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Atomausstieg
Der ermüdende Stuhltanz um das Abschalten der deutschen Atomkraftwerke
(AKW) und den Ausstieg aus der Kernenergie droht schon bald zu einem neuen
Kapitel politischer Handlungsbeschränktheit und damit zur großen
Wählerenttäuschung zu werden. Während man im Bundesumweltministerium
mit allen denkbaren Mitteln nach dem richtigen Notausgang sucht, drohen
die BetreiberInnen der AKWs, die Bundesregierung bei einem gesetzlich
erzwungenen Ausstieg aus der Kernenergie auf bis zu 50 Milliarden Mark
zu verklagen.1 Darüber hinaus
kündigte der Chef des Bayernwerks, Otto Majewski, eine Klage vor
dem Verfassungsgericht an.2 Selbst
Prof. Dr. Rudolf Steinberg, Atomgutachter für rot-grüne und
SPD-geführte Landesregierungen, warnte vor einem Rechtsstreit mit
der Nuklearwirtschaft. "Nur für Juristen", so der Frankfurter
Staatsrechtler, "wären das herrliche Zeiten."3
Wege zum Ausstieg
Grundsätzlich lassen sich zwei Wege unterscheiden, auf denen die
Bundesregierung den Ausstieg angehen könnte: den administrativen
de lege lata, also mittels ausstiegsorientierter Ausschöpfung der
Handlungsspielräume des geltenden Rechts, und den legislativen de
lege ferenda. Die Anwendung beider Möglichkeiten legitimiert sich
durch das in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verankerte Grundrecht auf Leben und
körperliche Unversehrtheit sowie die in Art. 20a GG festgeschriebene
Pflicht des Staates, in Verantwortung für die künftigen Generationen
auch die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen.
Verfassungsmäßig ist der Staat nicht nur verpflichtet, jegliche
Verletzung in die Schutzgüter des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu unterlassen,
sondern sich auch schützend und fördernd vor sie zu stellen,
um sie insbesondere vor Gefährdungen durch Dritte zu bewahren. Daher
sollte angesichts der Art und Schwere der Gefahren und Risiken, wie sie
von der "friedlichen Nutzung der Kernenergie" ausgehen, bereits
die "entfernteste Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts genügen,
um die Schutzpflicht auch des Gesetzgebers konkret auszulösen."4
Der oder die einzelne hat keine Möglichkeit, sich der Gefahrenquelle
zu entziehen oder sich anderweitig selbst zu schützen, weshalb die
Betreibung von AKWs doch eigentlich nur dann mit dem GG zu vereinbaren
ist, wenn die Möglichkeit des Schadeneintritts praktisch ausgeschlossen
werden kann.
Die Tatsache, dass dennoch 19 AKWs in Deutschland strahlen dürfen,
begründet sich aus dem am Maßstab der "praktischen Vernunft"
orientierten Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit. Damit
ist Raum für Kosten-Nutzen- und Wirtschaftlichkeitsanalysen geschaffen,
welche diejenigen Risiken, deren weitere Minimierung unverhältnismäßig
wäre, als Restrisiko von jedem einzelnen hingenommen werden müssen.5
Der administrative Weg
Der administrative Ausstieg erscheint angesichts der verfahrenen Atomkonsensgespräche
und dem gesetzgeberischen Willen zum schnellen und unwiderruflichen Atomverzicht,
der ohne gesetzliche Neuregelung kaum auskommen wird, auf lange Sicht
als uneffektiv. Er ist aber zu beschreiten, solange es um die Stillegung
einzelner AKWs geht. Hierfür sind die bei Inbetriebnahme des Meilers
erteilten Genehmigungen zurückzunehmen oder zu widerrufen, wie es
in § 17 Abs. 2 bis 5 AtomG speziell und abschließend geregelt
ist. Danach kann eine Genehmigung u.a. zurückgenommen werden, "wenn
eine ihrer Voraussetzungen bei der Erteilung nicht vorgelegen hat"
6 (sei es auch nur durch das Vorliegen eines erkennbaren anfänglichen
Mangels) oder "wenn dies wegen einer erheblichen Gefährdung
der Beschäftigten, Dritter oder der Allgemeinheit erforderlich ist
und nicht durch nachträgliche Auflagen in angemessener Zeit Abhilfe
geschaffen werden kann."7
Auf dieser Grundlage wäre ein Widerruf gem. §17 Abs. 5 AtomG
für das AKW Stade denkbar, an dessen Reaktorbehälter nach einer
Untersuchung des "Bundes für Umwelt und Naturschutz" (BUND)
gefährliche Versprödungen nachgewiesen werden konnten. Angesichts
des fortgeschrittenen Alters dieses Meilers wäre eine Nachrüstung
solchen Umfangs kaum rentabel. Auch dem dienstältesten AKW Obrigheim
könnte gem. § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG ein ähnliches
Schicksal ereilen, da dessen Notkühlsysteme nicht adäquat auf
einen Bruch der Hauptkühlmittelleitung reagieren können.8
Eine weitere Angriffsfläche bietet die Pflicht der BetreiberInnen
zur Entsorgung radioaktiver Abfälle. Denn da die Sicherstellung der
schadlosen Verwertung oder Beseitigung der anfallenden radioaktiven Reststoffe
durch Endlagerung in angemessener Frist offensichtlich nicht garantiert
werden kann,9 käme ein Genehmigungswiderruf
nach § 17 Abs. 3 Nr. 2 AtomG in Frage. Zudem ist ein gefahrloser
Transport der rückständigen Brennelemente nach den Erfahrungen
der letzten 12 Jahre keineswegs gewährleistet. Dies ergibt sich weniger
aus den zahlreichen Protestaktionen als viel mehr aus der erwiesenermaßen
bewußten Inkaufnahme von Conterminationen an Castorbehältern
bei deren Verlassen der AKWs.10
Im Falle einer Rücknahme bzw. eines Widerrufs müssen dem oder
der berechtigten BetreiberIn gem. § 18 Abs. 1 AtomG angemessene
Entschädigungsgelder gezahlt werden, sofern nicht die im Abs. 2 genannten
Ausnahmen vorliegen. Danach ist eine Entschädigung ausgeschlossen,
wenn die Gefahr nachträglich eingetreten und in der genehmigten Anlage
oder Tätigkeit begründet ist. Bei nachträglichen Änderungen
des Standes von Wissenschaft und Technik ist zu differenzieren, ob es
sich um eine Neuentdeckung oder lediglich um eine Neubewertung längst
bekannter Gefahrenquellen handelt.
Lag die Gefahrenursache nämlich bereits anfänglich vor und
war dies für die Genehmigungsbehörde erkennbar, kann der oder
die BetreiberIn grundsätzlich eine Entschädigung verlangen.
War die Gefahrenquelle aber zum Zeitpunkt der Antragsprüfung unter
Berücksichtigung sämtlicher Erkenntnismöglichkeiten für
die Behörde nicht erkennbar, trägt der oder die AntragstellerIn
das volle Risiko, wenn sich die Anlage im nachhinein doch als gefährlich
erweist.
Betrachtet man nun die durch die Wissenschaft völlig neueingestuften
Gefahren der Niedrigstrahlung und vergleicht man die Gefährdung,
die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik im Zeitpunkt der Erteilung
der Betriebsgenehmigungen zugrunde gelegt wurde, mit jener, die nach heutigem
Erkenntnisstand allein von dem unlösbaren Problem der Endlagerung
radioaktiver Rückstände ausgeht, so lässt sich die Frage
stellen, ob dies nicht über eine bloße Neubewertung bekannter
Risiken hinausgeht und als nachträglich eingetretene, erhebliche
Gefährdung einen entschädigungsfreien Widerruf nach § 18
Abs. 2 Nr. 3 AtomG legitimiert.
Zwar billigt das BVerfG "die normative Grundsatzentscheidung für
oder gegen die rechtliche Zulässigkeit der friedlichen Nutzung der
Kernenergie" allein dem Gesetzgeber zu,11
aber mit der Verabschiedung des AtomG hat er in der Vergangenheit gerade
diese Entscheidung eindeutig zugunsten der Atomenergie gefällt. Daher
wäre die Umsetzung politischer Zielvorgaben zum administrativen Ausstieg
mittels ausstiegsorientierter Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe oder
einseitiger Ermessensausübung mit dem Sinn und Zweck des AtomG nicht
vereinbar und verstieße daher gegen den in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten
Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Ein Totalausstieg
aus der Kernenergie ist auf diesem Wege auch deswegen nicht realisierbar,
weil ein Verstoß gegen den o.g. Grundsatzentscheid des Gesetzgebers
rechtswidrig wäre.
Der legislative Weg
Die Zulässigkeit normativer Änderung mit dem Ziel des Ausstiegs
aus der Kernenergie ergibt sich sowohl aus dem oben zitierten Kalkar-Urteil
des BVerfG als auch aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11a GG, welcher die Grundsatzentscheidung
zum Gegenstand konkurrierender Gesetzgebung erklärt. Der Kern eines
entsprechenden Gesetzes beträfe die nachträgliche Befristung
der Betriebserlaubnis von AKWs. Das erhebliche Gefährdungspotential
der Technologie, das denkbare Versagen von Schutzmaßnahmen und die
ungeklärte Entsorgungsfrage müssen allerdings der verfassungsrechtlichen
Prüfung standhalten, ob die ursprüngliche Entscheidung auch
unter den veränderten Umständen aufrechterhalten werden kann
oder ob das mit dem Ausstieg verfolgte Interesse überwiegt.
Danach richten sich auch die von den KernkraftwerksbetreiberInnen aus
dem rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes geltend gemachten
Entschädigungsansprüche. Um das einseitige staatliche Handeln
in mehrpoligen Rechtsverhältnissen zu unterbinden, hat die Gesetzgebung
ein Mindestmaß an Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit einzuhalten.
Dies muss insbesondere dann gelten, wenn die Gesetze darauf angelegt sind,
Entscheidungen, Dispositionen und letztlich auch Investitionen herbeizuführen.
Dabei muss jedoch eine weitgehende Rücksicht auf das öffentliche
Interesse gewahrt bleiben. So stellt sich denn erneut die Frage, ob das
Vertrauen auf bereits getroffene Dispositionen schutzwürdiger erscheint,
als der verfassungsmäßig geforderte Schutz von Leben und körperlicher
Unversehrtheit.
Der einzig optimale Schutz vor den Risiken der Kernenergie wäre
die sofortige Abschaltung aller AKWs. Dennoch kann der Gesetzgeber gezwungen
werden, den durch die vorzeitige Beendigung der Kernenergienutzung entstandenen
Vertrauensschaden durch angemessene Übergangsregelungen, Härteklauseln
oder Vorschriften zum finanziellen Ausgleich abzumildern. Unter diesen
Voraussetzungen erschiene der gesetzliche angeordnete Ausstieg aber erst
dann angemessen, wenn die Kernkraftwerke sukzessive ihrem Alter und den
Sicherheitsstandards entsprechend vom Netz genommen werden würden.
Genau darauf spekulieren die BetreiberInnen, wenn sie unter Androhung
horrender Entschädigungsforderungen auf die profitable Abschreibung
ihrer unbefristet genehmigten Werke über weitere 35 Jahre hinweg
gieren.
Dabei ist ernsthaft daran zu zweifeln, dass die BetreiberInnen bei konsequenter
Anwendung der Schutzbestimmungen und ohne die bislang großzügig
verteilten Subventionen überhaupt ein begründbares Interesse
am Fortbestand der Betriebsgenehmigung haben können. "Selbst
die unbestreitbar enormen Einnahmen schrumpfen bei einer Totalgewinnberechnung
für die jeweilig vorstellbaren Restlaufzeiten hinweg, wenn berücksichtigt
wird, dass die Betreiber(Innen) auch die Kosten für die Endlagerung
der radioaktiven Rest- bzw. Abfallstoffe im Ergebnis selbst finanzieren
müssen."12
Letztlich sind bei einem Rückzug aus der internationalen Plutoniumwirtschaft
auch die aus den mit Frankreich und Großbritannien geschlossenen
Verträgen zur Wiederaufbereitung abgebrannter Brennelemente erklärten
Entschädigungsansprüche von über 3,5 Milliarden DM13
hinfällig. Das ergibt sich aus der vertragsmäßigen Garantie,
dass jede Vertragspartei von der Verantwortlichkeit für die Folgen
von Vertragsstörungen freigesprochen wird, wenn diese durch Gründe
wie z.B. Gesetze oder Beschränkungen durch die Regierung entstanden
ist.14 Das ermöglicht ein
schadensersatzfreies Verbot der Wiederaufarbeitung.
Schlußbetrachtungen
Wie auch immer dieser Stuhltanz entschieden wird und wer letztendlich
wem die Legitimation unter dem Hintern wegzieht, bleibt abzuwarten, auch
wenn nach den BVerfGE der Vergangenheit die Drohgebärden der Atomlobby
mehr sein dürften als nur heiße Luft. Denn gerade die durch
den Ausstieg berührten Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 S. 1 und 14
Abs. 1 S. 1 GG haben die BetreiberInnen in eine Lage versetzt, aus der
das erfolgreiche Einklagen von Entschädigungen lohnenswerter erscheinen
könnte als der Weiterbetrieb.
Es ist durchaus anzunehmen, dass sie bei optimaler Anwendung des administrativen
Weges um einiges von ihren Forderungen abgerückt wären, wenn
nämlich die notwendigen Investitionen zur Einhaltung der Schutzbestimmungen,
die unter den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen hätten erweitert
werden können, den Reinertrag der AKWs überstiegen. Zumal die
massiven staatlichen Subventionen für die Kerntechnologie bereits
entfallen sind. Die Ankündigung des Umweltministeriums, dass spätestens
2004 an allen Meilern neue Zwischenlager für verbrauchte Brennelemente
stehen müssen, ist ein Schritt in die richtige Richtung.15
Außerdem gilt der Vertrauensschutz nur für bereits errichtete
und in Betrieb befindliche Anlagen, weswegen ein Verbot des Neubaus von
AKWs möglich ist.
Diese Art des ökonomischen Atomausstiegs hätte u.U. nicht länger
gedauert, als die versuchte. Dennoch bleiben Zweifel an der Glaubwürdigkeit
des Ausstiegsvorhabens. Aus dem Sozialstaatsprinzip und der Pflicht zur
Herstellung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ergibt sich die
Garantiestellung des Staates für eine ausreichende Versorgung der
Bevölkerung und der Industrie mit Elektrizität. Da der Rückgang
der Kohleenergie in den Abdeckgebieten der Kernkraftwerke stark vorangeschritten
ist und alternative Energiequellen durch die massive, einseitige Subventionierung
der Kernenergie nur unzureichend aufgebaut wurden, bleibt der Import von
Atomstrom aus anderen EU-Mitgliedsstaaten zunächst unvermeidlich.
Dazu kommt das Vorhaben der Bundesregierung, die CO2-Belastung
zu halbieren, an deren Entstehung die Kohleenergie keinen unwesentlichen
Anteil hat. In wie weit kann also überhaupt von einem wirklichen
Verzicht kerntechnisch erzeugten Stroms ausgegangen werden?
Die Bemühungen um den Atomausstieg in Deutschland verfolgen bei
aller Kritik an der Art und Weise ihrer Abwicklung dennoch das richtiges
Ziel. Sollte sich die Bundesrepublik hier als Vorreiter erweisen, ist
zu hoffen, dass andere EU-Staaten dem deutschen Beispiel auf geeigneterem
Wege nachfolgen werden.
Michael Plöse
-
Welt am Sonntag, 20.11.1999 zurück
-
Berliner Zeitung, 15.11.1999 zurück
-
Der Spiegel, 44/1998, S. 126 zurück
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BVerfGE 49, 89 (142) - Kalkar I zurück
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BVerfGE 49, 89 (137,141)-Kalkar I zurück
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§ 17 Abs. 2 AtomG zurück
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§ 17 Abs. 5 AtomG zurück
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Neues Deutschland, 4./5. 12. 1999 zurück
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§ 9 a AtomG zurück
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Klaus Beer, Ermutigung zum Einstieg in
den Ausstieg aus der Atomenergie, in Betrifft JUSTIZ Nr. 56, Dezember
1998, S. 349 zurück
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BVerfGE 49, 89 (127) - Kalkar I zurück
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Klaus Beer, Ermutigung zum Einstieg in
den Ausstieg aus der Atomenergie, in Betrifft JUSTIZ Nr. 56, Dezember
1998, S. 349 zurück
-
Der Spiegel, 44/1998, S. 124 zurück
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taz, 25. 1. 1999 zurück
-
Der Spiegel, 25/1999, S. 99 f. zurück
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