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Es lebe der Streik!
Fast 10 Monate lang wurde die UNAM (Universidad Nacional Autónoma
de Méxicoi)
von ihren Studierenden bestreikt und der Universitätsbetrieb unterbrochen.
Anfang Februar wurde die Universität auf Anordnung von Präsident
Ernesto Zedillo von der mexikanischen Bundespolizei gewaltsam geräumt.
Gelegenheit genug, um die Hintergründe dieses Streiks zu beleuchten.
Die 1910 gegründete UNAM, zu der auch die gymnasialen Oberstufen
von Mexiko-Stadt gehören, ist mit ihren 265.000 offiziell eingetragenen
Studierenden die größte Universität Lateinamerikas. Gleichzeitig
gehört sie zu den "bestbewachtesten" Universitäten
der Welt. Immerhin haben nicht nur die Polizei sondern auch die vielen
Geheimdienste Mexikos Überwachungstechnik auf dem Campus installiert,
obwohl sie damit gegen die Autonomie der Universität verstoßen.
Gleichzeitig patrouillieren tag und nacht universitätseigene und
schwerbewaffnete Wachschützer über das Gelände.
"Wir werden die Universität nicht an die Besitzer des Geldes
übergeben.Dem Volk, was dem Volk gehöhrt. Nicht einen Schritt
zurück! Es lebe der Streik!"
Bisher zahlten die Studierenden Studiengebühren in Höhe von
symbolischen 20 centavos (4 Pfennig), als der Rektor Fransisco Barnés
im Februar 1999 ankündigte, die Gebühren auf umgerechnet 460
DM pro Jahr zu erhöhen. Das entspricht fast dem durchschnittlichen
Monatseinkommen in Mexiko. Bis zum April wurde die Erhöhung nach
und nach auch von den anderen Gremien der UNAM beschlossen. Daraufhin
wurde die Universität am 20. April von Studierenden besetzt, um die
Universitätsleitung zur Rücknahme der Studiengebührenerhöhung
zu zwingen. Doch nicht nur die Erhöhung der Gebühren, sondern
auch die Art und Weise, wie sie von der Universitätsleitung beschlossen
wurden, hat den Protest der Studierenden geradezu herausgefordert. Der
Universitätsrat als oberstes Gremium der UNAM hatte die Maßnahme
abgesegnet, ohne die zahlreichen Proteste im Vorfeld der Entscheidung
zur Kenntnis zu nehmen. Zur entscheidenden Sitzung wurden viele potenzielle
Gegner nicht rechtzeitig eingeladen.
Dieses Vorgehen entspricht genau jenen autoritären Methoden, mit
denen die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) seit 70 Jahren
regiert. Innerhalb kürzester Zeit schlossen sich auch Lehrer, Professoren,
Eltern und die Gewerkschaft der Angestellten der Universität (STUNAM)
an, die beiden anderen Universitäten der Stadt, soziale Bewegungen
und die Zapatistas bekundeten ihre Solidarität mit den Streikenden.
Später schlossen sich auch die Elektrizitätswerker, die gegen
die Privatisierung ihrer Industrie kämpfen, den Aktionen an. Die
Proteste gewannen so schnell eine allgemeinpolitische Dimension, die Forderungen
wurden erweitert. So umfaßte der Forderungskatalog am Ende eine
tiefgreifende Demokratisierung der Hochschulstrukturen sowie eine grundlegende
Kritik an der neoliberalen Wirtschaftspolitik, die die mexikanische Regierung
seit Anfang der 80er Jahre verfolgt. Das in der Verfassung garantierte
Recht der MexikanerInnen auf kostenlose Bildung wurde ebenso eingefordert
wie die Aufhebung der "Reformen" von 1997, die eine befristete
Studiendauer festschreiben, die Einberufung eines paritätisch besetzten
Universitätskongresses oder die Entfernung der polizei- und geheimdienstlichen
Überwachungstechnik vom Campus.
Der CGH und die "Generación Güey"
Auch wenn die mexikanische Regierung alles getan hat, um den Streik schnell
und lautlos zu ersticken, indem sie und die ihr hörige Presse die
Streikenden als Extremisten und Terroristen bezeichnete, die Polizei fast
täglich Übergriffe provozierte, Streikende ermordet und Frauen
von "Unbekannten" nach Sitzungen des CGHii
(Consejo General de Huelga - Allgemeiner Streikrat) vergewaltigt wurden,
radikalisierte sich die Bewegung innerhalb kürzester Zeit gerade
auch wegen der Vor- und Überfälle auf dem Campus. Gleichzeitig
spalteten sich die Streikenden in "Moderate" und "Ultras".
Während die einen für die Aufnahme von Verhandlungen waren,
wollten die anderen Verhandlungen erst zustimmen, wenn die 6 Grundforderungen
der Streikenden durchgesetzt wären. Daß sich am Ende der Staat
mit seinen Polizeimethoden durchgesetzt hat, zeigt, daß die Befürchtungen
der »Ultras« vor staatlicher Doppelzüngigkeit nicht aus
der Luft gegriffen waren. Trotz der internen Differenzen haben es die
Streikenden geschafft, während der gesamten Zeit arbeits- und aktionsfähig
zu sein; mehrere Großdemos durch Mexiko-Stadt, tägliche Aktionen
an allen Verkehrsknotenpunkten, eigene Zeitungen und ein Streikradio zeugten
davon. Ein viel größeres Problem stellte jedoch die Spaltung
in StreikbefürworterInnen und -gegnerInnen dar. Je länger der
Streik andauerte, desto öfter kam es auch zwischen verschiedenen
Studierendengruppen zu schweren Zusammenstößen. Auch dabei
ließ sich wieder beobachten, wie sehr die Regierung selbst versuchte,
die Streikenden zu spalten. Mehrmals wurden unter den StreikgegnerInnen
bei derartigen Auseinandersetzungen Bundespolizei- und GeheimdienstmitarbeiterInnen
identifiziert.
Von der Uni in den Knast: Studierende bei ihrer Verhaftung in Mexiko-Stadt
Die Streikbewegung war, wie die Zapatistas als andere große Bewegung
in der post-realsozialistischen Zeit in Mexiko, gänzlich anders strukturiert
als alle mexikanischen Streikbewegungen vorher. Sie hatte von Beginn an
eine horizontale Organisationsform angenommen. Während z. B. in der
Studentenbewegung 1986/87 immer sehr lokalisierte Führungsgruppen
aufgetaucht sind, in denen immer dieselben geredet und die Versammlungen
geleitet haben, hatten es die Studierenden von Anfang an nicht erlaubt,
daß es feste RepräsentantInnen gab. Alle repräsentativen
Kommissionen und die Versammlungsleitung des CGH waren rotierend. Der
Ort der CGH-Versammlungen wurde ständig gewechselt und fand nicht
mehr im mythischen "Auditorio Che Guevara" statt, das von den
Streikenden von 1968 so getauft wurde. Diese horizontale, sehr demokratische
Struktur der Bewegung hat auch die hauptsächliche Quelle der Bewegung
dargestellt und es ihr ermöglicht, über fast ein Jahr konstruktiv
zu arbeiten.
Allerdings enthielt diese Organisationsform auch ihre Schwächen.
Alle Vorschläge, die im CGH diskutiert wurden, mußten vorher
auf den Versammlungen in den Instituten besprochen und abgestimmt werden.
Damit waren die Entscheidungsprozesse bedeutend langsamer als in anderen
sozialen Bewegungen. Allein die wöchentlichen CGH-Marathonsitzungen,
an denen zwischen 1.000 und 1.500 Leute teilnahmen, dauerten nie weniger
als 12-14 Stunden. Aufgrund der Spaltung der Streikenden kam es dabei
teilweise zu makabren Szenen: Kaum veränderten sich die Mehrheitsverhältnisse
bei verschiedenen Sitzungen, wurden alte Abstimmungsergebnisse einfach
revidiert. Sicherlich war das auch ein Grund für die enorme Dauer
der Sitzungen und damit ein großes Manko der Streikbewegung. Dennoch
war das für viele, die vor dem Streik unpolitisch waren, ein entscheidender
Gewinn: sie mußten einen politischen Lernprozeß durchlaufen,
lernen zu diskutieren und zu überzeugen.
Dieser Lernprozeß ist enorm wichtig, gerade in einem Land wie Mexiko,
in dem die junge Generation durch ihren Individualismus und durch einen
hohen Grad an Entfremdung und Anonymität charakterisiert ist. Diese
"Generación Güey", wie sie von mexikanischen Soziologen
genannt wirdiii,
ist das Ergebnis des kulturellen Klimas, das die Institutionen in Mexiko
hervorgebracht haben. "Es ist eine Generation von Fernsehabhängigen
mit einer sehr reduzierten Weltsicht", beschreibt Alejandro Morenoiv
die Situation der Jugendlichen in Mexiko. Weiter meint er: "Seit
1982 erlebt Mexiko einen brutalen Zerstörungsprozeß der Mittelschichten,
die Reallöhne sind um 60 Prozent gefallen. Die Jugendlichen der 80er
Jahre wurden als die 'Kinder der Krise' bezeichnet, sie haben den unaufhaltbaren
Zerfall ihres Lebensstandards erlebt. Aber die heutige Generation hat
überhaupt keinen Wohlstand erlebt."v
Aufgewachsen inmitten wachsender Armut (60 Millionen MexikanerInnen leben
unterhalb der Armutsgrenze) und Gewalt, kenne sie nur Angriffe auf ihre
Perspektiven. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb überrascht
das "Aufwachen dieser Generation mit einem sehr wütenden, sehr
rebellischen Geist gegenüber der Gesellschaft"vi.
Gerade die politische Unreife vieler Streikenden manifestierte sich in
ihrem Gebrauch von Parolen, denen die ideologische Basis fehlte. Nur zu
gern nahmen viele das ihnen von der rechten Presse aufgezwungene Etikett
"Ultras" an, um in der Abgrenzung vom herrschenden System ihre
eigene Identität zu finden. Sie nahmen aus dem Zusammenhang gerissene
Zitate von Mao, Marx und Che und mischten sie mit Zitaten von Subcommandante
Marcos und John Lennon oder Jim Morrison. Die Jugendlichen, die ihre Streikbrigade
"Roter Oktober" nannten und mit Marx- und Leninzitaten herumwarfen,
hatten keine marxistische Schulung. Ihre Annäherung an diese Ikonen,
an diese Bilder, war ähnlich der Verwendung dieser Ikonen durch Andy
Warhol.vii
Wie wenig Inhalt und wie viel Provokation hinter ihren Aussagen stand,
zeigte vor allem die Namenswahl ihrer Streikbrigaden ("Aktionsgruppe
Bart Simpson", "Leuchtender Pfad").
Tausende demonstrierten nach der Erstürmung des Universitätscampus
in Mexiko-Stadt durch Spezialeinheiten der Bundespolizei für die
Freilassung der gefangenen AktivistInnen.
Nach dem Streik ist vor dem Streik
Wer nach der Räumung des Campus allerdings glaubte, damit die Bewegung
zerschlagen zu haben, sah sich schnell getäuscht. Die Bewegung hat
sich längst auf die anderen Universitäten in der Stadt und im
ganzen Land ausgedehnt. Aktionen werden fortgesetzt, Versammlungen finden
weiterhin statt, der Universitätsbetrieb ist noch nicht wieder aufgenommen
worden, die ersten Versammlungen finden in anderen Universitäten
und Schulen statt. Als 7. Punkt wurde die Forderung nach Freilassung der
über 1.000 politischen Gefangenen, die von der Polizei bei der Räumung
festgenommen wurden, in den Forderungskatalog aufgenommen.
Fast scheint es, als würde die Bewegung, einem Antäus gleich,
aus dem Sturz stärker und radikaler wiederauf(er)stehen, als sie
je war. Wenn sich die Lebensbedingungen der Menschen in Mexiko nicht ändern,
ist ein erneutes Aufflammen der Proteste vorprogrammiert.
¡Viva la huelga!
loco
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