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Der Glatzenknast
Rechtsextremismus und Resozialisierung
Am 30. August 2000 verurteilte der erste Strafsenat des Oberlandesgerichts
von Sachsen-Anhalt den 24jährigen Bäcker Enrico H. wegen Mordes
zu lebenslanger Haft und die 16jährigen Schulabbrecher Frank M. und
Christian R. zu je neun Jahren Jugendstrafe. Die drei Skinheads, als rechtsradikale
Schläger polizeibekannt, hatten in der Nacht zum 11. Juni den mosambikanischen
Familienvater Alberto Adriano in Dessau so brutal zusammengeschlagen und
-getreten, daß er drei Tage später an seinen Schädel-
und Hirnverletzungen starb. Die Täter hatten nicht nur brutal auf
ihr Opfer eingeschlagen, sondern ihm auch seiner Kleidung beraubt, um
ihn zusätzlich zu demütigen.1
Mit diesem Urteil ging ein aufsehenerregender Prozeß zuende, bei
dem das Gericht nur knapp unter dem Strafantrag der Bundesanwaltschaft
geblieben war. Dabei trat - nicht zuletzt des öffentlichen Druckes
wegen - erstmals ein Abweichen von der bisherigen Rechtsprechung im Umgang
mit rechtsextremen Gewalttaten zu Tage. Nicht wie sonst praktiziert wurde
zugunsten der Angeklagten zwar der Körperverletzungsvorsatz angenommen,
der Tötungsvorsatz aber verneint, so daß allenfalls wegen Körperverletzung
mit Todesfolge gem. § 227 StGB verurteilt würde, sondern
von vornherein die billigende Inkaufnahme des Todes angenommen.
In der Urteilsbegründung hieß es, die Täter hätten
den Afrikaner aus niederen Beweggründen getötet. Die Tat sei
aus Rassenhaß geschehen. Der Tod sei in ihren Köpfen gewesen.
Gewalt habe den Alltag der drei Skins beherrscht.2
Da die Täter aus purem AusländerInnenhaß gehandelt hätten,
können die Schläge und Tritte nicht anders gewertet werden als
Mord.
Die Reaktionen auf das Urteil wurden getragen von großer Erleichterung
in die Einsichts- und Handlungsfähigkeit der deutschen Justiz. Bundeskanzler
Gerhard Schröder (SPD) erklärte sogar, das Urteil zeige, "daß
Staat, Polizei und Justiz unabhängig voneinander neue Grenzen setzen,
die niemand überschreiten soll." Damit werde für die deutsche
und internationale Öffentlichkeit klar, "wie wir mit diesem
Problem umzugehen gedenken." Würde diese Behauptungen auch nur
ansatzweise stimmen, so wären weder Hoyerswerda noch Rostock möglich
gewesen und würde Alberto Adriano wahrscheinlich noch leben.
Nur leise ertönen die Rufe von BewahrerInnen der Rechtssicherheit,
die vor einer Instrumentalisierung der Justiz durch Politik, Verwaltung,
Wirtschaft und Medien warnen. Die Justiz müsse Garant "für
die Wahrung der Menschenwürde in unserem Staat nach allen Seiten
sein und auch in etwaigen Krisenzeiten bleiben."3
Das gelte insbesondere gegenüber jedem bzw. jeder Angeklagten, und
zwar unabhängig von Art und Umfang des vorgeworfenen Delikts.
Indes, das Urteil ist gesprochen, der Politik hängen vom fleißigen
Schulterklopfen die Polster durch, die Zeitschriften haben ihre Titelseiten
für einen Tag gefüllt, die zurückgebliebene und mehrfach
ihres Lebens bedrohte Witwe des Ermordeten und seine drei Kinder sind
längst vergessen, die Öffentlichkeit wiegt sich in trügerischer
Sicherheit und wähnt die grausamen Täter in den sicheren Händen
der Justiz, dem Zwischen- bzw. Endlager für den menschlichen Abfall
der Gesellschaft. Das Problem ist weggeschlossen und also bewältigt.
Die wahren "Helden" sitzen im Knast
Das Erwachen ist groß, als sich wenige Tage später - jeder
Abschreckungswirkung von Strafe zum Trotz - rechtsextremistische Gewalttaten
in der gesamten Bundesrepublik häufen. Einige Landesregierungen,
darunter Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, erwägen den Erlaß
schärferer Strafgesetze mit längeren Haftstrafen gegen rechte
GewalttäterInnen. Auch eine Herabsetzung der Strafmündigkeit
von 14 auf 12 Jahre wird diskutiert. Auf Bundesebene werden Parteienverbote
nach Art. 21 II geprüft.4
Man beschäftigt sich mit denen, die noch "draußen"
sind. Aber was ändert sich, wenn alle rechtsradikale StraftäterInnen
weggesperrt sind? Die Probleme dieser Gesellschaft lösen sich dadurch
jedenfalls nicht. Untersuchungsergebnisse zeigen, "daß Gefängnisstrafen
keinen abschreckenden Effekt" haben, sondern "im Gegenteil rechte
Karrieren befördern."5
Denn Strafvollzug verfestigt rechtsextreme Orientierung und die Bereitschaft
zur Gewaltanwendung. Der oder die Gefangene bestätigt den Regelkreis
von Macht und Ohnmacht, auf dem das Funktionieren des Gefängnisses
im Großen wie im Kleinen basiert. Haß gegen den Fremden, den
"Kanaken" als sozial Schwächeren kompensieren eigene Ohnmachtserfahrungen.
Er bleibt deshalb das zentrale Feindbild, gegen den sich in projektiver
Abwehr die Angst vor der eigenen sozialen Deklassierung wendet. Dadurch
wird ein Teil der Aggressionen abgearbeitet, die sich eigentlich gegen
die Anstalt und ihre Zwänge richten. Es wird das Verhalten fortgeführt,
was in der Struktur des Knastes angelegt ist: Die Gewöhnung an Gewalt.
Im
gemeinsamen Kampf gegen Überfremdung, das Feindbild vor Augen und
mit teutonischer Opferbereitschaft, nehmen rechtsextreme Strafgefangene
so manche Haftstrafe mit übersteigertem und selbstgerechtem Märtyrerbewußtsein
kommentarlos entgegen. Fressen den Haß in sich hinein, den keinE
AußenstehendeR mit ihnen verarbeitet und warten auf die Stunde ihrer
Rache.
Aber nicht nur die Orientierung, auch die rechtsradikale Organisation
und Vernetzung wirkt bis tief in die Strukturen des Vollzugssystems hinein.
Die große Anzahl rechtsorientierter Jugendlicher und junger Erwachsener
im Strafvollzug schafft Kontakte und zieht selbst Außenstehende
in Strukturen hinein, aus denen sie sich nach ihrer Entlassung nicht ohne
weiteres lösen können und zumeist auch nicht wollen. Geteiltes
Leid ist halbes Leid - Gefangensein schafft Identität und lang entbehrtes
Verständnis, vor allem in der gegenüber Strafentlassenen kontaktscheuen
und argwöhnischen Außenwelt. So ist es durchaus keine Seltenheit,
daß die Gefangenenmitverantwortung (GMV) von einsitzenden NPD-Funktionären
dominiert wird, die in der Hierarchie der Gefangenen ganz oben logieren
und einen nicht unmaßgeblichen Einfluß nach innen mit genügend
Kontakten nach außen haben.
Dabei kommt ihnen noch zu gute, daß so manche BeamtInnen im Strafvollzug,
sei es aus Sympathie mit der Gesinnung, sei es aus Bequemlichkeit und
Angst vor einer Konfrontation mit den Gefangenen oder sei es auch einfach
aus Unkenntnis und mangelnder Sensibilisierung gegenüber den Machtstrukturen
in der Gefangenenhierarchie, dem offenen Ausleben der Propaganda mittels
Tonträgern, Zeitschriften und persönlicher "Überzeugungsarbeit"
Tür und Tor öffnen. Eine Herauslösung jugendlicher StraftäterInnen
aus der rechten Szene und perspektivenschaffende Resozialisierung findet
nicht statt oder nur selten.
Die Einschätzung, daß die Vollstreckung von freiheitsentziehenden
Maßnahmen bei rechten GewalttäterInnen nur bedingt erzieherische
Wirkung zeigt, kann anderseits aber auch nicht heißen, anders zu
reagieren als in vergleichbaren Fällen, in denen die TäterInnen
ohne politische Intension gehandelt haben. Die Frage, die sich hier stellt,
ist vielmehr, wie Politik und Gesellschaft zusammenwirken müssen,
um die Grundlagen für den Erfolg einer tatsächliche Resozialisierung
im Strafvollzug zu schaffen. Bei ihrer Beantwortung werden wir um einen
Blick auf die Ursachen von Rechtsextremismus nicht umhin kommen.
Die Skinszene
Zunächst ist festzustellen, daß die Skinszene ein an sich
eher unpolitisches Jugendspektrum darstellt, in dem sowohl rechte wie
linke Jugendliche beheimatet sind, und das nicht selten in friedlicher
Koexistenz. Dabei wirken gemeinsame Musik, Lebensverständnis, Kleidung
und gemeinsames Erleben nicht zuletzt unter Alkoholeinfluß identitätsstiftend.
Seien es nun Babyskins, Oi-Skins, Modeskins, Faschoskins (Naziglatzen,
Boneheads) oder Redskins, für viele Neulinge in Stadt und Szene sind
sie Familienersatz. Die von AnhängerInnen dieser Szene begangenen
Straftaten haben auch keinesfalls unbedingt einen politischen oder gar
neofaschistischen Hintergrund. Größtenteils sind es Straftaten
aus dem Bereich der allgemeinen Kriminalität mit zumeist deutschen
Opfern. Besonders erstinhaftierten Jugendliche und junge Erwachsene aus
dieser Szene sind daher vor einem Abgleiten in den organisierten Neofaschismus
zu bewahren.
Identität in der Gesellschaft
Jugendarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit, die Einfachheit nicht-hinterfragter
Schuldzuweisungen an sozial Schwächere dürfte wohl die größte
Stütze des Propagandasystems dieser Gruppen darstellen. Dabei ist
im Zuge des Erlebens der negativen Auswirkungen von Vereinigung, Globalisierung,
Kapitalismus und Eurozentrierung die Rückbesinnung auf Volksgemeinschaft
und Volkssozialismus scheinbar logischer Umkehrschluß. So läßt
sich die AusländerInnenfeindlichkeit dieser Gruppen mit scheinbar
rationalen Gründen bekräftigen. Innerhalb der neonazistischen
und –faschistischen Gruppen wird die Angst der deutschen Jugendlichen
auf den ebenso sinnfälligen wie falschen Nenner gebracht: "Ausländer
raus! Deutsche Arbeitsplätze für deutsche Arbeiter!" Es
versteht sich von selbst, daß es nicht im Interesse faschistischer
Organisationen liegt, die Haltlosigkeit dieser ökonomischen Milchmädchenrechnung
zu erklären. So werden die angefeindeten ausländischen ArbeiterInnen,
die zu den seit Jahren deutlichsten Opfern und Objekten der "konjunkturellen
Aufwinde und Flauten" zählen, zu Tätern stilisiert.
Dagegen begreifen sich die Jugendlichen dieser Szene selbst als Opfer
und Objekte. Die "jungen Menschen haben eine sehr schlechte Beziehung
zu sich selbst. Das gipfelt häufig in Selbsthaß. Entsprechend
labil und schwach ist ihr Selbstwertgefühl. Das aber möbeln
die Neonazis in ihren Cliquen auf. Da fühlen sie sich geachtet, da
haben sie einen Wert."6 Bei
den Persönlichkeitsstrukturen rechtsradikaler Täter handle es
sich überwiegend um schwache Persönlichkeiten mit "deutlichen
Unreifezeichen", "unterdurchschnittlicher intellektueller Leistungsfähigkeit"
und mit "schweren Sozialisationsstörungen", die "Orientierung
ganz offensichtlich in rand-sozialen Gruppierungen der Skin-Kultur mit
dem entsprechend rechtsradikal orientierten Gedankengut" suchen,
attestierte der Kieler Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Gerd Schütze
als Gutachter in verschiedenen Verfahren.7
Solche Erklärungsversuche entschuldigen die Gesellschaft und schieben
das abnorme Verhalten der Jugendlichen auf deren eignes Versagen, den
unzulänglichen Reife- und Erkenntnisfähigkeitsgrad. Dabei verkennen
beide Experten, daß das psychische Problem dieser Menschen durchaus
auch ein gesellschaftliches ist und als Begleiterscheinung des neoliberalen
Wirtschaft- und Sozialsystems begriffen werden muß. Das eigentlich
skandalöse an der Jugendarbeitslosigkeit ist nämlich von der
Höhe der Arbeitslosenquote unabhängig und liegt auch nicht in
der materiellen Notlage der Arbeitslosen begründet, denn kaum ein
Jugendlicher ohne Job muß in Deutschland hungern.
Dagegen
mach die Jugendlichen die schockierende Erfahrung, daß die Gesellschaft
um sie herum, die sich immer wieder für die Bewertung der Menschen
nach Leistung ausspricht, auf ihre Leistung keinen Wert legt. Diese Erfahrung
wird sogar noch mit gutgemeinten Versuchen bekräftigt, die das Problem
der Jugendarbeitslosigkeit lindern oder lösen sollen. Appelle an
ArbeitgeberInnen, doch endlich genügend Lehrstellen und Arbeitsplätze
zu schaffen, sind politisch vielleicht sinnvoll. Aber an solchen Bittgesuchen
können Jugendliche auch weiterhin erkennen: Es geht nicht darum,
daß ihr wirklich gebraucht werdet, ihr sollt nur beschäftigt
werden. Wenn Arbeitsplätze aber wie Almosen vergeben werden, können
sie deren Empfänger kaum als identitätsstiftende Bestätigung
auffassen.
Die Anforderungen an den oder die sich qualifizierende MarktteilnehmerIn,
sich zu individualisieren, bedeuten im neoliberalen Verständnis in
erster Linie: JedeR ist sich selbst die/der Nächste und muß
sich im Wettlauf mit den anderen MarktteilnehmerInnen als der oder die
schnellere behaupten. Der Verdrängungskampf in der Gesellschaft begegnet
den Jugendlichen nicht erst bei der Arbeitsuche.
Identität in der Kameradschaft
Neonazistische Jugendgruppen bieten bei dieser Orientierungssuche eine
scheinbar umfassende "Problemlösung" an. Für den Verlust
der gesellschaftlichen Bestätigung durch Leistung und Arbeit bieten
sie eine Identität als "Kämpfer", als "Elite",
als "Vorhut". Für den Verlust sozialer Solidarität
in Schule, Ausbildung und Beruf bieten sie unter dem Leitwort "Kameradschaft"
personale Gemeinschaft innerhalb eines verschworenen Gruppenzusammenhangs.
Anstelle der allgegenwärtigen Bewertung der einzelnen nach ihrer
in Noten und Quoten bemessenen Einzelleistung verleihen sie ihren Mitgliedern
einen leistungslos gewährten Glanz kraft Zugehörigkeit.
Die in den letzten Jahren ständig an Zulauf gewinnenden neonazistischen
Gruppen problematisieren und organisieren reale Nöte Jugendlicher,
die aus realen Mängeln des Systems erwachsen sind, um damit ihre
Inhalte zu transportieren. Das fängt an bei einfachen und deswegen
eingängigen Schuldzuweisungen und reicht bis zu großzügigen
Schenkungen, mit deren Hilfe der jugendliche Nachwuchs geworben wird.
Dabei kommt es nicht selten vor, daß gutbetuchte Neofaschisten ihre
Parteikader in unterentwickelte Regionen Ostdeutschland delegieren und
an die einheimische Jugend Geldgeschenke unter der Auflage verteilen,
sich dafür Springerstiefel und Bomberjacken zu kaufen. Dann hören
sie, wie wichtig sie für den Aufbau der Zukunft sind und daß
jetzt alle national gesinnten Kräfte zusammenhalten müssen,
um gegen die drohende Vermischung der Rassen und die Auswüchse des
Kapitalismus gewappnet zu sein. So wird in Deutschland Identität
gestiftet!
Demgegenüber versagen die ohnehin in den ländlichen Regionen
nur selten anzutreffenden politischen Jugendorganisationen demokratischer
und gewerkschaftlicher Herkunft. Rein theoretisch-abstrakte und strategische
Debatten über Verhaltensweisen nach außen, als bloßer
Akkreditierungspool für spätere Funktionärskarrieren, ohne
organisationsinterne praktische Solidarität und Hilfe unter den Mitgliedern,
graben demokratischen Jugendgruppen das Wasser ab. Rechtsextremistische
Organisationen werden in dem Maße an Boden gewinnen, in dem sich
die Entwicklung demokratischer Jugendorganisationen zu anonymen Apparaten
und Politikmaschinen weiter fortsetzt. Bei dieser Entwicklung tragen die
Partei- und Gewerkschaftsführungen maßgebliche Verantwortung,
die durch ihr arrogant-ignorantes Verhalten gegenüber den Jugendverbänden
die aktuelle Vertrauenskrise provoziert haben.
Aber "Kameradschaft" wird als mehr empfunden als nur geglückte
intellektuelle Verständigung zwischen Parteiführung und Basis.
Ebenso wie die Solidarität unter den links bis linksradikalen Jugendorganisationen
zentrale Identifikation bedeutet,8
stellt die Kameradschaft als feste soziale Gruppenbindung in alle Lebensbereiche
hinein (also auch in den Knast und auf der Flucht aus ihm heraus) als
Familienersatz die feste Basis in dem unreflektiert übernommenen
neofaschistischen Weltbild dar. Schon deswegen haben Faschisten ihre Politik
immer eher für den Bauch gemacht als für den Kopf.
Auf der anderen Seite wird das Kameradschaftsbild auch durch eine Reihe
real existierender Gegensätze getrübt. Der relativ leichte Einstieg
in die Szene und das schnelle Kennenlernen bedeutet nämlich keinesfalls,
daß sich deren Mitglieder untereinander gut kennen oder viel voneinander
wissen. Es wird nur oberflächlich miteinander gesprochen und wenig
voneinander erzählt. Der restriktive Code der soldatischen Skinheads
trägt zur Erhaltung der Gruppensolidarität auf Kosten der individuellen
Ausdrucksfähigkeit bei. "Ohne differenzierte Interpretationskompetenz
sind sie schutzlos der sich schnell wandelnden Realität ausgeliefert.
Sie haben die Lösungskraft von Sprache in Konflikten nicht kennengelernt."9
Resozialisierung in der Gesellschaft
Die Resozialisierung von Strafgefangenen wird stets in dem Maße
zum Scheitern verurteilt sein, in dem die Gesellschaft zu ihrer Integration
nicht bereit und als reales Empfinden härter ist als der Strafvollzug
selbst. Dahinter steckt aber nicht die Forderung nach härteren Haftbedingungen,
sondern die Überlegung, daß in der Haftzeit nicht nur die Gesellschaft
vor den Gefangenen, sondern auch der oder die Gefangene vor der ihm bzw.
ihr oft feindlichen Gesellschaft bewahrt wird - dies jedoch gegen seinen
bzw. ihren Willen und Freiheitsdrang. Daher läßt sich das Vollzugsverhalten
nur schwerlich auf ein adäquates Sozialverhalten außerhalb
der Haftanstalt abstrahieren. Gesellschaftliche und systemimmanente Umstände,
die Menschen zu StraftäterInnen machen oder in rechtsextreme Strukturen
hineindrängen, werden sich im Knast nicht lösen lassen und werden
nach der Haftentlassung als nicht weniger hart empfunden als vor der Inhaftierung.
Insofern ist die Resozialisierung des Individuums von einer notwendigen
Resozialisierung der Gesellschaft kaum zu trennen und muß die Resozialisierung
der oder des Einzelnen letztlich auch in der Gesellschaft stattfinden.
Im
Hinblick auf rechtsextreme StraftäterInnen heißt dies zunächst,
daß die Politik zu einem sensiblen Umgang mit rechtsradikal propagierten
Themen findet und gerade in der AusländerInnenpolitik nicht durch
staatlich praktizierten und politisch aufgebauschten Rassismus rechtsextreme
Positionen übernimmt. Nicht nur konservative PolitkerInnen haben
es in der letzten Zeit zunehmend verstanden, rechtsextremes Gedankengut
durch "ungeschickte Formulierungen" salonfähig zu machen.
Zudem ist die Notwendigkeit jeder Resozialisierungsmaßnahme Beweis
für unterbliebene Hilfe bei der Identitätssuche der oder des
Einzelnen in der Gesellschaft. Dies muß neben echten Bildungsmöglichkeiten
von Sonderschulen bis hin zu freiem Hochschulzugang mit entsprechender
finanzieller Absicherung insbesondere in vernünftiger und verantwortungsvoller
Jugendarbeit geschehen. Dabei ist in der Vergangenheit jede Menge falsch
gemacht worden. Insbesondere die "tolerierende Jugendarbeit",
die in vielleicht heimlicher Akzeptanz in erster Linie Anlaufstelle und
Heimat sein wollte, ohne sich mit dem rechtsextremen Gewalt- und Gedankenpotential
auseinanderzusetzen, hat infrastrukturelle Netze zum Aufbau und zur Durchsetzung
rechtsextremer Strukturen entstehen lassen, die sich parteipolitisch verselbständigten.
Die BetreuerInnen waren entweder hoffnungslos überfordert, weil die
klassischen Methoden der offenen Jugendsozialarbeit versagten, oder wechselten
selbst ins rechte Lager.
Verantwortungsvolle Jugendarbeit muß den schwierigen Weg finden,
rechtsextreme Jugendliche als Opfer zu behandeln und ihnen durch Gespräche,
Verständnis und gemeinsame Perspektivensuche die Ängste vor
einer Integration in der Gesellschaft zu nehmen, ohne andererseits die
Opfer rechtsextremer Gewalt zu vernachlässigen. So dürfte der
Abbau von Vorurteilen und Ängsten vor fremden Kulturen durch Austausch
und Begegnung ebenso wichtig sein wie die Konfrontation mit dem rechtsradikalen
Deutschlandbild. Das meint aber nicht die abstrakt-absolute Schuldetikettierung
der Deutschen als moralische Erben des Nationalsozialismus. Kein Jugendlicher
trägt Verantwortung für die Verbrechen des Dritten Reiches.
Eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus muß sich also
zum Ziel setzen, den konkret individuellen Selbsterkenntnisprozeß
der Jugendlichen so zu fördern, daß eine Identifikation mit
den Verantwortlichen des Terrorregimes unterbleibt und schließlich
in selbsterklärte Ablehnung einmündet.
Dabei ist äußerst vorsichtig mit den Jugendlichen und ihren
Vorstellungen umzugehen; handelt es sich doch letztlich um die völlige
Abkehr von ihrem bisherigen Weltbild, bei der sich die zumeist schwächer
begabten Jugendlichen nicht in Perspektivlosigkeit verlieren dürfen.
In diesem Zusammenhang ist nichts unangebrachter als selbstgerechter Antifaschismus.
Die neonazistischen Elemente eigenen Denkens müssen den Jugendlichen
gerade im Hinblick auf ihr oft gewalttätiges Handeln bewußt
gemacht und Vorstellungen von lebensunwerter Existenz überwunden
werden, die nicht zuletzt eigene Existenzängste kompensieren. Dabei
muß ihnen jedoch eine überzeugende Alternative zum neofaschistischen
Ideengut angeboten werden, das zwar Mittler, nicht aber Grund für
viele Jugendliche ist, sich rechtsradikalen Gruppierungen anzuschließen.
Auf der Suche nach Geborgenheit, Wir-Gefühl, Anerkennung unter Gleichaltrigen
als gesellschaftlicher Bezugspunkt und verbindlichen Lebensregeln genügen
keine altklugen Ratschläge. Es gilt vielmehr die Jugendlichen mit
Verantwortung zu konfrontieren an der sie selbst zu wachsen verstehen,
wobei sie freilich begleitet werden müssen.
Schließlich bedarf es über bloße Beschäftigungskonzepte
hinaus wirklicher Berufsangebote, die sozialen Halt und Verantwortungsbewußtsein
gegenüber der Gemeinschaft vor der Selbstgeltung garantieren. Dabei
sollte auch über die Herabsetzung des Rentenalters neu diskutiert
werden. Soziales Handlungs- und Verantwortungsbewußtsein kann natürlich
nicht erst im Berufsleben ausgebildet werden, sondern sollte als pädagogischer
Auftrag Ziel jeder Schulbildung sein. Wenn bei diesen Überlegungen
die Theorie von einem derzeit nicht existierendem Gesellschaftssystem
zum Vorschein gekommen sein mag, so ist dies kein Zufall.
Richter Herkules
-
Junge Welt, 31. August 2000, S. 1.
-
Berliner Zeitung, 31. August 2000, S.
3.
-
Hasseln, Sigrun v.: Wenn Bettnässer
Weltpolitik machen, in: Betrifft Justiz Nr. 63, September 2000, S.
306.
-
siehe: das freischüßler, 3/2000,
S. 8 ff.
-
Müller-Münch, Ingrid: Biedermänner
und Brandstifter, Fremdenfeindlichkeit vor Gericht, Bonn 1998, S.
243 ff.
-
Prof. Christian Eggers im Interview, in:
Stern 26/2000, S. 35.
-
zitiert in: Betrifft Justiz Nr. 63, September
2000, S. 306.
-
Nicht umsonst hat sich die "Rote
Hilfe e.V." das Leitwort gegeben: "Solidarität ist
eine Waffe!"
-
Reiner Erb, Rechtsextremistische Gruppengewalt in den neuen Bundesländern,
in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Rechtsextremismus in Deutschland, Frankfurt
a.M. 1994, S. 113.
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