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Jail Voice
Das "Correction-System" in Kalifornien hat sich verselbständigt
Im November und Dezember 1999 weilte ich,1
gemeinsam mit einer Kollegin der Fachklinik für forensische Psychiatrie,
in Kalifornien. Wir wollten uns, während einer Rundreise durch mehrere
Institutionen, ein reales Bild vom Strafvollzug in dem Bundesstaat machen,
welcher innerhalb der USA das umfassenste Gefängnissystem hat und
die meisten Menschen hinter Gittern.
Vielleicht
sollte man sich fragen, welchen Sinn es macht, Begegnungen mit diesem
System zu beschreiben, wo doch mittlerweile zur alltäglichen Gewaltkultur
und ihrer Abbildung in den Medien eine neue Komponente hinzugekommen ist.
Neben deutschen Internetseiten über Hinrichtungsmethoden in den USA,
Namenslisten der schon Getöteten und noch zu Tötenden sowie
Fotos von Opfern der Tötungsmaschine "Elektrischer Stuhl",
mit viel Blut und verbrannter Haut, gibt es jetzt auch die ersten vier
Life-Kameras in einem US-Knast, die authentisch im World-Wide-Web aus
dem Gefängnis berichten, von der Aufnahme bis zur Freistunde.
Ich hatte wenige Wochen zuvor Briefe an die Leiter (Warden) von ca. 12
Anstalten geschrieben und um Besuchserlaubnis gebeten. Die Auswahl gerade
dieser Anstalten war gewissermaßen einem "Insidertipp"
eines befreundeten Staatsanwaltes und Theologen geschuldet, der sie mir
aus seinen Arbeitserfahrungen als besonders sehenswert auswies.
Was wir zu sehen und zu hören bekamen übertraf alle unsere
Erwartungen. Zum Teil waren wir schockiert über die Standards und
die dahinterstehenden Rechtsauffassungen. Ein Menschenbild, welches dem
Straftäter kaum noch eine Chance auf Resozialisierung einräumt,
ja nicht einmal mehr auf "correction", im Sinne von Besserung
des abweichenden Verhaltens, bei Beibehaltung einer größtmöglichen
Individualität und Autonomie, sondern nur noch vom Gefangenen absolute
und kontrollierte Angepaßtheit oder "Knast bis ans Lebensende"
einfordert.
Seit der dritten Woche im Februar 2000 haben die USA zwei Millionen Strafgefangene
aufzuweisen. Damit sitzt in diesem Land ein Viertel aller acht Millionen
Strafgefangenen ein, die es auf der Erde überhaupt gibt. Im Jahre
1970 saßen hingegen nur rund 200.000 Gefangene in amerikanischen
Strafanstalten ein.
Die Vereinigten Staaten sind zudem das Land mit dem höchsten Anteil
an Gefangenen. Auf 100.000 Einwohner entfallen dort 725 Inhaftierte. In
Deutschland kommen auf 100.000 Einwohner dagegen ca. 90 Gefangene. Für
die zwei Millionen Strafgefangenen müssen die USA in diesem Jahr
41 Milliarden Dollar ausgeben. Nach jüngsten Berechnungen wendet
dieses Land damit für Gefangene 50% mehr als für seine achteinhalb
Millionen Sozialhilfeempfänger auf. Das Gefängnissystem ist
also auch ein nicht zu unterschätzendes Geschäft. Seit 1995
sind die dortigen Ausgaben für den Bau von Gefängnissen höher
als für den von Colleges und Universitäten. "Es ist, als
ob es überall nur Stäbe gäbe [...] und hinter tausend Stäben
kein Geld für Rehabilitation."2
Das Gefängnis- und Sicherheitssystem in Kalifornien
Kalifornien hat das größte Gefängnissystem in den USA,
noch vor Texas. Die meisten Todeskandidaten warten in kalifornischen Zellen
auf ihre Hinrichtung.
Das Gefängnissystem der USA läßt sich in vier Kategorien
unterscheiden. In den Bundesgefängnissen werden vor allem politisch
motivierte Straftäter, wie Terroristen u.a. sowie Kriminelle inhaftiert,
die länderübergreifend Straftaten begangen haben. Zudem lassen
sich dort herausragende Vertreter der Organisierten und der Drogenkriminalität
sowie Staatsangestellte finden, die im Amt strafbare Handlungen begangen
und ein Strafmaß von über einem Jahr haben.
In den Staatsgefängnissen sitzen Menschen Freiheitsstrafen mit einem
Strafmaß von über einem Jahr ab, die in Kalifornien verurteilt
wurden. Daneben existieren Fire-Camps, in denen freiwillige und geeignete
Gefangene zu Feuerwehrleuten ausgebildet werden und den gefährlichen
Job eines "Waldbrandbekämpfers" und Nothelfers bei anderen
Naturkatastrophen verrichten müssen.
Kleinere Delikte mit kurzen Haftstrafen (bis zu einem Jahr) und die Untersuchungshaft
werden schließlich in den Jails abgesessen. Sie gehören in
den Verantwortungsbereich des jeweiligen Sheriff-Departments.
Auch im Jugendstrafsystem (California Youth Authority) gibt es eine Menge
von verschiedenen Instanzen und Programmen. Dazu gehören die Jugendarrestanstalten
(Juvenile Halls), die kaum mit dem kurzzeitigen Arrest gem. JGG in Deutschland,
sondern eher mit den etwas schärferen Jugendwerkhöfen in der
DDR vergleichbar sind, dazu gehören auch die Staatsgefängnisse
(State Youth Prison bzw. VCSO-Jail), die Boot-Camps (correction centers)
und Bundesgefängnisse für Jugendliche. Auch die bewaffnete Bewährungshilfe
mit polizeilichen Eingriffsmöglichkeiten ist Teil dieses Systems.
Hinzu kommen Hafen- und Flugplatzpolizeien, die städtischen Police-Departments
und die Sheriff-Departments in den Landkreisen, daneben noch eine Vielzahl
offizielle "Arme des Safety-Krakens", wie: Nationale Drogenbehörde,
Zoll, Grenzpolizei, Universitäts- und Schulpolizeien, Nationalgarde,
Militärpolizeien und Nationalparkwächter, Safety-Officer in
öffentlichen Gebäuden wie Bibliotheken etc., private Security-Firmen
und die ganze Bandbreite des "Menthal-Health-Systems", welches
in geschlossenen Einrichtungen für psychisch Kranke einweisen kann.
Außerdem eine Menge an informellen Überwachungsmechanismen
und Institutionen, wie z.B. die Life-guard, die neben der Rettung von
Menschenleben gleichzeitig eine Art Strandpolizei ist, sowie "rechtschaffende"
Bürger ("Neighbarhood Watches"), die alle zusammen genommen,
mindestens genauso effektiv sind, wie Systeme in denen Personalausweis-
und Meldepflicht zum Standard gehört.
Ich entsinne mich in diesem Zusammenhang an die Ausführungen eines
FBI-Mitarbeiters vor drei Jahren, der mir an einem praktischen Beispiel
zeigte, wie man anhand von elektronischen Dateivergleichen und -zusammenführungen,
z.B. von Krankenkassen, Kreditunternehmen, Telefon- und Elektrizitätsgesellschaften,
Auto-Registrierung, Schul-, Uni-, Wohlfahrts-, Militär- und Gesundheitsbehörden
ein relativ dichtes Netz von Informationen über eine Zielperson,
einschließlich seiner Kaufgewohnheiten, Krankheiten und seines gewöhnlichen
Bewegungsradius erhält, ohne diese Person auch nur ein einziges Mal
gesehen und gesprochen zu haben. Immer wieder muß man sich auch
das "Three-strike-Prinzips" in Kalifornien bewußt machen,
welches (nach der populären Sportart Baseball benannt) bedeutet,
daß man nach drei Straftaten "raus ist", will meinen,
eine lebenslange Haft verbüßen muß.
Im
Gespräch mit dem Warden der California Men's Colony (CMC) in San
Luis Obispo, Les Blanks, äußert der Anstaltsleiter Bedenken
gegen den zunehmenden Trend zum Einsperren in den USA. Ein Drittel der
Bevölkerung sitze ungefähr im Gefängnis, sagt er etwas
zynisch, ein weiteres Drittel paßt auf das erste Drittel auf und
das letzte Drittel lebt irgendwie von diesem Mechanismus, entweder als
Angehöriger, Zulieferer oder als im Rechtssystem (im weiteren Sinne)
Beschäftigter.
Ausblicke
Den in den letzten Jahren auch in Deutschland propagierten Strategien
des früheren und längeren Einsperrens, um (wider besseren Erkenntnissen
aus Wissenschaft und Praxis) größere Abschreckung zu erzielen
und wenigstens für die Dauer der Haft die Straftäter für
die Gesellschaft unschädlich zu machen (incapacitation), kommt aus
Amerika. Dies ist ein Bestandteil der neoliberalen Umstrukturierung unserer
Gesellschaft. Es werden einzelne, spezielle, medial in unzulässiger
Weise aufgebauschte und verallgemeinerte Straftaten zum Bedrohungsszenario
für die Gesellschaft stilisiert und dann allgemeinen Abwehr- und
Wirkungsmechanismen von Strafverfolgungs- und Strafvollzugsbehörden
gegenübergestellt, um deren Untauglichkeit als Begegnungsstrategie
aufzuzeigen. Die regelmäßige Folge solchen Vorgehens ist der
Ruf nach "härteren Strafgesetzen."
Am Beispiel der traurigen und grausamen Fälle von Sexualmorden an
kleinen Mädchen, die in den letzten Jahren die Nation aufschreckten,
läßt sich sehr deutlich nachvollziehen, wie eine hysterische
Journaille, die auf das "gesunde Volksempfinden"3
(was immer das sein mag) trifft, eine Stimmung erzeugen kann, die ängstliche
und inkompetente Politiker gegen die Hinweise aus Wissenschaft und Praxis
dazu veranlaßt, das Strafrecht in diesem Bereich spürbar zu
verschärfen und so die Massen zu beruhigen glaubt. Nachdem sich die
öffentliche Diskussion in unserer schnellebigen Zeit längst
anderen Themen zugewandt hat, greifen diese Veränderungen dergestalt,
daß Sexualstraftäter länger in Haft bleiben, ohne daß
es weniger (weil prognostisch nicht abzusichern) von diesem Risiko für
die Bevölkerung gibt. Das bedeutet, neben den kostenaufwendigen längeren
Haftzeiten, daß bei gleichen oder geringer werdenden Budgets weniger
behandelt wird, die schädlichen Folgen von langer Haft stärker
greifen und eine Vielzahl von negativen Synergieeffekten eintreten.
Nils
Christi, der scharfsinnige norwegische Kriminologe beschreibt in seinem
Buch: "Kriminalitätskontrolle als Industrie - Auf dem Wege zu
Gulags westlicher Art" die Gefängnisindustrie der modernen und
reichen Länder und nennt Ursachen und Funktionen, die das Strafrechtssystem
mittlerweile einnimmt. Wenn man in den wunderschönen, langgestreckten
"Valleys" Kaliforniens die gigantischen "Menschenverwahrfabriken"
die, wie um den Horror noch einmal zu steigern, zumeist im Doppelpack
(d.h. zwei unabhängige Anstalten in unmittelbarer Nachbarschaft)
anzutreffen sind, sieht, weiß man, Christi hat eine zutiefst seriöse
Analyse und Prognose mit seinem Buch geschrieben.
Er arbeitet darin viele Parallelen zwischen dem russischen und den US-amerikanischen
Strafanstalten heraus. Aber in den USA, zumindest in Kalifornien kann
man eben nichts auf die vorhandenen alten Gemäuer und Verließe
schieben, die, wie auch z.T. in Deutschland ihre ganz eigene, bedrückende
Atmosphäre erzeugen. Fast alle Anstalten sind nagelneue Komplexe,
die bezeugen, daß alles was man dort sehen kann, genauso gewollt
und gezielt so errichtet worden ist.
Man kann sich nicht, wie in allen Ostblockländern auf die Rudimente
totalitärer Machtstrukturen, autoritärer Erziehung und Sozialisation
des Personals berufen. Alle Officer werden in Kalifornien in demokratischen
Menschenbildern geschult . . .
Vielleicht aber liegt ja gerade dort das Problem? Alexis de Tocqueville
beleuchtete gegen 1831 die potentiell problematischen Seiten des demokratischen
Geistes und des Kampfes für Gleichheit in den USA, hier vor allem
die Möglichkeit der Tyrannei im Namen einer Mehrheit. Er schreibt
dazu: "Meine größte Klage gegen demokratische Regierungen
wie sie in den Vereinigten Staaten organisiert sind, betrifft nicht, wie
viele Europäer es ausgemacht haben, ihre Schwäche, sondern ihre
unwiderstehliche Stärke. Was ich in Amerika am anstößigsten
finde, ist nicht die dort herrschende extreme Freiheit, sondern die Knappheit
an Garantien gegen die Tyrannei.
[...] An wen kann sich ein Mensch oder eine Partei wenden, der in den
Vereinigten Staaten ein Unrecht erleidet? An die öffentliche Meinung?
Diese formt die Mehrheit. An die öffentlichen Organe? Sie repräsentieren
die Mehrheit und gehorchen ihr blind. An die exekutive Macht? Sie wurde
durch die Mehrheit ernannt und dient als ihr passives Instrument. An die
Polizei? Sie ist nichts anderes als die bewaffnete Mehrheit. An die Jury?
Die Jury ist die Mehrheit, der das Recht übertragen wurde; selbst
die Richter werden in einigen Staaten durch die Mehrheit gewählt.4
Somit: egal wie ungerecht oder unsinnig die Maßnahme sein mag, die
jemanden verletzt, er muß sich fügen."5
Wie oft hatten wir auf unserer Reise zu hören bekommen, wenn Leute
zwar Einsicht in kritische Argumente gegen verschiedene Entwicklungen
in den USA oder speziell in Kalifornien hatten, diese Einsicht aber an
dem Standardargument endete: Die Mehrheit will das so. Die Bevölkerung
verlangt aber eben die Todesstrafe. Die Leute wollen, daß wir hart
und lange einsperren. Der Steuerzahler wünscht sich einen rigiden
Strafvollzug usw. usf.
Wir sind einige Wochen auf den Spuren Nils Christies gepilgert und haben
uns das kalifornische Staatsgefängniswesen angeschaut. Wir haben
neben unvorstellbaren Menschenrechtsverletzungen wie Dunkelhaft (im Sinne
von Ausschluß des Tageslichtes) langfristige Einzelhaft bzw. Isolationshaft,
Gaskammer und "mittelalterliche" Fabrikationsbedingungen, auch
phantastische Programme zur Resozialisierung, wie das Programm: "Tag
für Tag" in San Diego oder "Arts in Correction" und
vorbildliche Bildungsmöglichkeiten gesehen. Ich möchte diese,
dennoch kurzen und bruchstückhaften Impressionen mit den Worten von
Nils Christie beenden:
"Die faszinierende Frage aus der Perspektive eines Außenstehenden
lautet, warum die Innenstädte der USA eher als Ziele eines Krieges6
angesehen werden als Ziele für eine durchgreifende soziale Reform."7
Volker Bieschke
Auszugsweiser Nachdruck aus der Veröffentlichung: "Arbeitsergebnisse
2000 der JVA Ueckermünde"
-
Volker Bieschke ist Leiter der Justizvollzugsanstalt
Ueckermünde, einer Anstalt des "Offenen Vollzugs".
-
Andrian Kreye in ZfStrVo, Heft 2, 2000,
S. 119.
-
Auszug aus einem Zitat eines Staatssekretärs
der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommerns, der gegen die Hinweise
von Fachleuten den liberalen Strafvollzug mit seinen Resozialisierungsauftrag
als "blödsinnig" einstufte und eben dieses "gesunde
Volksempfinden" bemühte.
-
Der Chef des in Kalifornien für alle
Staatsgefängnisse zuständigen "California Department
of Corrections" ist direkt dem Gouverneur unterstellt. Dieser
Fakt beinhaltet eine gewisse politische Abhängigkeit und wird
von manchen Bediensteten als eher ungünstig für die fachliche
Ausrichtung der Arbeit gesehen.
-
Tocqueville, A. de: Democracy in America,
Great Books of the Western World, USA 1990; zitiert nach: Christie,
Niels: Kriminalitätskontrolle als Industrie, auf dem Weg zu Gulags
westlicher Art, Centaurus-Verlagsgesellschaft, Pfaffenweiler 1995,
Forschungen zur Kriminalpolitik, Bd. 10, S. 165.
-
i.S. von Krieg gegen Kriminalität,
Drogen etc.
-
Christie, Niels: a.a.O., S. 164.
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