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Shoot-to-kill-Fahndung in der BRD?

Im folgenden soll am Beispiel der Vorfälle vom 27.6.93 in Bad Kleinen der Frage nachgegangen werden, ob von deutschen Staatsorganen eine sog. "Shoot-to-kill-Fahndung" auf mutmaßliche Terroristen betrieben wird.

Dass schon so mancher mutmaßliche Terrorist der RAF oder anderer militanter Gruppen beim Versuch der Verhaftung von Einsatzbeamten getötet wurde, ist nichts neues. Man sollte jedoch meinen, dass so etwas nur dann geschieht, wenn von dem Beschuldigten eine erhebliche Gefahr für die Beamten oder andere Menschen ausgeht, die nicht anders abgewendet werden kann, also eine Notwehr- oder Nothilfesituation. Immer wieder wird jedoch vor allem in alternativen oder linken Medien von einer sogenannten "Shoot-to-kill-Fahndung" deutscher Polizisten, die von Staatsanwälten und Richtern gedeckt wird, gesprochen, d.h. es wird behauptet, die Beamten wollen die mutmaßlichen Terroristen gar nicht festnehmen, sondern erschießen sie absichtlich, ohne jegliche "Notwendigkeit". Im folgenden soll anhand des Falles zweier GSG9-Beamter, die im Verdacht standen, nach einer Verfolgungsjagd auf dem Bahnhof in Bad Kleinen am 27.6.93, den schwerverletzten Wolfgang Grams durch Schüsse aus nächster Nähe regelrecht hingerichtet zu haben, näher beleuchtet werden, on an dieser Behauptung etwas dran sein könnte.

Vor Gericht brauchten sich die beiden GSG9-Beamten nicht dieses Verdachtes erwehren. So jedenfalls entschied es im Januar 1994 die Schweriner Staatsanwaltschaft und auf eine darauf folgende Beschwerde hin im März 1996 auch das OLG Rostock, da sich Wolfgang Grams eindeutig selber erschossen habe. Trotz des schweren Vorwurfs ermittelte die Schweriner Staatsanwaltschaft überhaupt nur, weil eine Anzeige der Eltern von Wolfgang Grams gegen die mutmaßlichen Todesschützen gestellt wurde. Daraufhin ermittelte die Staatsanwaltschaft jedoch völlig einseitig, um die Beschuldigten zu entlasten und suchte bzw. verfolgte keinerlei belastende Indizien, wozu sie eigentlich genauso verpflichtet ist.1 So sollte das Gutachten über die Schusswechsel in Bad Kleinen, das bei dem Gerichtsmedizinischen Institut der Universität Zürich in Auftrag gegeben wurde, ausdrücklich nur ergeben, dass keine zwingenden Gründe gegen die aufgestellte These vom Selbstmord Wolfgang Grams sprechen.2 Weder in der Begründung der Einstellung der Ermittlungen, noch in der Begründung der Ablehnung der Beschwerde bzgl. der Einstellung wurden jedoch die zahlreichen Widersprüche bzw. belastenden Indizien gegen die Beschuldigten Beamten ausreichend berücksichtigt. Größtenteils wurden sie einfach ignoriert.3 Einige dieser Widersprüche sollen hier noch einmal aufgezählt werden.




Zunächst war da eine Zeugenaussage der Kioskverkäuferin des Bahnhofs Bad Kleinen. Sie sagte aus, dass am 27.6.93 eine Person (Wolfgang Grams) auf die Gleise stürzte und dort regungslos liegen blieb. Dann seien zwei Beamte an den Daliegenden herangetreten. Der eine hätte sich dann gebückt und aus wenigen Zentimetern Entfernung in den Kopf von Grams geschossen. Daraufhin hätte dann der zweite Beamte mehrmals in die Gegend von Kopf und Bauch von Grams geschossen. Diese Zeugenaussage wurde von der Staatsanwaltschaft als unglaubwürdig infolge eines "schockähnlichen Zustandes" angesehen. Dabei konnte sich die Zeugin noch daran erinnern, dass der eine Todesschütze ein weinrotes Oberteil anhatte, obwohl die Staatsanwaltschaft behauptete, dass keiner weinrot trug. Später stellte sich heraus, dass gerade der Beamte, der als erster Wolfgang Grams verfolgte ein weinrotes Sweatshirt anhatte, was die Zeugin doch glaubwürdig erscheinen lässt. Obwohl die Kioskverkäuferin aussagte, den Todesschützen identifizieren zu können, wurde von der Staatsanwaltschaft weder eine Fotovorlage, noch eine Gegenüberstellung veranlasst. Kurz nach den Ereignissen meldete sich beim "Spiegel" ein am Einsatz beteiligter Polizeibeamter, der anonym bleiben wollte und bestätigte die Aussage der Kioskverkäuferin. Dazu kommt, dass es keinen Menschen gibt, der jemals aussagte, den Selbstmord Grams' gesehen zu haben. Im März 1995 wurde die Aussage der Kioskverkäuferin dann durch einen weiteren Zeugen bestätigt, der auch den Kopfschuss gesehen haben will - aus ca. 15 Metern Entfernung. Der Zeuge gab an, sich schon unmittelbar nach dem Vorfall in Bad Kleinen mehrmals schriftlich bei der Staatsanwaltschaft Schwerin gemeldet zu haben, darauf jedoch keine Reaktion erhalten zu haben. Noch bevor die Leiche von Wolfgang Grams für das Schweizer Gutachten genau untersucht werden konnte, wurde sie bei einer Obduktion in Lübeck auf Anordnung der beiwohnenden BKA-Beamten im Gesicht, an den Fingern, den Fingerspitzen, den Handinnenflächen sowie an der Einschussstelle in der Nähe des rechten Ohres gründlich gewaschen. Somit wurden Spuren vernichtet, die darüber Aufschluss darüber hätten geben können, ob ein Selbstmord oder ein Mord vorlag. Spurenvernichtung wurde vom BKA auch an allen beteiligten Polizeiwaffen betrieben, so dass an ihnen keine Blut- und Gewebespuren mehr nachweisbar waren. Weiterhin wurden die Kleidungsstücke des Hauptverdächtigen GSG9-Beamten erst Tage nach dem Ereignis in Bad Kleinen asserviert - und zwar frisch gewaschen! Lediglich eine Jacke des Hauptverdächtigen, an der sich Blutspuren befanden, taugte zu näheren Untersuchungen. Diese wurde jedoch eines nachts aus dem abgeschlossenen Asservatenschrank der Gerichtsmedizin Zürich ("dem Heiligtum des Instituts" Spiegel 48/93) gestohlen. Das angebliche Tatmotiv ("eine Jacke kann jeder gut gebrauchen wenn es kalt wird") ist der absolute Gipfel, denn die Jacke war schon in Münster zur Untersuchung zerschnitten worden. Weiterhin handelte es sich bei keinem der Obduzenten bzw. späteren Gutachter um Schussspurenexperten, so dass auch (zumindest teilweise) veraltete Methoden bei den Untersuchungen angewandt wurden.4

Bei der Lieferung der Leichenteile von Wolfgang Grams, sowie der anderen Beweismittel von Lübeck nach Zürich ist dann auch noch zufällig die Versiegelung aufgeplatzt, so dass das BKA eine neue Versiegelung vornehmen musste. Dabei müssen die BKA-Beamten ein ziemliches Durcheinander angerichtet haben, denn die Züricher Kriminologen wussten bei der Ankunft der Lieferung teilweise nicht, welches Asservat wem zugeordnet werden sollte.5 Was die BKA-Leute sonst noch mit den Leichenteilen angestellt haben weiß keiner.

Selbst das Schweizer Gutachten, dass ja die staatsanwaltschaftliche Selbstmordthese wie gewünscht im Ergebnis stützte, wurde vom Bundestagsinnenausschuss zur geheimen Verschlusssache erklärt und durfte nur in einer 5seitigen Pressemitteilung Öffentlichkeit erlangen. Dabei ist die Selbstmordthese völlig unwahrscheinlich: nachdem Wolfgang Grams gestürzt war (fünf Polizeikugeln hatten ihn schon getroffen) lag er auf seinem rechten Arm. Nach dem Sturz kann er mit diesem also nicht mehr geschossen haben. Selbst wenn er dies geschafft hätte, so hätte er den rechten Arm dann nicht wieder unter seinen Körper schieben können, da augenblicklich eine vollständige Muskelerschlaffung eingetreten wäre.6 Die Kopfschusswunde befindet sich jedoch an seiner rechten Kopfseite. Sowohl die Bundesregierung, die Staatsanwaltschaft Schwerin und die Münsteraner Gutachter waren sich einig, dass der Kopfschuss erst erfolgte, als Grams schon lag.7 Erst das OLG Rostock versucht die somit eigentlich unmöglich gewordene Selbstmordthese damit zu retten, dass es nun behauptet Grams hätte sich im Fallen erschossen.8 Dagegen spricht jedoch, dass der Ort, an dem Teile des Geschosses gefunden wurden nur mit einer Schussabgabe im Liegen nachvollziehbar ist.9

Weiterhin existiert ein unangefochtenes Gutachten von Prof. Bonte, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin an der Uni Düsseldorf und einer der renommiertesten Gutachter in der BRD, dessen Gutachten bisher auch oft und gerne von StaatsanwältInnen zur Beweisführung benutzt wurden. Danach muss aufgrund der Beschaffenheit von Hautabschürfungen an Grams' Handrücken, Wolfgang Grams die Waffe zu einem Zeitpunkt zu dem er noch lebte mit Gewalt aus der Hand genommen worden sein.10 Die offizielle Tatwaffe (die von Grams) kann somit also auch von einem GSG9-Beamten zur Tötung benutzt worden sein. Prof. Bonte weist weiterhin nach, dass entgegen dem Schweizer Gutachten die Schüsse auf Wolfgang Grams zwar nicht aus allernächster Nähe, wie bei einem Selbstmord, aber aus weniger als einem Meter Entfernung abgegeben wurden und stützt somit auch die zwei Zeugenaussagen.

Prof. Geserick von der Humboldt Universität Berlin kam, entgegen dem offiziellen Gutachten, nach einer Begutachtung zu dem Schluss, dass die Schusswunde in Grams Bauch, die unstreitig von einem GSG9-Beamten verursacht wurde, darauf hindeutet, dass der Schuss aus der Nähe auf den liegenden Grams abgegeben wurde.11

Allgemein kann zur Qualität der Gutachten des Schweizer Instituts gesagt werden, dass sie zum einen schon das umstrittene Gutachten zum Selbstmord von Gudrun Enslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe 1977 anfertigten, zum anderen sich ein weiteres Gutachten des Instituts sich 1992 nicht einmal vor einer deutschen Staatsschutzkammer (im Prozess gegen Christian Klar und Peter-Jürgen Boock) als haltbar erwies.12 Weiterhin soll Wolfgang Grams nach der offiziellen Version als erster vor Ort geschossen haben, und zwar vom oberen Treppenende auf dem Bahnsteig auf die ihm am unteren Treppenende folgenden Beamten. Dabei soll er den Beamten Newrzella getötet haben. Alle zivilen Zeugen sowie der anonyme "Spiegel"-Informant (s.o.) geben jedoch an, dass Grams erst noch zu der linken Bahnsteigkante lief, bevor er auf seine Verfolger schoss. Dies wird zudem dadurch bestätigt, dass alle aus seiner Waffe verschossenen Patronenhülsen auf dem besagten Gleis liegen (was auch mit dem Auswurfverhalten seiner Waffe zusammenpasst13). Daraus folgt, dass Grams nicht die Treppe hinunterschoss, sondern die zuerst schießenden Verfolger14 selber ihren Kollegen dort erschossen haben (weil er in der Fluchtlinie stand oder weil sie ihn aufgrund seiner zivilen Kleidung mit Grams verwechselten) und dass die Beamten gelogen haben. Schließlich sagten mind. fünf Zeugen aus, dass nach dem zusammenhängenden Schusswechsel später noch einige Einzelschüsse fielen15 - bei einem Selbstmord hätte es höchstens einer sein dürfen. Dass Wolfgang Grams sterben sollte ergibt sich noch durch zwei andere Indizien. Vor Ort befand sich ein Rettungssanitäter der GSG-9, der sich um den verletzten Beamten Newrzella kümmerte. Auch von den in einem Krankenwagen aus Wismar später hinzukommenden Arzt, einem Rettungssanitäter sowie einer Krankenschwester wurden alle angewiesen sich nur um Newrzella zu kümmern: "Der da hat nichts. Kümmert euch um den!". Gleiches passierte bei dem dann noch hinzukommenden Hubschrauber mit einem Arzt und einem Sanitäter. Bis zu Wolfgang Grams' medizinischen Erstversorgung vergingen so 25 Minuten.16 Das andere Indiz ist, dass, obwohl es Gang und Gebe ist, dass die Polizei von allen wichtigen Einsätzen Videoaufnahmen macht sich vor Ort ein am Stellwerk installiertes, unbeobachtbares und einsatzbereites Videogerät befand, offiziell keine Videoaufnahmen vom Tathergang existieren. Erklärbar ist dies nur so, dass das Video unterdrückt wurde, da es einen Mord zeigte oder dass diesmal von Anfang an feststand, dass es kein Video geben darf.17

All diese Indizien und Widersprüche konnten jedoch an der von der Staatsanwaltschaft und dem OLG vertretenen Selbstmordthese keinerlei Zweifel aufkommen lassen. Vielmehr galt für sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Tathergang, den so kein Mensch gesehen hat. Wäre diese Version zutreffend, hätte es dann all der Beweisunterdrückung und Desinformation bedurft? Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass hier eine „Shoot-to-kill“-Fahndung auf mutmaßliche Terroristen mit den Mitteln des Strafrechts vertuscht und somit legitimiert werden sollte.

Dafür spricht auch der Umgang der Justiz mit denjenigen, die die Selbstmordthese nicht glauben und dies offen sagen: So wurde beispielsweise im April 1997 und im Februar 1999 Christiane Schneider erst- und zweitinstanzlich als presserechtlich verantwortliche Redakteurin des Angehörigen-Infos aufgrund zweier in dieser Zeitschrift publizierter Artikel wegen Verunglimpfung der BRD gemäß § 90a verurteilt. Grund dafür war, dass in den Artikeln behauptet wurde, dass das mutmaßliche RAF-Mitglied Wolfgang Grams 1993 in Bad Kleinen von den GSG-9 Beamten "hingerichtet" und "ermordet" wurde, sowie dass dieser Mord staatlich gedeckt und vertuscht wurde. Der Verteidiger von Christiane Schneider argumentierte völlig zutreffend, dass die Presse in einem so umstrittenen Fall nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht habe, zu hinterfragen und die Diskussion am Leben zu erhalten. Ob die Mord- oder Selbstmordthese zutrifft ist und wird wahrscheinlich von keinem je eindeutig beweisbar sein. Daher kann es nicht strafbar sein, eine der beiden Thesen zu vertreten, auch wenn es diejenige ist, die den Staat in einem weniger positiven Licht dastehen lässt, zumal eben einiges für diese These spricht. Die Gerichte sahen in den Behauptungen jedoch eine Verunglimpfung, unabhängig davon, ob sie wahr oder falsch seien, denn nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes reicht für § 90a allein die Behauptung schimpflichen Verhaltens, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt. Kurz gesagt: es ist strafbar die Wahrheit über das Verhalten staatlicher Organe zu sagen, wenn dies dem Ansehen der BRD schaden könnte!!!




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1So die Rechtsanwälte der Eltern von Wolfgang Grams (siehe Rote Hilfe 2/96 S.18).

2Rote Hilfe 1/94.

3So die Rechtsanwälte der Eltern von Wolfgang Grams (siehe Rote Hilfe 2/96 S.18).

4Alles in Rote Hilfe 1/94 S.4.

5Spiegel 29/93.

6Gutachten der Rechtsmediziner aus München S.8.

7Rote Hilfe 2/94 S.22.

8Rote Hilfe 2/96 S.18.

9Gutachten der Rechtsmediziner aus München S.12.

10Rote Hilfe 3/95 S.15.

11.Woche vom 8.7.93

12Rote Hilfe 1/94 S.5.

13Rote Hilfe 4798.

14Dass im unteren Treppenbereich schon geschossen wurde, bestätigen auch mehrere zivile Zeugen.

15Rote Hilfe 3/94 S.15.

16Alles in Rote Hilfe 4/98.

17Ebda.