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No. 1
Dezember 2003


Bewußtseinsdesign im Namen der Exzellenz

Wie man durch die Umstrukturierung der Universitäten das gesellschaftspolitische Bewußtsein der nächsten Generationen plant

Über die gesellschaftspolitischen Ziele
der Bertelsmann-Stiftung




6.2.



Der Arbeitsmarkt

 

 

 

 

 

 

»Weber entdeckte eine entscheidende Grund aporie des Kapitalismus«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

»Der Kapitalismus gleicht also einem Parasit auf dem Sozialkörper«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

»Doch seit den 80er Jahren hat sich die Arbeitsorganisation massiv verändert «

 

 

 

 

 

»Ausbeutung sozialer Eigenschaften«

 

 

 

 

 

»In der Nachkriegszeit erforderten organisatorische Arbeitsprozesse ein Mindestmaß an Autonomie«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

»Wenn soziale Eigenschaften aber genauso ein Rohstoff für die Kapitalakkumulation geworden sind wie beru. iche Quali. kationen, dann kann die Persönlichkeitsbildung nicht mehr allein der Selbstorganisation der Studierenden überlassen bleiben.«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

»Als Faustregel kann also gelten, daß die Ausbeutung sozialer Eigenschaften bei einem Menschen um so leichter fällt, in desto geringerem Maße seine Persönlichkeits struktur ausgebildet ist.«

 

 

 

 

 

 

 

»Macht es wirklich Sinn für ein Unternehmen zu arbeiten, das Klingeltöne herstellt?«

 

 

Am deutlichsten lassen sich die gesellschaftspolitischen Folgen der Pläne des CHE anhand der Ausrichtung des Universitätsstudiums auf den Arbeitsmarkt beurteilen. Der kausale Zusammenhang, der sich hier ergibt, wird nicht direkt durch Nachfrage bedingt. Natürlich kann man darauf verweisen, daß die meisten „think tanks“, die derzeit Konzepte zur Umgestaltung der Universitäten vorlegen und von denen das CHE nur eines unter mehreren ist, häufig von der Wirtschaft finanziert werden. Doch der Zusammenhang zwischen Kapitalinteressen und der kulturellen Reproduktion der Subjekte ist weit komplizierter und kann hier nur teilweise Gegenstand der Analyse sein. Hier soll in erster Linie danach gefragt werden, welcher Subjekttypus, welcher Menschentypus, welche Identität und Form der Lebensführung durch die Ausrichtung des Universitätsstudiums auf den Arbeitsmarkt befördert und welche umgekehrt behindert werden? Und in welcher Weise könnte sich durch die Reform des Universitätsstudiums das Selbstverständnis des einzelnen Menschen und damit das der gesamten Gesellschaft ändern?

Max Weber hatte in seiner berühmten Studie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ ein Phänomen aus dem Arbeitsalltag beschrieben, anhand dessen sich das Verhältnis von Kapitalismus und Gesellschaft gut verstehen läßt. Demnach wurden in der Frühphase des Kapitalismus oft Versuche unternommen, die Wirtschaftsleistung des Arbeiters zu erhöhen, indem man den Akkordlohn anhob. Man hoffte auf diese Weise den meist noch durch eine traditionalistische Kultur geprägten Arbeiter daran zu interessieren, mehr und länger zu arbeiten als bisher. Merkwürdigerweise war der Effekt dieser Maßnahme aber häufig gegenteilig. Die Arbeitsintensität des Arbeiters nahm bei höherem Lohn ab statt zu. Denn dieser nutzte den erhöhten Stundenlohn nicht, um sein Monatseinkommen zu steigern, sondern verwendete ihn vielmehr, um überhaupt insgesamt weniger zu arbeiten.

Daran wird ein grundsätzlicher Widerspruch deutlich, in dem der Kapitalismus zu den Lebensinteressen der Menschen steht. Denn der Kapitalismus muß seiner inhärenten Gesetzmäßigkeit nach immer einen Überschuß über die Sicherung der Grundbedürfnisse hinaus erzielen.

Denn „der Mensch will von Natur nicht Geld und mehr Geld verdienen, sondern einfach leben, so leben wie er zu leben gewohnt ist und soviel erwerben, wie dazu erforderlich ist. Überall, wo der moderne Kapitalismus sein Werk der Steigerung der »Produktivität« der menschlichen Arbeit durch Steigerung ihrer Intensität begann, stieß er auf den unendlich zähen Widerstand dieses Leitmotivs präkapitalistischer wirtschaftlicher Arbeit, und er stößt noch heute überall um so mehr darauf,(16)

als daß die Umerziehung des Menschen zu einem Subjekt, das den Sinn seines Lebens in den Dienst der Gewinnmaximierung stellt, sich nie auf Dauer durchsetzen läßt. Immer wieder ist der moderne Kapitalismus auch in den hochentwickelten technologischen Gesellschaften mit Menschen konfrontiert, die die Arbeit zunächst als ein bloßes Mittel zum Zweck ansehen. Und der Zweck ist die Befriedigung ihrer elementaren Bedürfnisse, ein möglichst hohes Maß an freier Zeit und Vergesellschaftung. Der Kapitalismus gleicht also einem Parasit auf dem Sozialkörper, der diesen zwecks Ausbeutung immer wieder von seinen natürlichen Interessen ablenken muß. Seiner inhärenten Logik zufolge ist sein letzter Zweck nicht das „gute Leben“ oder die Stabilität des Sozialgefüges, sondern die Erwirtschaftung eines Mehrwerts. Auf diese Weise ist der Kapitalismus darauf angewiesen, den Menschen in gewisser Weise umzuerziehen, ihn von den natürlichen Interessen seines Lebens abzulenken. Denn stünden ihm nur Arbeiter zur Verfügung, die ihre Tätigkeit als Mittel zum Zweck betrachteten, käme seine wirtschaftliche Dynamik alsbald zum Erliegen. Seine inhärente Gesetzmäßigkeit erfordert es, daß der Mensch seine Arbeit nicht nur als ein notwendiges Übel ansieht, sondern bereit ist, seine Erwerbstätigkeit selbst zum zentralen und damit identitätsstiftenden Sinn und Zweck seines Lebens zu machen. Denn nur mit Menschen, die bereit sind, eine starke und lebensbestimmende Identifikation mit ihrer Erwerbsarbeit einzugehen, kann das kapitalistische Wirtschaftssystems auf Dauer den Überschuß produzieren, auf dem seine gesamte Dynamik beruht.

Eine solche lebensbestimmende Identifikation mit der Berufstätigkeit war für Max Weber in der protestantischen Ethik bereits lange vor dem Kapitalismus angelegt, weshalb sich der Kapitalismus in England, den USA und den protestantischen Gebieten Deutschlands geradezu explosionsartig entfalten konnte. Im katholischen Italien, Spanien und Lateinamerika hingegen ist bis heute ein traditionelles Verhältnis zur Arbeit vorhanden, wonach man arbeitet um zu leben, nicht aber lebt um zu arbeiten. Und so verwundert es nicht, daß in diesen Regionen der Welt die Korruption zwar sehr leicht, der Kapitalismus dagegen bis heute nur schleppend Fuß fassen konnte und bis heute nicht so erfolgreich ist.

Aus Webers Analyse geht also hervor, daß der Kapitalismus sich erst dann wirklich entwickeln kann, wenn er ein traditionelles Verhältnis zu Arbeit und Lebensführung aufgehoben bzw. zurückgedrängt hat. Was aber bedeutet dies für die Umstrukturierung der Universitäten in Dienstleistungskonzerne? Beförderte etwa die derzeitige Struktur der Universitäten ein traditionelles Verhältnis zu Arbeit und Lebensführung? Schließlich liegt ja der Humboldtschen Idee der Universität ein humanistisches Menschenbild zugrunde. Oberstes Ziel der universitären Bildung war geistige Autonomie. Und auch heute ist das Studium an deutschen Universitäten immer noch so konzipiert, daß jeder Studierende mehr oder weniger solange studieren kann, wie er oder sie es für richtig hält, also das Studium nach Kriterien der Selbstbeziehung gestalten darf. Und der hohe Grad an Selbstorganisation, den das Studium an deutschen Universitäten im Unterschied zum Ausland dem Einzelnen bis heute abverlangt, bringt es mit sich, daß das Studium nicht nur formal mit einer Magister- oder Diplomprüfung beendet wird, sondern darüber hinaus der einzelne Studierenden sich selbständig ein Thema, eine Fragestellung, eine Interessengebiet erschließt, das dann nicht selten für sein gesamtes weiteres geistiges Leben bestimmend bleibt. So ist das Studium in Deutschland zumindest seiner Tradition nach bis heute darauf angelegt, daß der Einzelne sich über eigenständiges Forschen in ein autonomes Verhältnis zur politischen und historischen Wirklichkeit seiner Zeit stellen kann. Bis in die späten neunziger Jahre hinein gab es in geisteswissenschaftlichen Studiengängen keinen vorgegebenen Stundenplan oder Regeln der Anwesenheitspflicht. Erst seit ein paar Jahren wird im Zuge der Einführung von Bachelor und Master eine systematische Verschulung des geisteswissenschaftlichen Studiums durchgeführt, was mit strengen Reglementierung der Wahl und Aneignung von Lerninhalten einhergeht. Die heute so verbreitete Vorstellung, auch soziale Interaktion einem Rationalisierungsprozeß unterziehen und dementsprechend Lerninhalte messen zu können, dürfte zu einer dramatischen Verschlimmbesserung der heutigen Zustände führen. Tiefes inhaltliches Verstehen, die dauerhafte und bleibende Aneignung geisteswissenschaftlicher Zusammenhänge braucht nun einmal Zeit.

Und ein von Klausuren, Evaluationen und Anwesenheitspflichten strukturiertes Studium dürfte das denkbar wirkungsvollste Mittel sein, solche Formen des Lernens zu verhindern.

Nichtsdestotrotz bleibt zu Fragen, warum die unverschulte Form des Studiums sich fast bis in die Gegenwart hat halten können? Offenbar hat die dabei erworbene Befähigung, selbständig Themen aufzugreifen und Identifikationen einzugehen, lange Zeit nicht im grundsätzlichen Widerspruch zum kapitalistischen Geist gestanden, wie Weber ihn versteht. Und in der Tat hatte die deutsche Wirtschaft gerade in der Aufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg einen hohen Bedarf an überdurchschnittlich gebildeten Menschen. Noch bis in die achtziger Jahre versuchte man durch den Ausbau der Universitäten und durch universitäre Neugründungen – durchaus mit volkswirtschaftlichem Kalkül – „Bildungsreserven auszuschöpfen“. Auch heute klagt die Wirtschaft regelmäßig über den Mangel an qualifizierten Kräften. Und doch wird die Selbstorganisation des Studiums in Deutschland plötzlich als innovationsfeindlicher Nachteil wahrgenommen. Was hat sich seitdem geändert?

Bis in die achtziger Jahre hinein herrschte in der Wirtschaft eine Arbeitsorganisation vor, die es in der Regel mit sich brachte, daß man mit seiner Anstellung eine Karriere innerhalb eines Unternehmens begann und lebenslang Mitglied eines Konzerns oder einer Firma blieb. Oft folgte dabei der berufliche Aufstieg bestimmten Normen und Vorgaben. So bekam man beispielsweise mit steigendem Alter automatisch auch ein höheres Gehalt.

Die Qualifikationen, nach denen man eingestellt, bezahlt und befördert wurde, ließen sich an objektiven Kriterien wie Abitur, Universitätsabschluß, Doktortitel, etc. messen. Flächendeckende Tarifverträge und ein durch sie erzieltes Gleichgewicht zwischen Gewerkschafts- und Unternehmerinteressen sorgten für die Vergleichbarkeit der Entlohnung einer beruflichen Tätigkeit zwischen unterschiedlichen Regionen und Unternehmen. Die gesamte Arbeitsorganisation zielte bis in die achtziger Jahre hinein darauf ab, das Verhältnis zwischen Unternehmen und Angestellten zu verobjektivieren. Die finanzielle Entlohnung eines Angestellten nach objektiven Kriterien wie Abitur, Hochschulabschluß usw. ermöglichte es zudem, eine größtmögliche Trennung zwischen beruflicher Qualifikation und privater Persönlichkeitsbildung zu gewährleisten. Aufgrund dieser Trennung von Berufssphäre und Privatsphäre stand diese Form der Arbeitsorganisation grundsätzlich nicht in einem Widerspruch zu einem Hochschulstudium, das neben beruflichen Qualifikationen auch politische Aufklärung und eine der Persönlichkeitsbildung dienende Selbstorganisation des Studiums zuließ.

Doch seit den späten achtziger und in den gesamten neunziger Jahren hat sich die Arbeitsorganisation in der Wirtschaft grundlegend geändert. Während die einfache industrielle Arbeit zunehmend nach Osteuropa oder in die Dritte Welt ausgelagert wird, sind für höhere organisatorische und kreative Tätigkeiten neue Beschäftigungsverhältnisse entstanden. Der flächendeckende Tarifvertrag und objektivierbare Maßstäbe, nach denen Mitarbeiter angeworben und befördert werden, sind auf diese Weise nach und nach ausgehöhlt worden. Die Anstellung von Arbeitern und Angestellten erfolgt heute in der Regel nur noch befristet. Niemand kann mehr damit rechnen, in dem Unternehmen, welches ihn eingestellt hat, eine lebenslange Karriere zu machen. Die gesamte Arbeitsorganisation, die sich gegenwärtig etabliert, bietet nur noch für befristete Zeiträume Sicherheit. Die Menschen werden immer häufiger lediglich zur Bewältigung einzelner Projekte angeworben, mit deren Beendigung auch ihr Arbeitsverhältnis endet. Gleichzeitig ist die Hierarchie in den Unternehmen deutlich flacher geworden. Zwischenmenschliche Vertrauensverhältnisse sind an die Stelle hierarchischer Befehlsketten getreten. Die vertraglich geregelten Kriterien, nach denen früher Menschen eingestellt wurden, sind dementsprechend auch zunehmend durch networking ersetzt worden. Für das berufliche Fortkommen wird es immer wichtiger, wen man kennt und welche Kontakte man zu knüpfen imstande ist. Um Teil eines „Netzwerkes“ zu werden, in welchem ein berufliches Fortkommen möglich ist, ist es aber notwendig, wiederum an Projekten mitzuarbeiten und bei der Bewältigung der gestellten Aufgaben zudem noch durch besonderes Engagement und Identifikationsbereitschaft aufzufallen.

In gewisser Weise läuft diese neue Form der Arbeitsorganisation auf eine permanente organisierte Unsicherheit hinaus, die den einzelnen aufgrund der befristeten Arbeitsverhältnisse stets zu maximaler Selbstausbeutung antreibt, um so nach Beendigung des Projekts eine erneute Anstellung wahrscheinlicher zu machen. Da für das berufliche Fortkommen zunehmend networking und damit soziale Eigenschaften, wie Kontaktfreude, Sympathie, Ausstrahlung, Aussehen und Selbstbewußtsein wichtig werden, ist die für die Arbeitsorganisation der Nachkriegszeit typische Trennung von Berufssphäre und Privatsphäre quasi aufgehoben.(17)

War früher das Verhältnis zwischen dem Chef und dem Angestellten vertraglich bis zur Höhe der Bezahlung und der zustehenden Urlaubstage geregelt, so beruht der neue Typus der Arbeitsorganisation auf teamworking und flachen Hierarchien. Man ist mit seinem Chef quasi befreundet, feiert zusammen Partys und wird zu einem neuen Arbeitsverhältnis auch manchmal nur per Handschlag verpflichtet. Auf diese Weise gerät man in die Situation, seinem Chef oder Mitarbeitern nichts abschlagen zu können, auf seine Rechte und Ansprüche um der lieben Freundschaft willen großzügig zu verzichten, da man die Erwartungen nicht enttäuschen möchte, die einem der Vorgesetzte und die übrigen Mitarbeiter als sozial nahestehende Menschen entgegenbringen. Durch diese neue Form der Arbeitsorganisation läßt sich insofern die Profitrate dramatisch erhöhen, als daß auf diese Weise ein Engagement der Mitarbeiter freigesetzt werden kann, das früher einzig und allein für die Familie und die Privatsphäre kennzeichnend war. Die Tücke dieser neuen Organisationsstrukturen, die gewissermaßen im Gewande der Liberalisierung und Auflösung starrer Strukturen etabliert worden sind, besteht in der Ausbeutung sozialer Eigenschaften. Tugenden, wie zwischenmenschliche Verbindlichkeit, Vertrauen oder die Fähigkeit, in anderen Menschen Sympathie und Wohlwollen zu wecken, werden plötzlich gezielt und geplant in die Kapitalakkumulation einbezogen. Der Arbeiter oder Angestellte, der sich selbst als Ware auf dem Arbeitsmarkt feilbieten muß, muß seinen Warenwert nun nicht nur allein anhand erworbener beruflicher Qualifikationen unter Beweis stellen. Sondern darüber hinaus werden auch sein Alter und Geschlecht, sein Aussehen und seine Ausstrahlung, sein Lebenslauf und seine Weltanschauung unmittelbar in den Preis mit einbezogen, den seine Arbeitskraft als Ware auf dem Arbeitsmarkt erzielt.

Insofern es in der Arbeitsorganisation der Gegenwart gar nicht mehr allein die Arbeitskraft ist, die ausgebeutet wird, sondern darüber hinaus auch zunehmend soziale Eigenschaften, ja die gesamte Persönlichkeitsstruktur eines Menschen, kann auch das Studium aus der Perspektive des Kapitalismus nicht mehr anhand der Humboldtschen Universitätsidee gestaltet werden. Denn diese hatte ja die Persönlichkeitsbildung dem Studierenden insofern selbst überlassen, als daß dieser die Dauer und Organisation seines Studiums weitgehend selbst bestimmen konnte und so Freiraum für die Ausbildung eigenständiger Interessen hatte. Wenn soziale Eigenschaften aber genauso ein Rohstoff für die Kapitalakkumulation geworden sind wie berufliche Qualifikationen, dann kann die Persönlichkeitsbildung, die innerhalb eines Studiums erfolgt, nicht mehr allein der Selbstorganisation der Studenten überlassen bleiben. Während von den fünfziger bis in die achtziger Jahre hinein durch die Trennung von Berufssphäre und Privatsphäre der geistige Horizont und die Weltanschauung eines Mitarbeiters dem Unternehmen mehr oder weniger egal waren, so müssen sich in der neuen Form der Arbeitsorganisation auch diese Eigenschaften den Unternehmensinteressen unterordnen bzw. anpassen. Und zwar nicht im Sinne einer Autorität, die bestimmte Meinungen und Anschauungen verbieten würde, sondern vielmehr durch die Etablierung eines Zwangs zur Vergesellschaftung innerhalb des Arbeitsteams, das eine bestimmte Form von Individualismus und geistiger Autonomie von vornherein ausschließt.

Nun versteht sich von selbst, daß diese neue Form der Ausbeutung sozialer Eigenschaften nicht bei jedem Menschen gleichermaßen erfolgversprechend ist. Denn ein Mensch, der eine Scheinfreundschaft mit seinem Chef eingeht und sich durch ein Vertrauensverhältnis binden läßt, darf dafür weder zu alt sein noch sollte er über eine allzu gefestigte Persönlichkeitsstruktur verfügen. Denn jemand, dessen Identitäts-entwicklung zum Abschluß gekommen ist, der also weiß, wer er ist und was er im Leben möchte, wird sich schwer durch vermeintliche Vertrauensverhältnisse und sozialen Druck des Arbeitsteams in ein Abhängigkeitsverhältnis begeben, welches ihn zur maximalen Identifikation mit dem Inhalt eines Projekts nötigt. Als Faustregel kann also gelten, daß die Ausbeutung sozialer Eigenschaften bei einem Menschen um so leichter fällt, in desto geringerem Maße seine Persönlichkeitsstruktur ausgebildet ist. Je weniger die Identität des Menschen gefestigt ist, in desto größerem Maße fühlt er sich verpflichtet, an ihn gerichtete Erwartungen zu erfüllen und desto wichtiger ist es für ihn, innerhalb eines Arbeitsteams Anerkennung zu bekommen.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum das in Deutschland etablierte und auf Selbstorganisation und Persönlichkeitsbildung hin ausgelegte Universitätsstudium mit den neuen Arbeitsformen unvereinbar ist. Denn ein Mensch, der bis zu seinem 28. oder 30. Lebensjahr intensiv studiert hat, sich dabei mit politischer Theorie, kritischer Wissenschaft und mit Fragen der Kunst und Philosophie auseinandergesetzt hat, wäre denkbar ungeeignet, um eine Identifikation mit einem meist sinnlosen Projekt einzugehen. Die Forderungen des CHE, das Abitur bereits mit 17 bis 18 Jahren zu absolvieren, um dann mit 21 oder spätestens mit 23 Jahren die Universität mit einem Bachelor-Abschluß wieder zu verlassen, bekommt plötzlich einen tieferen Sinn. Denn ein Bachelorstudiengang, der durch seine verschulte Organisation im wesentlichen eine Fortsetzung der Schule darstellt, wäre nämlich geeignet, Menschen hervorzubringen, deren Reflexionen weder zu einem politischen Überblick noch zu einer tieferen Einsicht in die eigentlichen Intentionen ihrer Lebensplanung gelangt sind und deren Identität infolgedessen schwach genug wäre, um eine 150 % Identifikation mit einem Projekt und ihrem Arbeitsteam einzugehen. Denn im Alter von 21 bis 22 Jahren ist die Identität eines Menschen in den meisten Fällen noch nicht voll ausgebildet und in diesem Sinne nach den Maßgaben der Erwerbsarbeit besonders nachhaltig formbar.

Die Umerziehung des Menschen, die Max Weber dem Kapitalismus noch am Beispiel der Akkordlöhne als Wesenszug nachgewiesen hatte, hat sich seit der Analyse Webers tiefgreifend verfeinert. Sicherlich sind die neuen Formen der Ausbeutung sozialer Eigenschaften aber auch eine Reaktion darauf, daß die Motivation der Menschen, ausschließlich für ihren Beruf zu leben, in den letzten Jahrzehnten nachgelassen hat. Und dies nicht zuletzt deshalb, weil der Wohlstand der Nachkriegszeit neue Formen der Lebensführung mit sich brachte. Sondern auch, weil die neuen Produkte und Marktnischen, auf deren Produktion und Erschließung das Wachstum der letzten 20 Jahre vorrangig basierte, mit nüchternem Blick immer sinnloser erscheinen. Mit dem Aufbau der zerstörten Städte nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich jeder Mensch unmittelbar identifizieren. Doch seit 20 Jahren leben wir in einem Wirtschaftssystem, indem alles im Überfluß vorhanden ist. Welchen Sinn macht es, zu den 83 Fruchtsaftgetränken, die grob geschätzt derzeit auf dem Markt sind, ein 84. hinzuzufügen. Selbstverständlich gibt es sinnvolle Tätigkeiten. Aber der Anteil an wirklich wichtigen und unentbehrlichen Produkten am Wirtschaftswachstum nimmt kontinuierlich ab. Der Kapitalismus hat einen Entwicklungsgrad erreicht, in dem alles Wesentliche vorhanden ist und die fortgesetzte Steigerung der Produktivität darauf verwendet werden könnte, die Arbeitszeit insgesamt deutlich zu kürzen und so Freiräume für eine Kultur jenseits der Arbeit und auch jenseits des Konsums zu schaffen.

Doch statt dessen folgt die Volkswirtschaftslehre der weltfremden Annahme die Konsumbedürfnisse der Menschen ließen sich bis ins Unendliche steigern. Und so wird die kontinuierliche Anhebung der Produktivität darauf verwendet immer unsinnigere Produkte und Dienstleistungen zu erfinden. Der Aufbau eines zerstörten Landes mochte jedem arbeitenden Menschen noch sinnvoll erscheinen, doch welchen Sinn hat die Etablierung der 30. oder 40. Frauenzeitschrift? Welche Lebensrechtfertigung kann ein Werbetexter in seiner Arbeit sehen? Macht es wirklich Sinn für ein Unternehmen zu arbeiten, das Klingeltöne herstellt? Die Entwicklung neuer Medikamente mag in einigen Fällen eine sinnvolle Tätigkeit darstellen, doch wie sinnvoll ist es, wenn ein Mensch seine Lebenszeit darauf verwendet, eine Marke zum Label aufzubauen. Hat es denn die Menschheit wirklich weiter gebracht, wenn ein bis dahin unbekannter Firmenschriftzug sich schließlich durch massive Werbung in das Gedächtnis der Menschen eingeprägt hat und infolgedessen der Börsenwert des Unternehmens steigt? Es hilft alles nichts! Man muß einfach konstatieren, daß ein immer größerer Anteil der geleisteten Arbeit im gegenwärtigen Stadium des Kapitalismus von akuter Sinnlosigkeit bedroht ist. Immer weniger Menschen haben in ihrem Leben das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, die Gewißheit, daß ihre Arbeit für das Gemeinwohl wichtig ist. Selbstverständlich schlägt sich das dämpfend auf die Arbeitsmotivation nieder. Und die neuen Formen der Arbeitsorganisation, die allesamt versuchen, den Menschen durch Vertrauensverhältnisse und soziale Bindungen innerhalb des Arbeitsteams dazu zu bringen eine Identifikation mit einer meist sinnlosen Tätigkeit einzugehen, sind gewissermaßen Reaktionen darauf, daß sich die Arbeit im postindustriellen Kapitalismus nicht mehr von selbst versteht, weil sie sich sowohl praktisch als auch der Idee nach immer weiter von einem gesamtgesellschaftlichen Fortschrittsglauben abgekoppelt hat. Und dieser Bankrott aller Fortschrittsutopien dürfte vielleicht auch der heimliche Grund dafür sein, daß der Neoliberalismus im wesentlichen mit den Mitteln der Krisenbeschwörung seine Gefolgschaft mobilisiert.

Doch auch dieses Problem wird durch die Umstrukturierung der Universitäten nach den Vorstellungen des CHE gleich mitgelöst. Denn eine durch Einführung des Bachelors bewirkte Absenkung des Bildungsniveaus könnte auch in Zukunft den Kapitalismus davor schützen, daß ihm die Frage nach dem Sinn seines rein technologischen Fortschritts, auf die er nicht zu antworten weiß, gestellt wird. Auf diese Weise schafft sich der Neoliberalismus die Gesellschaft, der er zu seiner illegitimen Fortexistenz bedarf.

6.3. Der Forschungsmarkt



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Dezember 2003

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