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Zur Pflichtvergessenheit "unserer"
Polizei
"Unsere" Polizei ist immer wieder Gegenstand heftiger Diskussionen.
Worum es auch immer geht, ein beliebter Hinweis der Polizei ist stets:
wir tun doch nur unsere Pflicht. Doch wissen "unsere" pflichtbewussten
"Ordnungshüter" eigentlich, welche Pflichten sie haben
und welche Pflichten sie sich nur einbilden? In diesem Artikel soll es
um eine unter PolizeibeamtInnen eher unbekannte bzw. ignorierte Pflicht
gehen - die Remonstrationspflicht.
Die Remonstrationspflicht
Eine wesentliche Pflicht der BeamtInnen ist die Treuepflicht gegenüber
ihren Dienstherren. Diese Treuepflicht beinhaltet auch die Verpflichtung,
Schaden vom Dienstherrn abzuwenden. Wenn der Dienstherr oder die Vorgesetzte
nun eine Weisung erteilt, gegen die der oder die Beamte Bedenken (im Sinne
von "Gewissensbissen") hinsichtlich der Rechtmäßigkeit
hat, so ist er oder sie verpflichtet, diese Bedenken unverzüglich
auf dem Dienstwege geltend zu machen (§ 38 II 1 BRRG; § 56
II 1 BBG; § 22 II 1 LBG Berlin). Das deutsche Beamtenrecht ist
also keineswegs auf stupide Untergebenheit der BeamtInnen gegenüber
ihren Dienstherren gerichtet. Vielmehr wird die Pflicht zum Gehorsam durch
die Remonstrationspflicht qualifiziert, wobei die Betonung auf Pflicht
liegen muss - Es liegt nicht im Belieben der BeamtInnen zu remonstrieren!
Wenn
trotz einer Remonstration die Weisung bestätigt wird, so müssen
die BeamtInnen dieser Weisung grundsätzlich folge leisten. Nur in
Ausnahmefällen dürfen die BeamtInnen den Gehorsam weiter verweigern.
Nämlich wenn die Befolgung der Weisung erkennbar (im Sinne von offensichtlich)
strafbar oder ordnungswidrig ist oder einen Verstoß gegen die Menschenwürde
darstellt (§ 38 II 2 BRRG; § 56 II 2 BBG; § 22
II 2 LBG Berlin). Liegt die Rechtswidrigkeit der Weisung "auf der
Hand", so werden die BeamtInnen strafrechtlich voll verantwortlich,
wenn sie die Weisung dennoch ausführen. Liegt die Rechtswidrigkeit
nicht "auf der Hand", so liegt die Befreiung von der Verantwortlichkeit
der BeamtInnen in der Remonstration.
Die Remonstrationspflicht bezieht sich aber, nach herrschender Meinung,
lediglich auf Anweisungen, also befohlene Gesetzesverstöße.
Dagegen bezieht sie sich nicht auf verfassungswidrige Gesetzesnormen und
erkennbar verfassungswidriges Verwaltungshandeln. Der Wortlaut der Beamtengesetze
sieht Ausnahmen von der Gehorsamspflicht nur bei den oben genannten Voraussetzungen
vor.
Dagegen wird aber angeführt, dass alle BeamtInnen einen Eid zur
Verfassungstreue ablegen (z.B.: § 58 BBG). Daraus könnte
ein Vorrang des Verfassungsgehorsams gegenüber der Weisungsgebundenheit
hergeleitet werden, denn das Beamtenrecht kann nicht vom Verfassungsgehorsam
entbinden. Zudem kann ein Erst-recht-Schluss gezogen werden: Wenn, wie
oben gezeigt, eine befohlene Ordnungswidrigkeit zur Rechtfertigung der
Gehorsamsverweigerung führt, so muss dies erst recht für einen
angeordneten Verfassungsbruch gelten.1
Dies ist jedoch eine klare Mindermeinung.
Aber wie auch immer, das gesetzlich normierte und nicht wegdiskutierbare
Remonstrationsrecht (eigentlich -pflicht) existiert - ob nur theoretisch
oder auch praktisch wird sich im Folgenden zeigen.
Kluft zwischen Theorie und Praxis
Die Remonstrationspflicht qualifiziert die Gehorsamspflicht, heißt
es in der Theorie. Wie aber soll die Gehorsamspflicht in einem auf Befehl
und Gehorsam getrimmten, hierarchisch aufgebauten Apparat wie der Polizei
und des BGS qualifiziert werden, wenn dort alles auf den reinen unqualifizierten
Gehorsam ausgerichtet ist?2 Zu
den innerbehördlichen Missständen kommt auch noch die Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG). Das BVerwG sieht nämlich
bei gewissensbedingtem Ungehorsam von PolizeibeamtInnen die Funktionsfähigkeit
des Staates gefährdet.3 Damit
werden remonstrationswillige BeamtInnen stark verunsichert, denn eine
Remonstration entspricht schließlich gewissensbedingtem Ungehorsam.
Die Auswirkungen auf die Praxis seien hier an einem Beispiel dargestellt:
Ein Polizist remonstrierte wegen einer durchzuführenden erkennungsdienstlichen
Behandlung unter Anwendung von Gewalt. Im darauffolgenden Bescheid eines
Vorgesetzten war zu lesen: "Wir können es uns nicht leisten,
dass durch die Remonstration eines Beamten ein gesamter, angeordneter
polizeilicher Einsatz ins Stocken gerät". Somit wurde die Remonstration
als potentielle Arbeitsverweigerung ausgelegt und der Polizist strafversetzt.4
Die wenigen Remonstrationen unter Polizei- und BGS-BeamtInnen enden meist
mit disziplinarrechtlichen Konsequenzen.
Fazit
Zusammenfassend ist also festzustellen, dass hier eine Kluft zwischen
Theorie und Praxis besteht, die kaum größer sein könnte.
In einem Rechtsstaat dürfte ein solcher Zustand eigentlich untragbar
sein. Die Beamtengesetze werden zu reiner Augenwischerei, da die dort
fest geschriebene Remonstrationspflicht - die schließlich eine stupide
Untergebenheit der BeamtInnen vermeiden sollte - in der Praxis versagt.
Nicht nur, dass die PolizistInnen selbst nicht zu wissen scheinen, dass
sie in entsprechenden Situationen remonstrieren müssen, die Vorgesetzten
und die Gerichte machen es geradezu unmöglich. Dazu kommt noch der
viel zitierte Korpsgeist. Remonstriert beispielsweise ein Polizist oder
eine Polizistin gegen eine Anweisung einen "Abschiebehäftling"
in eine 17 qm große Zelle zu sperren, in der es kein Fenster gibt
und in der bereits drei Personen "einsitzen"5,
so ist ihm oder ihr nicht nur der Ärger mit den Vorgesetzten gewiss,
der Beliebtheitsgrad bei den nicht selten gefestigten RassistInnen aus
dem KollegInnenkreis steigt auch nicht unbedingt. So kommt es auch, dass
selbst beim berühmten Hamburger Polizeikessel, in dem DemonstrantInnen
13 Stunden lang unter menschenunwürdigen Zuständen zusammengepfercht
wurden, nur eine einzige Remonstration6
zustande kam und bei ähnlichen Kesseln in Mainz, Schwandorf, Berlin
oder München gar keine, obwohl selbst die Gerichte diese Kessel im
Nachhinein für rechtswidrig erklärten.
Die Ignoranz gegenüber geltendem Recht - ja geradezu der Kampf der
Vorgesetzten dagegen - liegt also nicht nur in der bloßen Pflichtvergessenheit
"unserer" Polizei. Das Problem steckt tiefer. Es hat sich ein
Apparat herausgebildet, der immer weitreichendere Befugnisse besitzt und
gleichzeitig immer weniger Kontrolle unterliegt und zudem von "unseren"
Gerichten kaum etwas zu befürchten hat. Der Trend zu Spezialtruppen,
Sondereinsatzkommandos etc. bringt "unsere" Polizei immer mehr
in die Nähe einer unkontrollierten, sanktionsimmunen Geheimpolizei.
Ob es sich bei "unserer" Polizei heute noch um eine demokratische
Ordnungsmacht handelt, die sich innerhalb des Rechtsstaates bewegt, ist
mindestens zweifelhaft.
-
Lisken / Denninger, Handbuch des Polizeirechts,
2. Auflage, 1996, K 64.zurück
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Für Zweifler an dieser Feststellung
siehe: Gössner / Neß, Polizei im Zwielicht, 1996.zurück
-
BVerwGE 56, 227, 228.zurück
-
Gössner, S. 115.zurück
-
Solche Zellen existieren beispielsweise
in Bremen.zurück
-
taz vom 27.02.91.zurück
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