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Polizeilicher Notstand in Berlin - Wer hätte das gedacht?

Am 8.1.2000 erging ein Verbot sämtlicher Veranstaltungen zum Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, obwohl von den angemeldeten Veranstaltungen keine Gefahr ausging. Anlaß war eine (angebliche) Gefahr von Außen, so dass eigentlich der Grundsatz galt, die Veranstaltungen zu schützen anstatt sie zu verbieten. Aufgrund der Besonderheiten dieses Verbots ist eine rechtliche und politische Nachbetrachtung geboten.

Neue Methoden des Schutzes vor Attentaten

Am 9.1.2000 war, wie jedes Jahr, die Luxemburg-Liebknecht Gedenkveranstaltung in Friedrichsfelde geplant sowie eine Demonstration vom Frankfurter Tor dorthin. Doch diesmal wurden beide Veranstaltungen von der Berliner Polizei verboten. Für die Kundgebung in Friedrichsfelde fungierte die PDS als Anmelderin und akzeptierte das Verbot für ihre Veranstaltung. Das Bündnis, das die Demonstration anmeldete akzeptierte das Verbot nicht und meldete statt dessen eine neue Demonstration an, mit anderer Streckenführung. Daraufhin entschied Polizeipräsident Saberschinsky, dass das Verbot "auch für jede Form von Ersatzveranstaltungen unter freiem Himmel im Gebiet des Landes Berlin am 9.1.2000" gilt.

Grund für diesen weitreichenden Eingriff in die Demonstrationsfreiheit war ein Schreiben vom 6.1.2000 eines von der Polizei wegen Brandstiftung gesuchten Mannes (Herr Staps). In diesem Schreiben droht Staps damit die Versammlung mit Waffen anzugreifen und dabei bis zur Selbstaufopferung zu gehen. In der Verbotsverfügung, welche am 8.1.2000 um 14.00 den AnmelderInnen zuging, war zu lesen: "Wie terroristische Aktionen gezeigt haben, sind Selbstmordkommandos von Attentätern weder durch eine noch so große Präsenz von Sicherheitskräften noch durch andere Maßnahmen zu verhindern". Die Berliner Polizei berief sich also auf einen polizeilichen Notstand und stützte ihr Verbot auf § 15 I VersG. Schon dies ist bezeichnend, denn grundsätzlich gilt, dass bei einer Gefahr, die von einem Störer oder einer Störerin verursacht wird, der oder die weder VeranstalterIn noch TeilnehmerIn ist, stets nur der Schutz der Demonstration in Frage kommt. Das Eintreten eines polizeilichen Notstandes und damit eines Eingreifens des § 15 I VersG gilt als "kaum vorstellbar".1



Doch in diesen Zeiten ist ja so einiges möglich, was für viele kaum vorstellbar schien (Stichwort Spendenskandal), also warum nicht mal ein polizeilicher Notstand(?). Zu fragen ist also ernsthaft: lag überhaupt ein polizeilicher Notstand vor? Ein polizeilicher Notstand, der das hier fragliche Verbot rechtfertigen könnte, läge vor, wenn eine unmittelbare Gefahr gegeben wäre und die Berliner Polizei unter Aufbietung all ihrer Kräfte und notfalls unter Heranziehung von Kräften der Nachbarländer oder sogar des Bundes nicht in der Lage gewesen wäre, diese Gefahr abzuwenden. Eine unmittelbare Gefahr läge wiederum vor, wenn der drohende Schaden sofort bzw. jederzeit eintreten konnte und dies mit nahezuer Gewißheit festgestanden hätte.

Staps gefunden?Zuerst ist also zu klären, lag eine unmittelbare Gefahr vor? Die Drohung des Hr. Staps lautete, Leben und Gesundheit der TeilnehmerInnen der Gedenkveranstaltungen zu gefährden. Eine Drohung genügt aber auf gar keinen Fall.2 Es müßten also konkrete Hinweise darauf vorhanden gewesen sein, dass diese Drohung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (bloße Wahrscheinlichkeit genügt nicht!) auch umgesetzt wird. Die Polizei behauptete, diese Voraussetzungen hätten vorgelegen, da Staps mit Haftbefehl (wegen Verdachts der Brandstiftung!) gesucht werde und er mit der PDS im Zwist läge und beides zusammen ein "Zuschlagen" des Hr. Staps am 9.1.2000 als nahezu sicher erscheinen ließe. Doch wenn diese Gefahr so gewiß war, warum haben dann die PoizistInnen vor Ort am 9.1.2000 keine schußsicheren Westen getragen, warum kannte kaum ein Polizist oder eine Polizistin den Namen des angeblichen Attentäters, warum war von einer Fahndung nichts zu spüren und wie sollte mit Pferden, Hunden, Räumpanzern, Knüppeln und behelmten PolizistInnen (das war das Aufgebot zum Schutz der TeilnehmerInnen einer Spontandemonstration am 9.1. 2000) ein Attentäter gefaßt werden? Vieles deutete darauf hin, dass jedenfalls die Polizei die Drohung des Hr. Staps nicht sehr ernst nahm. An einer unmittelbaren Gefahr i.S.d. § 15 I VersG scheitert die Rechtmäßigkeit des Verbots also bereits.

Doch auch wenn eine Gefahr vorgelegen haben sollte, wie steht es mit der Fähigkeit der Polizei, diese zu verhindern? In der Verbotsverfügung hieß es, dass die vorliegende Gefahr weder durch noch so große Präsenz von Polizei noch durch andere Maßnahmen abzuwenden sei. Abgesehen davon, dass dies die Bankrotterklärung der Polizei wäre, wenn sie eine Veranstaltung nicht vor einem Einzeltäter schützen könnte, ist auch sonst Skepsis angebracht. Eine Woche später - am 15.1.2000 - waren die gleichen Veranstaltungen angemeldet und es schwebte die gleiche Gefahr über diesen Veranstaltungen. Doch diesmal wurde nicht verboten, obwohl genau die gleiche Situation herrschte. Das Argument, dass die Polizei Vorbereitungszeit brauchte überzeugt nicht. Mindestens 2 Tage standen zur Verfügung um entsprechende Maßnahmen zu unternehmen. Wie perfekt in kurzer Zeit "Sicherheitskonzepte" stehen können, zeigen immer wieder Nazidemos, die mit einem enormen Polizeiaufwand geschützt werden. Dass zwei Tage genügt hätten, impliziert auch Werthebachs (Falsch)Aussage im Inforadio, dass das Schreiben erst am 8.1.2000 bei der Polizei einging (warum sollte er lügen, wenn zwei Tage tatsächlich zu knapp gewesen wären?).

Außerdem zeigte noch im selben Monat die Göttinger Polizei, wie es auch geht. Am 29.1.2000 war in Göttingen ein NPD-Aufmarsch angemeldet, der verboten wurde. Die Gegendemonstration wurde dagegen nicht verboten, obwohl eine konkrete Drohung im Raum stand, die Demonstration mit Waffen zu attackieren und zudem am geplanten Sammelplatz der NPD eine geladene Pistole gefunden wurde.

Ein polizeilicher Notstand ist also nur bei Verbiegung des Versammlungsgesetzes zu erkennen und das Verbot war damit rechtswidrig. Doch rechtswidrig hin oder her, das Verbot wurde durchgesetzt und deshalb ist hier - und anderswo - nicht nur nach der Rechtmäßigkeit zu fragen, sondern nach den Beweggründen, die Versammlungsfreiheit, die eine tragende Säule der Demokratie sein soll, durch ein rechtswidriges Verbot auszuhebeln.

Schon seit langem beklagen Herr Werthebach und Herr Saberschinsky, dass es zu viele Demonstrationen in Berlin gäbe und immer wieder wurde offenes Unbehagen gerade gegenüber der Luxemburg-Liebknecht-Ehrung geäußert. Diese Veranstaltung wuchs schließlich stetig an und ist mittlerweile bei einer TeilnehmerInnenzahl von 100.000 angelangt und es ist eine linke Veranstaltung, bei der alle linken Strömungen gemeinsam demonstrieren. Diese Entwicklung sollte unterbrochen werden (oder kann sich jemand vorstellen, dass bei einer ähnlichen Konstellation beispielsweise ein Kanzlerfest verboten worden wäre?). Der Erfolg war, dass die Ehrung geteilt wurde. Da gab es die "lieben Linken", die das Verbot akzeptierten und die "bösen Linken", die einfach trotzdem demonstrierten. Die "Lieben" werfen den "Bösen" "Krawallmacherei" vor und die "Bösen" werfen den "Lieben" Kapitulation vor der Staatsmacht vor - und schon ist ein Graben geschaffen, und das alles aufgrund einer rechtswidrigen Aktion der Polizei.

Berliner Polizei fahndet nach Staps - zum Vergrößern draufklicken

Ein Indiz für das Bestreben, die jährliche Luxemburg-Liebknecht-Ehrung zu schwächen ist auch, dass bis zum 14.1.2000 von Seiten der Polizei ein Verbot der Veranstaltungen am 15.1.2000 nicht ausgeschlossen wurde. Vielmehr wurde immer betont, es sei durchaus möglich, dass auch diesmal ein Verbot erginge. Dieses Spielchen der Polizei ging jedoch nicht auf, auch am 15.1.2000 kamen über 100.000 Menschen um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu gedenken.

Das die tatsächlichen Beweggründe für das Verbot mit den offiziell verbreiteten wenig zu tun hatten, zeigte auch eindrucksvoll das Vorgehen der Polizei gegen die angebliche Gefahr - zur Erinnerung: die Gefahr ging offiziell von Hr. Staps aus und alle Sorge galt dem Leben und der Gesundheit der "bösen Linken". Wahrscheinlich immer von dem Glauben beseelt, Staps könnte irgendwo in der Menge (der Spontandemonstration vom 9.1.2000) versteckt sein, wurde munter drauflos geknüppelt und festgenommen. Als ein Beispiel des "Erfolges" der Schutzmaßnahmen der Polizei sei hier nur ein offener Brief von Frau Sch. an Petra Pau (Landesvorsitzende der PDS-Berlin) zitiert:
"... Meine Tochter wurde bei dem von Ihnen gerechtfertigten Polizeieinsatz gegen die spontane Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am Frankfurter Tor ... brutal von Polizeikräften gefoltert.
Die Arme wurden ihr nach hinten gerissen, der Kopf dabei nach unten gedrückt, während ein Polizist gleichzeitig sein Knie hochschnellte - mitten in ihr Gesicht. Zwei Brüche im Gesichtsbereich, das Gesicht völlig zugeschwollen, das Auge in Mitleidenschaft gezogen, so befindet sich meine Tochter jetzt im Krankenhaus. ..."
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Die Erfahrungen von ähnlichen Vorfällen in der Vergangenheit zeigen, dass der misshandelnde Polizist keinerlei Strafverfolgung fürchten muss (obwohl er hier namentlich bekannt ist!), während die mißhandelte Frau wegen Landfriedensbruch und Widerstands gegen die Staatsgewalt eine Verurteilung zu fürchten hat.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die größte - und durchaus unmittelbare - Gefahr für eine linke Veranstaltung vor allem durch den "Schutz" der Polizei gegeben ist und dass das Verbot der Veranstaltungen vom 9.1.2000 seit langem eine der schwersten Verletzungen der Versammlungsfreiheit beinhaltet. Das konnte geschehen, ohne dass es auch nur den Ansatz eines Aufschreis in den Medien gab. Bisher wurde eine Veranstaltung erst einmal mit dem Argument der Gefährdung der TeilnehmerInnen verboten. Damals in den 80ern in Krefeld ging es um einen Staatsbesuch des Präsidenten der USA George Bush. Der damalige Täter wurde bald gefaßt und ebenso bald wieder an seinen heimatlichen Schreibtisch entlassen - in die Berliner Dienststelle des BND.

Karl Richter


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1Ridder / Breitenbach / Rühl /Steinmeier; Versammlungsrecht, § 15 Rn 140.

2a.a.O..