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Der Glatzenknast

Rechtsextremismus und Resozialisierung

Am 30. August 2000 verurteilte der erste Strafsenat des Oberlandesgerichts von Sachsen-Anhalt den 24jährigen Bäcker Enrico H. wegen Mordes zu lebenslanger Haft und die 16jährigen Schulabbrecher Frank M. und Christian R. zu je neun Jahren Jugendstrafe. Die drei Skinheads, als rechtsradikale Schläger polizeibekannt, hatten in der Nacht zum 11. Juni den mosambikanischen Familienvater Alberto Adriano in Dessau so brutal zusammengeschlagen und -getreten, daß er drei Tage später an seinen Schädel- und Hirnverletzungen starb. Die Täter hatten nicht nur brutal auf ihr Opfer eingeschlagen, sondern ihm auch seiner Kleidung beraubt, um ihn zusätzlich zu demütigen.1

Mit diesem Urteil ging ein aufsehenerregender Prozeß zuende, bei dem das Gericht nur knapp unter dem Strafantrag der Bundesanwaltschaft geblieben war. Dabei trat - nicht zuletzt des öffentlichen Druckes wegen - erstmals ein Abweichen von der bisherigen Rechtsprechung im Umgang mit rechtsextremen Gewalttaten zu Tage. Nicht wie sonst praktiziert wurde zugunsten der Angeklagten zwar der Körperverletzungsvorsatz angenommen, der Tötungsvorsatz aber verneint, so daß allenfalls wegen Körperverletzung mit Todesfolge gem. §  227 StGB verurteilt würde, sondern von vornherein die billigende Inkaufnahme des Todes angenommen.

In der Urteilsbegründung hieß es, die Täter hätten den Afrikaner aus niederen Beweggründen getötet. Die Tat sei aus Rassenhaß geschehen. Der Tod sei in ihren Köpfen gewesen. Gewalt habe den Alltag der drei Skins beherrscht.2 Da die Täter aus purem AusländerInnenhaß gehandelt hätten, können die Schläge und Tritte nicht anders gewertet werden als Mord.

Die Reaktionen auf das Urteil wurden getragen von großer Erleichterung in die Einsichts- und Handlungsfähigkeit der deutschen Justiz. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) erklärte sogar, das Urteil zeige, "daß Staat, Polizei und Justiz unabhängig voneinander neue Grenzen setzen, die niemand überschreiten soll." Damit werde für die deutsche und internationale Öffentlichkeit klar, "wie wir mit diesem Problem umzugehen gedenken." Würde diese Behauptungen auch nur ansatzweise stimmen, so wären weder Hoyerswerda noch Rostock möglich gewesen und würde Alberto Adriano wahrscheinlich noch leben.

Nur leise ertönen die Rufe von BewahrerInnen der Rechtssicherheit, die vor einer Instrumentalisierung der Justiz durch Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Medien warnen. Die Justiz müsse Garant "für die Wahrung der Menschenwürde in unserem Staat nach allen Seiten sein und auch in etwaigen Krisenzeiten bleiben."3 Das gelte insbesondere gegenüber jedem bzw. jeder Angeklagten, und zwar unabhängig von Art und Umfang des vorgeworfenen Delikts.

Indes, das Urteil ist gesprochen, der Politik hängen vom fleißigen Schulterklopfen die Polster durch, die Zeitschriften haben ihre Titelseiten für einen Tag gefüllt, die zurückgebliebene und mehrfach ihres Lebens bedrohte Witwe des Ermordeten und seine drei Kinder sind längst vergessen, die Öffentlichkeit wiegt sich in trügerischer Sicherheit und wähnt die grausamen Täter in den sicheren Händen der Justiz, dem Zwischen- bzw. Endlager für den menschlichen Abfall der Gesellschaft. Das Problem ist weggeschlossen und also bewältigt.

Die wahren "Helden" sitzen im Knast

Das Erwachen ist groß, als sich wenige Tage später - jeder Abschreckungswirkung von Strafe zum Trotz - rechtsextremistische Gewalttaten in der gesamten Bundesrepublik häufen. Einige Landesregierungen, darunter Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, erwägen den Erlaß schärferer Strafgesetze mit längeren Haftstrafen gegen rechte GewalttäterInnen. Auch eine Herabsetzung der Strafmündigkeit von 14 auf 12 Jahre wird diskutiert. Auf Bundesebene werden Parteienverbote nach Art. 21 II geprüft.4

Man beschäftigt sich mit denen, die noch "draußen" sind. Aber was ändert sich, wenn alle rechtsradikale StraftäterInnen weggesperrt sind? Die Probleme dieser Gesellschaft lösen sich dadurch jedenfalls nicht. Untersuchungsergebnisse zeigen, "daß Gefängnisstrafen keinen abschreckenden Effekt" haben, sondern "im Gegenteil rechte Karrieren befördern."5 Denn Strafvollzug verfestigt rechtsextreme Orientierung und die Bereitschaft zur Gewaltanwendung. Der oder die Gefangene bestätigt den Regelkreis von Macht und Ohnmacht, auf dem das Funktionieren des Gefängnisses im Großen wie im Kleinen basiert. Haß gegen den Fremden, den "Kanaken" als sozial Schwächeren kompensieren eigene Ohnmachtserfahrungen. Er bleibt deshalb das zentrale Feindbild, gegen den sich in projektiver Abwehr die Angst vor der eigenen sozialen Deklassierung wendet. Dadurch wird ein Teil der Aggressionen abgearbeitet, die sich eigentlich gegen die Anstalt und ihre Zwänge richten. Es wird das Verhalten fortgeführt, was in der Struktur des Knastes angelegt ist: Die Gewöhnung an Gewalt.

Im gemeinsamen Kampf gegen Überfremdung, das Feindbild vor Augen und mit teutonischer Opferbereitschaft, nehmen rechtsextreme Strafgefangene so manche Haftstrafe mit übersteigertem und selbstgerechtem Märtyrerbewußtsein kommentarlos entgegen. Fressen den Haß in sich hinein, den keinE AußenstehendeR mit ihnen verarbeitet und warten auf die Stunde ihrer Rache.

Aber nicht nur die Orientierung, auch die rechtsradikale Organisation und Vernetzung wirkt bis tief in die Strukturen des Vollzugssystems hinein. Die große Anzahl rechtsorientierter Jugendlicher und junger Erwachsener im Strafvollzug schafft Kontakte und zieht selbst Außenstehende in Strukturen hinein, aus denen sie sich nach ihrer Entlassung nicht ohne weiteres lösen können und zumeist auch nicht wollen. Geteiltes Leid ist halbes Leid - Gefangensein schafft Identität und lang entbehrtes Verständnis, vor allem in der gegenüber Strafentlassenen kontaktscheuen und argwöhnischen Außenwelt. So ist es durchaus keine Seltenheit, daß die Gefangenenmitverantwortung (GMV) von einsitzenden NPD-Funktionären dominiert wird, die in der Hierarchie der Gefangenen ganz oben logieren und einen nicht unmaßgeblichen Einfluß nach innen mit genügend Kontakten nach außen haben.

Dabei kommt ihnen noch zu gute, daß so manche BeamtInnen im Strafvollzug, sei es aus Sympathie mit der Gesinnung, sei es aus Bequemlichkeit und Angst vor einer Konfrontation mit den Gefangenen oder sei es auch einfach aus Unkenntnis und mangelnder Sensibilisierung gegenüber den Machtstrukturen in der Gefangenenhierarchie, dem offenen Ausleben der Propaganda mittels Tonträgern, Zeitschriften und persönlicher "Überzeugungsarbeit" Tür und Tor öffnen. Eine Herauslösung jugendlicher StraftäterInnen aus der rechten Szene und perspektivenschaffende Resozialisierung findet nicht statt oder nur selten.

Die Einschätzung, daß die Vollstreckung von freiheitsentziehenden Maßnahmen bei rechten GewalttäterInnen nur bedingt erzieherische Wirkung zeigt, kann anderseits aber auch nicht heißen, anders zu reagieren als in vergleichbaren Fällen, in denen die TäterInnen ohne politische Intension gehandelt haben. Die Frage, die sich hier stellt, ist vielmehr, wie Politik und Gesellschaft zusammenwirken müssen, um die Grundlagen für den Erfolg einer tatsächliche Resozialisierung im Strafvollzug zu schaffen. Bei ihrer Beantwortung werden wir um einen Blick auf die Ursachen von Rechtsextremismus nicht umhin kommen.

Die Skinszene

Zunächst ist festzustellen, daß die Skinszene ein an sich eher unpolitisches Jugendspektrum darstellt, in dem sowohl rechte wie linke Jugendliche beheimatet sind, und das nicht selten in friedlicher Koexistenz. Dabei wirken gemeinsame Musik, Lebensverständnis, Kleidung und gemeinsames Erleben nicht zuletzt unter Alkoholeinfluß identitätsstiftend. Seien es nun Babyskins, Oi-Skins, Modeskins, Faschoskins (Naziglatzen, Boneheads) oder Redskins, für viele Neulinge in Stadt und Szene sind sie Familienersatz. Die von AnhängerInnen dieser Szene begangenen Straftaten haben auch keinesfalls unbedingt einen politischen oder gar neofaschistischen Hintergrund. Größtenteils sind es Straftaten aus dem Bereich der allgemeinen Kriminalität mit zumeist deutschen Opfern. Besonders erstinhaftierten Jugendliche und junge Erwachsene aus dieser Szene sind daher vor einem Abgleiten in den organisierten Neofaschismus zu bewahren.

Identität in der Gesellschaft

Jugendarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit, die Einfachheit nicht-hinterfragter Schuldzuweisungen an sozial Schwächere dürfte wohl die größte Stütze des Propagandasystems dieser Gruppen darstellen. Dabei ist im Zuge des Erlebens der negativen Auswirkungen von Vereinigung, Globalisierung, Kapitalismus und Eurozentrierung die Rückbesinnung auf Volksgemeinschaft und Volkssozialismus scheinbar logischer Umkehrschluß. So läßt sich die AusländerInnenfeindlichkeit dieser Gruppen mit scheinbar rationalen Gründen bekräftigen. Innerhalb der neonazistischen und –faschistischen Gruppen wird die Angst der deutschen Jugendlichen auf den ebenso sinnfälligen wie falschen Nenner gebracht: "Ausländer raus! Deutsche Arbeitsplätze für deutsche Arbeiter!" Es versteht sich von selbst, daß es nicht im Interesse faschistischer Organisationen liegt, die Haltlosigkeit dieser ökonomischen Milchmädchenrechnung zu erklären. So werden die angefeindeten ausländischen ArbeiterInnen, die zu den seit Jahren deutlichsten Opfern und Objekten der "konjunkturellen Aufwinde und Flauten" zählen, zu Tätern stilisiert.

Dagegen begreifen sich die Jugendlichen dieser Szene selbst als Opfer und Objekte. Die "jungen Menschen haben eine sehr schlechte Beziehung zu sich selbst. Das gipfelt häufig in Selbsthaß. Entsprechend labil und schwach ist ihr Selbstwertgefühl. Das aber möbeln die Neonazis in ihren Cliquen auf. Da fühlen sie sich geachtet, da haben sie einen Wert."6 Bei den Persönlichkeitsstrukturen rechtsradikaler Täter handle es sich überwiegend um schwache Persönlichkeiten mit "deutlichen Unreifezeichen", "unterdurchschnittlicher intellektueller Leistungsfähigkeit" und mit "schweren Sozialisationsstörungen", die "Orientierung ganz offensichtlich in rand-sozialen Gruppierungen der Skin-Kultur mit dem entsprechend rechtsradikal orientierten Gedankengut" suchen, attestierte der Kieler Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Gerd Schütze als Gutachter in verschiedenen Verfahren.7

Solche Erklärungsversuche entschuldigen die Gesellschaft und schieben das abnorme Verhalten der Jugendlichen auf deren eignes Versagen, den unzulänglichen Reife- und Erkenntnisfähigkeitsgrad. Dabei verkennen beide Experten, daß das psychische Problem dieser Menschen durchaus auch ein gesellschaftliches ist und als Begleiterscheinung des neoliberalen Wirtschaft- und Sozialsystems begriffen werden muß. Das eigentlich skandalöse an der Jugendarbeitslosigkeit ist nämlich von der Höhe der Arbeitslosenquote unabhängig und liegt auch nicht in der materiellen Notlage der Arbeitslosen begründet, denn kaum ein Jugendlicher ohne Job muß in Deutschland hungern.

Dagegen mach die Jugendlichen die schockierende Erfahrung, daß die Gesellschaft um sie herum, die sich immer wieder für die Bewertung der Menschen nach Leistung ausspricht, auf ihre Leistung keinen Wert legt. Diese Erfahrung wird sogar noch mit gutgemeinten Versuchen bekräftigt, die das Problem der Jugendarbeitslosigkeit lindern oder lösen sollen. Appelle an ArbeitgeberInnen, doch endlich genügend Lehrstellen und Arbeitsplätze zu schaffen, sind politisch vielleicht sinnvoll. Aber an solchen Bittgesuchen können Jugendliche auch weiterhin erkennen: Es geht nicht darum, daß ihr wirklich gebraucht werdet, ihr sollt nur beschäftigt werden. Wenn Arbeitsplätze aber wie Almosen vergeben werden, können sie deren Empfänger kaum als identitätsstiftende Bestätigung auffassen.

Die Anforderungen an den oder die sich qualifizierende MarktteilnehmerIn, sich zu individualisieren, bedeuten im neoliberalen Verständnis in erster Linie: JedeR ist sich selbst die/der Nächste und muß sich im Wettlauf mit den anderen MarktteilnehmerInnen als der oder die schnellere behaupten. Der Verdrängungskampf in der Gesellschaft begegnet den Jugendlichen nicht erst bei der Arbeitsuche.

Identität in der Kameradschaft

Neonazistische Jugendgruppen bieten bei dieser Orientierungssuche eine scheinbar umfassende "Problemlösung" an. Für den Verlust der gesellschaftlichen Bestätigung durch Leistung und Arbeit bieten sie eine Identität als "Kämpfer", als "Elite", als "Vorhut". Für den Verlust sozialer Solidarität in Schule, Ausbildung und Beruf bieten sie unter dem Leitwort "Kameradschaft" personale Gemeinschaft innerhalb eines verschworenen Gruppenzusammenhangs. Anstelle der allgegenwärtigen Bewertung der einzelnen nach ihrer in Noten und Quoten bemessenen Einzelleistung verleihen sie ihren Mitgliedern einen leistungslos gewährten Glanz kraft Zugehörigkeit.

Die in den letzten Jahren ständig an Zulauf gewinnenden neonazistischen Gruppen problematisieren und organisieren reale Nöte Jugendlicher, die aus realen Mängeln des Systems erwachsen sind, um damit ihre Inhalte zu transportieren. Das fängt an bei einfachen und deswegen eingängigen Schuldzuweisungen und reicht bis zu großzügigen Schenkungen, mit deren Hilfe der jugendliche Nachwuchs geworben wird. Dabei kommt es nicht selten vor, daß gutbetuchte Neofaschisten ihre Parteikader in unterentwickelte Regionen Ostdeutschland delegieren und an die einheimische Jugend Geldgeschenke unter der Auflage verteilen, sich dafür Springerstiefel und Bomberjacken zu kaufen. Dann hören sie, wie wichtig sie für den Aufbau der Zukunft sind und daß jetzt alle national gesinnten Kräfte zusammenhalten müssen, um gegen die drohende Vermischung der Rassen und die Auswüchse des Kapitalismus gewappnet zu sein. So wird in Deutschland Identität gestiftet!

Demgegenüber versagen die ohnehin in den ländlichen Regionen nur selten anzutreffenden politischen Jugendorganisationen demokratischer und gewerkschaftlicher Herkunft. Rein theoretisch-abstrakte und strategische Debatten über Verhaltensweisen nach außen, als bloßer Akkreditierungspool für spätere Funktionärskarrieren, ohne organisationsinterne praktische Solidarität und Hilfe unter den Mitgliedern, graben demokratischen Jugendgruppen das Wasser ab. Rechtsextremistische Organisationen werden in dem Maße an Boden gewinnen, in dem sich die Entwicklung demokratischer Jugendorganisationen zu anonymen Apparaten und Politikmaschinen weiter fortsetzt. Bei dieser Entwicklung tragen die Partei- und Gewerkschaftsführungen maßgebliche Verantwortung, die durch ihr arrogant-ignorantes Verhalten gegenüber den Jugendverbänden die aktuelle Vertrauenskrise provoziert haben.

Aber "Kameradschaft" wird als mehr empfunden als nur geglückte intellektuelle Verständigung zwischen Parteiführung und Basis. Ebenso wie die Solidarität unter den links bis linksradikalen Jugendorganisationen zentrale Identifikation bedeutet,8 stellt die Kameradschaft als feste soziale Gruppenbindung in alle Lebensbereiche hinein (also auch in den Knast und auf der Flucht aus ihm heraus) als Familienersatz die feste Basis in dem unreflektiert übernommenen neofaschistischen Weltbild dar. Schon deswegen haben Faschisten ihre Politik immer eher für den Bauch gemacht als für den Kopf.

Auf der anderen Seite wird das Kameradschaftsbild auch durch eine Reihe real existierender Gegensätze getrübt. Der relativ leichte Einstieg in die Szene und das schnelle Kennenlernen bedeutet nämlich keinesfalls, daß sich deren Mitglieder untereinander gut kennen oder viel voneinander wissen. Es wird nur oberflächlich miteinander gesprochen und wenig voneinander erzählt. Der restriktive Code der soldatischen Skinheads trägt zur Erhaltung der Gruppensolidarität auf Kosten der individuellen Ausdrucksfähigkeit bei. "Ohne differenzierte Interpretationskompetenz sind sie schutzlos der sich schnell wandelnden Realität ausgeliefert. Sie haben die Lösungskraft von Sprache in Konflikten nicht kennengelernt."9

Resozialisierung in der Gesellschaft

Die Resozialisierung von Strafgefangenen wird stets in dem Maße zum Scheitern verurteilt sein, in dem die Gesellschaft zu ihrer Integration nicht bereit und als reales Empfinden härter ist als der Strafvollzug selbst. Dahinter steckt aber nicht die Forderung nach härteren Haftbedingungen, sondern die Überlegung, daß in der Haftzeit nicht nur die Gesellschaft vor den Gefangenen, sondern auch der oder die Gefangene vor der ihm bzw. ihr oft feindlichen Gesellschaft bewahrt wird - dies jedoch gegen seinen bzw. ihren Willen und Freiheitsdrang. Daher läßt sich das Vollzugsverhalten nur schwerlich auf ein adäquates Sozialverhalten außerhalb der Haftanstalt abstrahieren. Gesellschaftliche und systemimmanente Umstände, die Menschen zu StraftäterInnen machen oder in rechtsextreme Strukturen hineindrängen, werden sich im Knast nicht lösen lassen und werden nach der Haftentlassung als nicht weniger hart empfunden als vor der Inhaftierung. Insofern ist die Resozialisierung des Individuums von einer notwendigen Resozialisierung der Gesellschaft kaum zu trennen und muß die Resozialisierung der oder des Einzelnen letztlich auch in der Gesellschaft stattfinden.

Im Hinblick auf rechtsextreme StraftäterInnen heißt dies zunächst, daß die Politik zu einem sensiblen Umgang mit rechtsradikal propagierten Themen findet und gerade in der AusländerInnenpolitik nicht durch staatlich praktizierten und politisch aufgebauschten Rassismus rechtsextreme Positionen übernimmt. Nicht nur konservative PolitkerInnen haben es in der letzten Zeit zunehmend verstanden, rechtsextremes Gedankengut durch "ungeschickte Formulierungen" salonfähig zu machen.

Zudem ist die Notwendigkeit jeder Resozialisierungsmaßnahme Beweis für unterbliebene Hilfe bei der Identitätssuche der oder des Einzelnen in der Gesellschaft. Dies muß neben echten Bildungsmöglichkeiten von Sonderschulen bis hin zu freiem Hochschulzugang mit entsprechender finanzieller Absicherung insbesondere in vernünftiger und verantwortungsvoller Jugendarbeit geschehen. Dabei ist in der Vergangenheit jede Menge falsch gemacht worden. Insbesondere die "tolerierende Jugendarbeit", die in vielleicht heimlicher Akzeptanz in erster Linie Anlaufstelle und Heimat sein wollte, ohne sich mit dem rechtsextremen Gewalt- und Gedankenpotential auseinanderzusetzen, hat infrastrukturelle Netze zum Aufbau und zur Durchsetzung rechtsextremer Strukturen entstehen lassen, die sich parteipolitisch verselbständigten. Die BetreuerInnen waren entweder hoffnungslos überfordert, weil die klassischen Methoden der offenen Jugendsozialarbeit versagten, oder wechselten selbst ins rechte Lager.

Verantwortungsvolle Jugendarbeit muß den schwierigen Weg finden, rechtsextreme Jugendliche als Opfer zu behandeln und ihnen durch Gespräche, Verständnis und gemeinsame Perspektivensuche die Ängste vor einer Integration in der Gesellschaft zu nehmen, ohne andererseits die Opfer rechtsextremer Gewalt zu vernachlässigen. So dürfte der Abbau von Vorurteilen und Ängsten vor fremden Kulturen durch Austausch und Begegnung ebenso wichtig sein wie die Konfrontation mit dem rechtsradikalen Deutschlandbild. Das meint aber nicht die abstrakt-absolute Schuldetikettierung der Deutschen als moralische Erben des Nationalsozialismus. Kein Jugendlicher trägt Verantwortung für die Verbrechen des Dritten Reiches. Eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus muß sich also zum Ziel setzen, den konkret individuellen Selbsterkenntnisprozeß der Jugendlichen so zu fördern, daß eine Identifikation mit den Verantwortlichen des Terrorregimes unterbleibt und schließlich in selbsterklärte Ablehnung einmündet.

Dabei ist äußerst vorsichtig mit den Jugendlichen und ihren Vorstellungen umzugehen; handelt es sich doch letztlich um die völlige Abkehr von ihrem bisherigen Weltbild, bei der sich die zumeist schwächer begabten Jugendlichen nicht in Perspektivlosigkeit verlieren dürfen. In diesem Zusammenhang ist nichts unangebrachter als selbstgerechter Antifaschismus.

Die neonazistischen Elemente eigenen Denkens müssen den Jugendlichen gerade im Hinblick auf ihr oft gewalttätiges Handeln bewußt gemacht und Vorstellungen von lebensunwerter Existenz überwunden werden, die nicht zuletzt eigene Existenzängste kompensieren. Dabei muß ihnen jedoch eine überzeugende Alternative zum neofaschistischen Ideengut angeboten werden, das zwar Mittler, nicht aber Grund für viele Jugendliche ist, sich rechtsradikalen Gruppierungen anzuschließen. Auf der Suche nach Geborgenheit, Wir-Gefühl, Anerkennung unter Gleichaltrigen als gesellschaftlicher Bezugspunkt und verbindlichen Lebensregeln genügen keine altklugen Ratschläge. Es gilt vielmehr die Jugendlichen mit Verantwortung zu konfrontieren an der sie selbst zu wachsen verstehen, wobei sie freilich begleitet werden müssen.

Schließlich bedarf es über bloße Beschäftigungskonzepte hinaus wirklicher Berufsangebote, die sozialen Halt und Verantwortungsbewußtsein gegenüber der Gemeinschaft vor der Selbstgeltung garantieren. Dabei sollte auch über die Herabsetzung des Rentenalters neu diskutiert werden. Soziales Handlungs- und Verantwortungsbewußtsein kann natürlich nicht erst im Berufsleben ausgebildet werden, sondern sollte als pädagogischer Auftrag Ziel jeder Schulbildung sein. Wenn bei diesen Überlegungen die Theorie von einem derzeit nicht existierendem Gesellschaftssystem zum Vorschein gekommen sein mag, so ist dies kein Zufall.

Richter Herkules


  1. Junge Welt, 31. August 2000, S. 1.

  2. Berliner Zeitung, 31. August 2000, S. 3.

  3. Hasseln, Sigrun v.: Wenn Bettnässer Weltpolitik machen, in: Betrifft Justiz Nr. 63, September 2000, S. 306.

  4. siehe: das freischüßler, 3/2000, S. 8 ff.

  5. Müller-Münch, Ingrid: Biedermänner und Brandstifter, Fremdenfeindlichkeit vor Gericht, Bonn 1998, S. 243 ff.

  6. Prof. Christian Eggers im Interview, in: Stern 26/2000, S. 35.

  7. zitiert in: Betrifft Justiz Nr. 63, September 2000, S. 306.

  8. Nicht umsonst hat sich die "Rote Hilfe e.V." das Leitwort gegeben: "Solidarität ist eine Waffe!"

  9. Reiner Erb, Rechtsextremistische Gruppengewalt in den neuen Bundesländern, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Rechtsextremismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1994, S. 113.

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