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Exportgut "Stammheim"
Seit dem 19. Oktober 2000 führen politische Gefangene in der Türkei
einen Hungerstreik gegen die geplante Einführung von Isolationshaftbedingungen
für alle politischen Gefangenen durch, der am 30.Tag in ein Todesfasten
umgewandelt wurde. Am 19.12.2000 wurden 20 Gefängnisse, in denen
Hungerstreiks durchgeführt wurden, von Militär- und Spezialeinheiten
gestürmt und die Gefangenen unter großem Widerstand in die
neuen Isolationsgefängnisse (bekannt unter dem Namen F-Typ-Gefängnisse)
zwangsverlegt. Dabei wurden 32 Gefangene getötet, Hunderte verletzt,
34 sind seitdem vermißt. Genau einen Monat nach der Militäraktion
hatten Mitglieder der türkischen Ärzte- und Rechtsanwaltskammern
das erste Mal die Möglichkeit, Gefangene in den neuen Gefängnissen
zu besuchen und sich ein Bild von ihrer derzeitigen Lage zu machen. Sie
stellten fest, daß sich die meisten Gefangenen in einem sehr kritischen
Gesundheitszustand befinden und schlecht bis gar nicht medizinisch versorgt
werden. Angehörige berichten von miserabler Behandlung der Gefangenen,
angefangen bei fehlender Kleidung, abgeschalteten Heizungen in den Zellen,
bis zu offenen Schlägen und anderen Mißhandlungen vor den Augen
von Besuchern. Die Gefangenen selber berichten von täglichen grundlosen
Mißhandlungen und Frauen von Vergewaltigungen. Gegenstände,
die die Angehörigen mitbringen, werden den Gefangenen nicht übergeben,
das Wasser, was ihnen zu trinken gegeben wird, ist verschmutzt. Besuche
sind nur von Verwandten ersten Grades (Eltern, Großeltern, Kinder,
Enkel) erlaubt und dauern meist nur fünf bis fünfzehn Minuten.
Einige Gefangene dürfen überhaupt keinen Besuch empfangen. Die
Gefangene Semra Askeri, die zuvor mehr als eine Woche verschwunden war,
wurde von Angehörigen in einem Gefängnis gefunden. Sie benimmt
sich jetzt wie ein vierjähriges Kind und kann sich an überhaupt
nichts mehr erinnern.
Zu
den genaueren Hintergründen des Hungerstreiks: Am 6.1.2000 kündigte
das türkische Innenministerium an, die politischen Gefangenen innerhalb
der nächsten Monate in die neuen Gefängnisse des sog. F-Typs
zu verlegen. Diese Gefängnisse wurden in den letzten Jahren gebaut
und sind speziell auf Isolationshaft zugeschnitten.
Isolationshaft bedeutet unmenschlichste Folter. Unter Isolationshaftbedingungen
leben zu müssen, heißt alleine ca. 23 Stunden am Tag in einer
völlig weißen, immer voll beleuchteten Zelle, in die keinerlei
Tageslicht dringt und ohne Sichtmöglichkeit nach draußen ist,
zu verbringen. Die Zellen werden rund um die Uhr kameraüberwacht.
Es gibt keinerlei Kontakt zu anderen Gefangenen, es wird sogar verhindert,
daß die Stimmen anderer Gefangerner gehört werden können.
Anwaltsbesuche sind in der Regel für eine Stunde in der Woche erlaubt
und werden vollständig optisch und akustisch überwacht. Angehörigenbesuche
sind meist eine Stunde im Monat möglich und werden ebenso überwacht.
Der Zugang zu Zeitungen und Radio wird streng limitiert. Das völlige
Alleinsein, die nicht enden wollende Stille, ohne jegliche optischen und
akustischen Einflüsse von außen führt nach Berichten von
Gefangenen dazu, daß bald Farben, Gerüche und Geräusche
gar nicht mehr wahrgenommen werden können. Dazu kommen ständiges
Ohrenrauschen, Ohren- und Gliederschmerzen, sowie Taubheitsgefühle
in der Zunge. Manchmal leiden sie tagelang unter Schlaflosigkeit, manchmal
schlafen sie 48 Stunden durch. Jegliches Zeitgefühl geht verloren.
Das Immunsystem wird geschwächt, wodurch die Gefangenen anfälliger
für Krankheiten werden. Nach längerer Zeit kommt es zu psychischen
Störungen. Kein Wunder, denn man fühlt sich wie lebendig begraben.
Dieselben Folgen der Isolationshaft werden von der Istanbuler Ärztekammer,
die wie auch die Istanbuler Rechtsanwaltskammer die Isolationshaft stark
kritisiert, angeführt. Sie zählt weiter auf: Abnahme der Hörfähigkeit,
Verengung der Blickwinkel, nervliche Taubheit, Zunahme der Aggressionsbereitschaft,
Depression, Apathie, Konzentrationsstörungen, Hör- und Sehhalluzinationen
etc.
Ali
Osman berichtete nach sechsmonatiger Totalisolation in Kartal seinem Anwalt:
"Deine Geschmacksnerven, das Riechen, Hören, Fühlen und
Sehen verflüchtigen sich. Über nichts kann man mehr lachen,
über die kleinste Angelegenheit weint man. Die Isolation nimmt einer
Person jegliches Gefühl persönlicher Sicherheit...du fühlst
dich als könntest du jeden Moment getötet werden. Das Ziel ist,
diese alles durchdringende Angst zu verstärken, Selbstmordgedanken
zu erzeugen, schlußendlich deine Psyche völlig zu brechen."
Die heute in der Türkei eingeführten Iso-Knäste entsprechen
vom Grundprinzip dem BRD-Knast in Stammheim. Hier wurde die oben beschriebene
Art der Isolationshaft schon in den 70er Jahren an den Gefangenen aus
der RAF angewandt. Nach diesem Vorbild wurden dann in den 80er Jahren
Iso-Knäste in dem damaligen EU-Beitrittskandidaten Spanien eingeführt
und nun in der Türkei (wieder EU-Beitrittskandidat). Die Isolationszellen
rauben den türkischen Gefangenen auch jeglichen Schutz durch die
Anwesenheit anderer Gefangener. Sie befürchten, nun noch stärker
den brutalen Übergriffen des Gefängnispersonals, das in der
Regel Militärpersonal ist, ausgesetzt zu sein. Seit dem Militärputsch
1980 sind die türkischen Gefängnisse permanent Schauplätze
grausamster Folter, insbesondere gegen linke politische Gefangene, aber
eben auch unzähliger Widerstandsaktionen gegen diesen Terror. Letztere
sollen durch die F-Typ-Knäste nun endgültig verhindert werden.
Aus alledem erklärt sich, warum die türkischen Gefangenen die
übergreifende Einführung der Isolations- und Einzelzellen als
Angriff auf ihr Leben betrachten und zu deren Verhinderung ihr Leben bei
dem Hungerstreik aufs Spiel setzen.
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