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Aktuell
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Ist
Europa in schlechter Verfassung?
EU-Verfassung
– ein zukunftsoffener Entwurf
oder Diktatur der Gegenwart über die Zukunft?
Freitag,
den 29. April 2005, 18.00 - 21.00 Uhr
im Kinosaal der Humboldt-Universität zu Berlin
(Unter den Linden 6, Tram: M 1, 12; Bus: 100, 200, TXL)
Beitrag von RAin Helga Wullweber
Neoliberalismus mit Verfassungsrang? –
Eine Geschichte (unter anderen) zum Siegeszug des Neoliberalismus
Bis in die Mitte des
20. Jahrhunderts galt der Kapitalismus allgemein als eine zwar ökonomisch
effiziente, aber in moralischer Hinsicht ungerechte und unvollkommene
Ordnung. Während der Zeit der Konkurrenz mit dem kommunistischen
Gesellschaftsmodell (kalter Krieg ab Ende der 1940er Jahre) empfahl sich
die westlich-kapitalistische Ordnung nicht bloß als Ort des ökonomischen
Wohlstandes, sondern zugleich als Verkörperung der Menschenrechte,
sozialer Solidarität, individueller kreativer Freiheit und höchster
Moral. Der „embedded capitalism“ war die Kombination von Sozialstaatlichkeit,
nationalstaatlicher Souveränität und internationalen Regeln,
die darauf zielten, die Marktkräfte zu zivilisieren.
Die Rekonstruktion
weltwirtschaftlicher Beziehungen nach dem 2. Weltkrieg erfolgte durch
institution building. Die im Rahmen des Bretton-Woods-Abkommens 1944 vereinbarten
Regelungen (Gründung von IWF (Internationaler Währungsfonds)
und Weltbank (Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung)
sollten die krisenfreie Anpassung nationaler Ökonomien im Falle von
Zahlungsbilanzungleichgewichten sicherstellen. Die Regelungen sahen einerseits
eine Öffnung der Nachkriegsökonomien für Geld- und Finanztransaktionen
vor. Andererseits wurden Institutionen und Mechanismen grenzüberschreitender
Kooperation eingeführt, ua in Gestalt der Ab- und Aufwertungsmodalitäten
im Rahmen des Fixkurssystems, und das Prinzip der kollektiven Verantwortung
für das Ziel weltwirtschaftlicher Stabilität verankert, etwa
durch die Beistandskredite im Falle von Zahlungsbilanzproblemen. Die im
Rahmen des General Agreement of Tariffs and Trade vom 30.10.1947 (GATT)
stattfindenden Zollsenkungsrunden für Waren und Dienstleistungen
gewährleisteten eine weitgehend schockfreie Öffnung der Märkte
für Waren und Dienstleistungen (unter Einräumung der Möglichkeiten
zur Bildung von Präferenzzonen, Zollunion uä).
Ziel des IWF war die
Förderung der Stabilität der Währungen durch geordnete
Währungsbeziehungen und damit der Förderung eines ausgewogenen
Wirtschaftswachstums sowie eines hohen Beschäftigungsgrades. Durch
regelgebundene Hilfeleistungen sollte der IWF eine Wiederholung des desaströsen
Abwertungswettlaufs der 30er Jahre verhindern und gleichsam krisenfreie
Anpassungen nationaler Ökonomien im Falle von Zahlungsbilanzungleichgewichten
sicherstellen. Diese ursprüngliche Aufgabenzuweisung basierte auf
der Einsicht, dass die Selbstregulierungskräfte des Marktes oftmals
nicht störungsfrei funktionieren – dass sie zu Massenarbeitslosigkeit
führen können und unter Umständen Ländern nicht die
nötigen Mittel verschaffen, um ihre konjunkturelle Talsohle zu überwinden.
Der IWF wurde in dem Bewußtsein gegründet, dass es zur Wahrung
wirtschaftlicher Stabilität kollektiven Handelns auf globaler Ebene
bedürfe, so wie die Vereinten Nationen in dem Bewußtsein gegründet
worden waren, dass zur Gewährleistung politischer Stabilität
gemeinsame Maßnahmen auf globaler Ebene erforderlich seien.
Erläuterung: Bei
einem System fester Wechselkurse verpflichten sich die Regierungen der
beteiligten Länder einen bestimmten Wechselkurs, auf den sie sich
geeinigt haben (Parität), durch Interventionen (Ankäufe oder
Verkäufe von Devisen) konstant zu halten. Hinter den die Wechselkursänderungen
hervorrufenden Devisenbewegungen stehen ua internationale Inflations-,
Wachstums- und Zinsunterschiede sowie Spekulation, wobei der Wechselkurs
nicht unbedingt der Kaufkraftparität entsprechen muß. Für
die weltwirtschaftliche Integration (Ausweitung von Handel und Kapitalverkehr)
erweisen sich feste Wechselkurse gegenüber flexiblen Wechselkursen
als vorteilhaft, weil der grenzüberschreitende Wirtschaftsverkehr
bei flexiblen Wechselkursen durch unkalkulierbare Wechselkursschwankungen
beeinträchtigt werden kann.
Die institutionellen
Regelungen des GATT und das Fixkurssystem von Bretton Woods iVm dem IWF
haben Vertrauens- und Sicherheitsstrukturen für die nationalen Ökonomien
aufbauen können. Immer wieder erforderliche koordinierte Neufestlegungen
der Währungsparitäten und die Kosten dieser Neuordnungen stießen
aber auch auf Kritik und wurden argumentativ zur Unterhöhlung des
Vertrauens in die Funktionsweise des Fixkurssystems genutzt.
Das in Bretton-Woods
beschlossene Währungssystem fixer Wechselkurse war an den US-Dollar
als Leitwährung gebunden (und nur indirekt wegen der Goldbindung
des Dollars an das Gold). Dieses Währungssystem war abhängig
von der Stabilität des US-Dollars, der jedoch seit Beginn der 60er
Jahre unter zunmehmenden Abwertungsdruck geriet. Die USA verfügten
nicht mehr über genügend Goldreserven, um die Dollarverpflichtungen
gegenüber dem Ausland einzulösen. Im Jahre 1971 mußte
die Nixon-Regierung die Dollar-Konvertibilität aufgeben. Im März
1973 scheiterte das System fixierter Wechselkurse endgültig .Die
USA waren zu einer für sie ungünstigen Neufestlegung der Währungsparitäten
nicht bereit gewesen.
Obgleich zur Unterhöhlung
der Dominanz des US-Dollars auch der durch das GATT und das System von
Bretton-Woods geförderte Aufholprozess der OECD (1948 gegründete
Organization for Economic Cooperation and Development) -Ökonomien
beigetragen hat, wurden die Geschehnisse als Mißerfolg des Staatsinterventionismus
gedeutet. Diese Deutung verhalf in den 70er Jahren in Großbritannien
und in den USA einer marktoptimistischen Strategie zum Durchbruch, die
weltwirtschaftlich wie binnenwirtschaftlich auf eine Freisetzung der Märkte
von sozialen und gesellschaftlichen Bindungen setzte. Die Organisationsform
der Arbeitsmärkte und die Struktur und Form des Sozialstaates wurden
angegriffen. Staatliche Interventionen in den marktwirtschaftlichen Prozess
und marktfremde Institutionen wurden politisch im besten Fall als unnütze
und im schlechtesten Fall sogar als schädliche Elemente identifiziert.
Infolge der Krisen
der 70er Jahre (ua politischen Ereignissen wie dem 4. israelisch-arabischen,
dem Jom-Kippur Krieg und der nachfolgenden, in einer Vervielfachung des
Ölpreises bestehenden, OPEC Ölpreiskrise) galt die Idee einer
regulierten (Welt)Wirtschaft als diskreditiert.
Unterhöhlt wurde
das Regime des „embedded capitalism“ aber auch durch politische,
soziale und technologische Ereignisse, die weder direkt noch indirekt
mit ökonomischer Globalisierung zu tun haben. Technologisch gesehen
hat die Verbilligung der Informations- und Kommunikationstechnologien
die nationale Kontrolle grenzüberschreitender Transaktionen schwieriger
gemacht. Kapitalverkehrskontrollen konnten leichter als früher umgangen
werden. Mit der Verbilligung der Transportkosten wurde die Welt „kleiner“,
weil ereichbarer, ökonomisch gesehen freilich größer,
wurden doch Märkte zugänglich, die bislang aus Kostengründen
verschlossen blieben.
Prinzipiell standen
den damaligen politischen Akteuren zwei Optionen offen: Zum einen eine
problemgerechte Fortentwicklung der Strukturen von embeddedness und zum
anderen eine Aufhebung derartiger Regulation zugunsten einer weitreichenden
Liberalisierung. Gewählt wurde die zweite Option.
Wie in einem System
kommunizierender Röhren hat schließlich die Abdankung der Planwirtschaften
sowjetischen Typs und die damit verbundenen Auswirkungen auch die
planwirtschaftlichen, lenkenden oder intervenierenden Systeme in anderen
Teilen der Welt erfaßt. Die Liberalisierung der Märkte hat
auf diese Weise eine enorme Beschleunigung und politische Popularität
erfahren.
Jedoch: Ohne funktional
adäquate Formen politischer Regulation erzeugen Märkte allen
Erfahrungen nach nicht automatisch Nettowohlfahrtsgewinne. Das gilt insbesondere
für die behauptete wohlfahrtssteigernde Disziplinierungsfunktion
der internationalen Finanzmärkte. Was sie mit ihren Entscheidungen
exekutieren, sind – in der Regel kurzfristige – privatwirtschaftliche
Profitmaximierungsregeln, die soziale Kosten prinzipiell außeracht
lassen (müssen). Damit bestimmen kurzfristige einzelwirtschaftliche
Kalküle die ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen
in vielen Teilen der Welt (= Verbetriebswirtschaftlichung der Wirtschaftspolitik).
Stiglitz hat in seinen
theoretischen Arbeiten gezeigt: Märkte, und dies gilt in besonderer
Weise für globale oder weltmarktoffene Märkte, erzeugen systematisch
aufgrund eines generellen Nichtwissens von der ökonomischen Zukunft
und damit aufgrund von ökonomischer Unsicherheit permanent Ungleichgewichte,
die die Form von ökonomischen Krisen annehmen können. Diese
Form ökonomischer Unsicherheit ist weder mikro- noch makroökonomisch
prinzipiell zu überwinden. Finanzwirtschaftlich fundierte Markthandlungen
haben in gewisser Weise mit Unsicherheit zu leben. Was reguliert werden
kann, ist das Unsicherheitsniveau. In einer kapitalistischen- und Geldwirtschaft
kann dieses Niveau nicht auf Null reduziert werden, aber es ist möglich,
einen stetigen Anstieg des Unsicherheitsgrades zu unterbinden.
Auch um Sozialstaatlichkeit
und den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zu bewerkstelligen, bedarf
es der politischen Regulation. Sozialstaatliche Absicherungen haben einen
Preis. Der Grund für die Notwendigkeit dieser Kosten besteht in der
menschlichen Würde eines jeden Gesellschaftsmitgliedes und der Verantwortung
der Gesellschaft für alle Gesellschaftsmitglieder. Den frühen
Liberalen (Jeremy Bentham, 1748 – 1832, und John Stuart Mill, 1806
– 1873), deren Ziel die ständige Verbesserung der gesellschaftlichen
Zustände war, galten das Prinzip der Zusammengehörigkeit und
der gemeinsamen Interessen noch als fundamentale Bestandsbedingungen aller
Gesellschaften. Wenn sie, wie Bentham, als rationales Kriterium zur Beurteilung
von richtigen bzw falschen Handlungen das Prinzip formulierten, diese
müßten zur Verwirklichung des „größten Glücks
der größten Zahl“ taugen, dann deshalb, weil für
sie die Gesellschaft die Summe aller einzelnen, gesellschaftlichen Interessen
war, so dass die einzelnen, gesellschaftlichen Interessen deshalb auch
prinzipiell in Übereinstimmung mit dem Individualinteresse stehen.
Ihr Ziel war die ständige Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände.
Die seit Anfang der
80er Jahre betriebene Beseitigung der externen Kontroll- und Eindämmungsinstrumente
für das Marktgeschehen haben zwar den Druck auf die internen Strukturen
und Instrumente staatlicher Tätigkeit deutlich erhöht: Die Steuerhoheit
der Nationalstaaten wurde durch die Kapitalmobilität unterhöhlt.
Infolgedessen hat mit zunehmender Globalisierung bei abnehmenden Eindämmungsgrad
der Globalisierungeffekte durch die Regulationen der internationalen Ökonomie
die nationalstaatliche Fähigkeit zur Erfüllung des Bedarfs an
Sozialstaatlichkeit abgenommen.
Die Effekte ökonomischer
Globalisierung stellen jedoch keine, durch politische Entscheidungen nicht
beeinflussbare, Sachzwänge dar.
ZB Steuereinnahmen:
Jarass hat dargelegt, dass wegen der ökonomischen Globalisierung
geänderte Steuererhebungsregeln erforderlich sind. Dass die international
agierenden Kapitalgesellschaften in Deutschland nahezu keine Steuern zahlen,
liege nicht an einer schlechten Konjunkturlage, denn den niedrigen oder
ausbleibenden Steuerzahlungen stehe eine Verfünffachung der Dividendenausschüttungen
gegenüber. Es treffe auch nicht zu, dass ein Großteil des Gewinns
im Ausland erwirtschaftet werde. Vielmehr würden in der Summe fast
90 % der ausgewiesenen Konzernergebnisse auf das Inland entfallen. Der
Grund liege vielmehr darin, dass es das Steuerrecht den international
agierenden Kapitalgesellschaften ermöglicht, ihren Gewinn an ihrem,
andernorts, ua in Steueroasen, genommenen, „Sitz“ und nicht
am Ort der inländischen Wertschöpfung, an der Betriebsstätte,
zu besteuern. Die Unternehmens- und Vermögenseinkommen seien im letzten
Jahrzehnt nicht etwa gesunken, sondern nur weniger stark gewachsen. Die
großen Transformationen der letzten Jahrzehnte (die wachsende Globalisierung
von Produktion, Märkten und insbesondere Finanzierung) müßten
deshalb von der Steuerpolitik in Deutschland dergestalt berücksichtigt
werden, dass sie die gesamte inländische Wertschöpfung jeweils
am Sitz der Betriebsstätte besteuern. Das gegenwärtige Steuerrecht
diskriminiere regional orientierte mittelständische Unternehmen,
da inländische Konzerne mit internationaler Orientierung ihre Steuerzahlung
ähnlich niedrig halten können wie ausländische Unternehmen.
Die Besteuerung am Ort der Wertschöpfung sei somit auch ein Beitrag
für einen effizienten und fairen Wettbewerb zwischen Konzernen und
(einheimischem) Mittelstand.
Auch das Maß
der Staatstätigkeit ist kein automatisches Ergebnis scheinbarer Sachzwänge,
sondern Ausdruck gesellschaftlicher Interessen und Kräfteverhältnisse.
Wie insbesondere die institutionalistisch orientierte Forschung hat zeigen
können, sind gesellschaftliche Institutionen und Kräfteverhältnisse
von entscheidender Bedeutung für die Konflikte in dieser Arena.
Fazit: Da der
freie Binnenmarkt, der den Wohlstand einiger enorm vermehrt und vielen
Wohlfahrtsverluste beschert, materieller und immaterieller Art (Angst
essen Seele auf), ein höchst problematisches Konstrukt ist,
darf eine Verfassung für alle BürgerInnen nicht dem status quo,
dem derzeitigen Stand der ökonomischen Globalisierung, Verfassungsrang
verleihen und damit die Problematisierung des status quo als nicht verfassungskonform,
wenn nicht gar als verfassungswidrig diskreditieren.
1998 faßte Josef
Stiglitz als Chefökonom und Vizepräsident der Weltbank die Erfahrungen
mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik dahingehend zusammen, dass es
erstens anzuerkennen gelte, dass Wirtschaftswachstum allein durch makroökonomische
Stabilisierung, Handelsliberalisierung und Privatisierung nicht zu erreichen
sei und dass es zweitens um mehr geht als um Wirtschaftswachstum und die
Steigerung des Bruttosozialprodukts – um verbesserte Gesundheit
und Bildung, die Erhaltung der natürlichen Ressourcen und einer gesunden
Umwelt, eine gerechte und demokratische Entwicklung, „was einschließt,
dass alle Gruppen der Gesellschaft die Früchte der Entwicklung genießen,
nicht nur einige an der Spitze“ (Helsinki-Rede, Blätter für
deutsche und internationale Politik, 1998, 1143 – 1146).
Für solche neue Erfahrungen
muss eine Verfassung zukunftsoffen sein.
hwu, 05.04.05
Literatur:
- Altvater/Mahnkopf, Grenzen
der Globalisierung, 2002
- Brockhaus Enzyklopädie
- Hübner/Petschow, Spiel
mit Grenzen, 2001
- Jarass, Geheimnisse der
Unternehmenssteuern, steigende Dividenden, sinkende Steueraufkommen,
Eine Anlayse der DAX30-Geschäftsberichte 1996 bis 2002 unter Berücksichtigung
der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, 2004
- Pipers, Handbuch der Politischen
Ideen, herausgegeben von Iring Fetcher und Herfried Münkler,
1986, Stichwort "Liberalismus"
- Stiglitz, Information and
Economic, 1993, zitiert nach Hübner/Petschow
- Stiglitz, Die Schatten
der Globalisierung, 2002
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