Rede sein kann. So bestimmt die Verfassung etwa
zur Verkehrspolitik (Art. III 246
Abs. 2): »Die Tätigkeit der Union zielt im Rahmen eines Systems
offener, wettbewerbsorientierter Märkte auf die Förderung des
Verbunds und der Interoperabilität der einzelstaatlichen Netze sowie
des Zugangs zu diesen Netzen ab.« Vorausgesetzt oder direkt gefordert
wird ein privatisiertes, konkurrenzorientiertes Verkehrssystem. Über
dessen Vor- und Nachteile lässt sich aber wohl mit Recht streiten.
Die Erfahrungen mit dem deutschen und – noch krasser – dem
englischen privatisierten Bahnsystem sind inzwischen ausgesprochen lehrreich,
sodass die politische Auseinandersetzung auch um eine andere Organisation
europäischer Verkehrsnetze gehen müsste oder in Zukunft doch
gehen könnte. Die Verfassung würde eine andere Verkehrskonzeption
oder -politik jedoch drastisch einengen. Und ähnlich sind fast alle
Politikfelder durchnormiert. Ihnen liegt insgesamt ein wirtschaftsliberales
Politikkonzept oder eine Wettbewerbsideologie zugrunde, was erstens die
Zukunftsoffenheit der Verfassung konterkariert und was zweitens als Grundlage
für einen europäischen Gesellschaftsvertrag nicht zustimmungsfähig
ist.
Die
politische Ausrichtung und die politischen Festlegungen des
dritten Teiles stimmen außerdem nicht immer mit den
offeneren Formulierungen im ersten Teil überein.
Im ersten Teil, der den Konvent lange beschäftigte und der
vergleichsweise intensiv diskutiert wurde, heißt es in Art.
3: Die Union strebt »eine in hohem Maße
wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf
Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt«,
an. Die marktwirtschaftliche Komponente wurde immerhin um die
soziale Dimension erweitert, und die Wettbewerbsfähigkeit
erhält den gleichen Rang wie die Vollbeschäftigung. Eine
solche Zielbestimmung erlaubt unterschiedliche
Schwerpunktsetzungen der Politik.
Im
wirtschafts- und währungspolitischen Kapitel des dritten
Teils wird diese Offenheit dann aber zugunsten eines
marktradikalen Ansatzes zerstört. In den Art. III
177/178 und 185 ist statt von »sozialer
Marktwirtschaft« nur noch von »offener Marktwirtschaft
mit freiem Wettbewerb« die Rede – und das gleich drei
Mal, als müsse man es besonders beschwören. Aber das
schien nicht auszureichen, und so wird diese Formel um eine
hochideologische, also falsche, Begründung erweitert, die in
einer Verfassung prinzipiell deplaziert ist. Es heißt in
Art. 178 III: »offene
Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, wodurch eine effiziente
Ressourcennutzung gefördert wird«. Ein Blick auf die
Situation der Umwelt und am Arbeitsmarkt zeigt – jeweils in
umgekehrter Weise –, wie falsch diese Behauptung ist. Eine
identische Formulierung findet sich dann noch mal in Art. III
185.
Einer Verfassung steht es nicht an, sich derartig auf eine
politische Richtung festzulegen, insbesondere wenn man weiß,
dass der Teil III im
Konvent im Grunde nicht diskutiert wurde. Während das
Grundgesetz durch eine »wirtschaftspolitische Neutralität«
zu kennzeichnen ist, die unterschiedlichen wirtschaftspolitischen
Konzeptionen einen Gestaltungsspielraum lassen, trifft die neue
Verfassung eine wirtschaftsverfassungsrechtliche
Systementscheidung,
die einen zukünftigen Politikwechsel erschwert.
Abschließend
zwei Beispiele für die politischen Prioritäten der auf
den Weg gebrachten Verfassung.
In der Währungspolitik (Art. III
184 a) findet sich auch im
Verfassungsentwurf die Festlegung auf eine Verschuldensobergrenze
der Mitgliedstaaten, deren Überschreiten sanktioniert werden
soll – also die berühmten 3% des BIP, wobei sich die
Verfassung auf die Zahl nicht festlegt. Im Rahmen der
Beschäftigungspolitik gibt es – natürlich –
keine Obergrenze einer tolerierbaren Zahl von Arbeitslosen, deren
Überschreiten für den jeweiligen Mitgliedstaat
Sanktionen auslösen würde – das passt nicht in die
Konzeption und wäre – vermutlich – nicht
durchsetzbar. Aber das ist bekanntlich noch kein Argument dafür,
ob etwas richtig oder falsch ist. Rechtlich nicht relevant, aber
ausgesprochen symbolträchtig ist es schließlich, dass
die Kapital- und Warenverkehrsfreiheit vor den Grundrechten
steht.
Die Verfassung organisiert weiterhin ein Europa der Wirtschaft,
die Bürgerinnen und Bürger kommen an zweiter Stelle.
4.
Fazit
Die
Diskussion um die Frage, ob die EU eine Verfassung bekommen soll oder
kann,
hat sich – absehbar – erledigt. Die Frage wird sein, ob diese
Verfassung nur eine Fortschreibung der Verträge
ist mit der Folge: nach der Verfassung ist vor der Verfassung. Dann hat
sie den Namen Verfassung nicht verdient. Europa verdient eine Verfassung
und braucht eine Verfassung auf dem Niveau der nationalstaatlichen Verfassungen,
und das kann nur heißen: Ja zu einer Europäischen Verfassung,
aber Nein zu dieser Verfassung.
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