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Folgenschwere Weichenstellung Deregulationswahn am Beispiel der Bahnprivatisierung
Die Bahn als Gemeinschaftsgut Die Deutsche Bahn ist dank der Privatisierung von 1994 befreit! Befreit vom Dasein als defizitäres Staatsunternehmen und hineingeboren in ein selbstverantwortliches, dereguliertes und wettbewerbsorientiertes Wirtschaftsunternehmen. Noch in den 80er Jahren wurde vor allem von SPD-PolitikerInnen vor einem “totalen Markt” gewarnt, in dem alle Unternehmen ausschließlich nach Wettbewerbsgrundsätzen in wirtschaftlichem Verkehr stünden. Ein zügelloser Wettbewerb führe zu Machtkonzentrationen in der Wirtschaft und soziale Kosten seien aus deren Sicht reine Zusatzkosten, wodurch z.B. Arbeits- und Umweltschutz niemals primär angestrebt werden könnten. Einkommensunterschiede und Vermögenskonzentrationen führten dazu, daß Marktangebote nicht von jedermann wahrgenommen werden können. In einigen Bereichen (Bildung, persönliche Sicherheit, Gesundheit und nicht zuletzt der Bahn) schien das zumindest damals noch als nicht hinnehmbar. Da die Marktwirtschaft (und nenne sie sich noch so sozial) soziale Ungerechtigkeiten schafft, der Staat aber durch das Sozialstaatsprinzip zum Ausgleich solcher Ungerechtigkeiten verpflichtet ist, müßten die Gemeinschaftsgüter “dem Markt” entzogen werden und “der Markt” staatlichen Eingriffen unterliegen.
Die Bahnverfassung Was ist geschehen, daß heute kaum noch von Gemeinschaftsgütern die Rede ist – waren die GegnerInnen des “totalen Marktes” am Ende allesamt AgentInnen des Ostblocks? Wer weiß – aber ausschlaggebend sind natürlich in erster Linie “die veränderten Rahmenbedingungen” und das 21. Jahrhundert als solches. Der “Ostblock-Sozialismus” ist Geschichte, der Kapitalismus ist übrig geblieben und flugs hat sich auch die juristische herrschende Meinung dem Zeitgeist angepaßt. Heute dominieren marktorientierte Begriffe in Wissenschaft und Gesellschaft. Der Staat wird als nicht fähig angesehen, die mit diesen Begriffen verbundenen Aufgaben zu bewältigen und so wird er für überfordert erklärt, um sogleich die “helfende Hand” der Privatisierungen anzubieten. Die verfassungsmäßigen Voraussetzungen hierfür wurden durch die Grundgesetzänderung vom 20. Dezember 1993 geschaffen. Mit der Einfügung der Art. 87 e, 106 a und 143 a ins Grundgesetz wurde die Bahnprivatisierung verfassungsrechtlich fixiert. Damit sollten zugleich die EWG-Richtlinie 91 / 440 und die EWG-Verordnung 1191 / 69 umgesetzt werden. Die Grundaussage enthält der Art. 87 e GG. Dessen Absatz III Satz 1 besagt: “Eisenbahnen des Bundes werden als Wirtschaftsunternehmen in privat-rechtlicher Form geführt.” Absatz IV Satz 1 legt dagegen fest, daß der “Bund gewährleistet, daß dem Wohl der Allgemeinheit [...] Rechnung getragen wird.” Damit bringt dieser Artikel ein Spannungsverhältnis zwischen verordneter Staatsdistanz und -nähe zum Ausdruck. Die Gewährleistung des Allgemeinwohls entpuppt sich aber schnell als Verfassungslyrik. Als lästiges Ergebnis eines Kompromisses wird Art. 87 e IV GG in Teilen der Literatur zum bloßen Programmsatz degradiert. Mehr noch, er enthalte geradezu die Pflicht, die Rahmenbedingungen für ein marktorientiertes Wirtschaftsunternehmen zu schaffen, da die Grundsatzentscheidung des Art. 87 e III 1 GG sonst sinnentleert würde. Art. 87 e IV GG könne nichts anderes sein als eine Art Übergangsvorschrift, bis die Privatisierung beendet und stabilisiert sei. Zudem fordere die einschlägige EWG-Richtlinie eine marktnahe Geschäftsführung der Bahn. Die “Europarechtskeule” unterliegt jedoch einer gewissen Beliebigkeit. Würde bspw. der auf Umweltkongressen stets stolz angeführte Art. 6 EGV, der eine Beachtung der Erfordernisse des Umweltschutzes bei allen Gemeinschaftspolitiken (also auch der Verkehrspolitik) festschreibt, ebenso eifrig bemüht wie derzeit marktorientierte Gemeinschaftsrechtsregelungen, so wären wohl “blühende Landschaften” das Ergebnis. Die angestrengte EWG-Richtlinie fordert aber zum einen keine Privatisierung (das würde gegen den Grundsatz der Nichteinmischung in die Eigentumsverhältnisse der Mitgliedstaaten verstoßen) und zum anderen bleibt es Aufgabe des Staates, für die Verwirklichung des Sozialstaates, also die Durchsetzung von Allgemeinwohlinteressen, zu sorgen. Eine “Flucht ins Privatrecht” kann von dieser Verpflichtung nicht befreien. Ungeachtet dessen bietet Art. 87 e III GG sogar die Möglichkeit der Veräußerung von im Bundeseigentum stehenden Anteilen der Bahn. Lediglich Infrastrukturunternehmen müssen mehrheitlich im Bundeseigentum bleiben. So wurde erst kürzlich die “Abtrennung” fast aller bahntechnischen Produktions- und Wartungsstandorte beschlossen. In ihrer manischen Börsenfixiertheit kürzt die Bahn so 5.000 Arbeitsplätze und die künftige Instandhaltung der Bahnfahrzeuge unter Beachtung notwendiger Sicherheitsstandards bleibt im Dunkeln. Der Bahntechniksektor wurde vor einiger Zeit an den Bombardier-Konzern verkauft. Dabei handelt es sich um den weltgrößten Produzenten von Flugzeugen für den Regionalverkehr. Das diese Konstellation nichts Gutes für das Verkehrsmittel Bahn bedeutet, ist klar.
Die Bahn als Aktiengesellschaft Als Sondervermögen des Bundes war die Bundesbahn an das öffentliche Dienst- und Haushaltsrecht gebunden und politisch motivierten Entscheidungen unterworfen. Damals schien noch niemand erkannt zu haben, daß sichere Arbeitsplätze und der “Mißbrauch von Wirtschaftszweigen” zur Verfolgung von Gemeinwohlinteressen zutiefst marktwidrig sind. Heute weiß jeder und jede FocusleserIn, daß Staatsbetriebe zu schwerfällig sind. Also wurde 1994 die Deutsche Bahn – Aktiengesellschaft (DB AG) gegründet und 1999 in die DB Reise & Touristik AG, DB Regio AG, DB Station & Service AG, DB Cargo AG und DB Netz AG aufgeteilt unter dem Dach der DB AG Holding. Als Hauptziele der Bahnreform nennt die DB AG die Wettbewerbsfähigkeit, die Gewinnsteigerung und die marktnahe Konzernorganisation. Für eine AG sind das übliche Ziele, distanziert gegenüber jeglichen unternehmensexternen Einflüssen – optimal i.S.d. Art. 87 e GG. Die Notwendigkeit der Bahnprivatisierung wurde u. a. mit dem Hinweis auf die angeblich geschröpften SteuerzahlerInnen, die den defizitären Staatsbetrieb aushalten müßten, begründet. Das SteuerzahlerInnen-Argument greift offenbar immer. Wer will schon darauf hinweisen, daß Steuermittel durchaus sinnvoll verwendet werden, wenn sie zur Befriedigung von Gemeinwohlinteressen eingesetzt werden. Nach herrschender Lesart müssen Steuern eigentlich nur zur Unterstützung der gebeutelten “deutschen Wirtschaft” gezahlt werden, danach stellt jede andere Verwendung quasi einen Steuermißbrauch dar. Und überhaupt: In den USA ist die Bahn schließlich auch privat (und bedeutungslos!). Sicher war es auch das Beste, nicht bahnnotwendige bundeseigene Verwaltungsgebäude der DB AG in erheblichem Umfange zu überlassen. Schließlich konnte die DB AG diese Gebäude und Grundstücke gewinnbringend verkaufen. Gewinn ist marktgerecht und so war es auch geboten, daß die DB AG darüber befinden durfte, welche Filetstücke sie gern hätte und welche Restposten beim Bund verblieben. Wer hier behauptet, dies widerspreche dem Eisenbahn-Neuordnungsgesetz (danach dürften nur bahnnotwendige Grundstücke übertragen werden), der oder die verkennt den zum Gesetz erhobenen Grundsatz: Privatisierung der Profite und Verstaatlichung der Risiken.
„Erfolge“ der Bahnreform Von eifrigen DereguliererInnen wird immer gefordert, die Kontrolle denen zu überlassen, die von der jeweiligen Aufgabe am meisten verstehen – damit sind freilich private Unternehmen gemeint. Wie gut versteht aber die private Bahn ihr Handwerk? Eine der für BahnkundInnen spürbarsten Maßnahmen waren die stetigen Preiserhöhungen für Fahrscheine. Dadurch wurde selbstverständlich keine massenhafte Abkehr Reisender vom Auto- und Flugverkehr erreicht. Einzig die Regionalverbindungen sind nach wie vor gut ausgelastet. 90 Prozent aller Fahrten bei der Bahn liegen unter 50 km. Doch die DB AG sorgt sich vor allem um die Intercity-Fernverbindungen – dabei kommen Regionalbahnen nur als Zubringer in Betracht. Diese Sichtweise (die auch durch die explizite Herausnahme des Nahverkehrs aus Art. 87 e IV 1 GG gestützt wird) muß über kurz oder lang dazu führen, daß die Regionalstrecken den Ländern überlassen werden. So sagen die “ExpertInnen” der “Pällmann-Kommission”: “Die Einbeziehung des Netzes in das privatunternehmerische Risiko verhindert die Kapitalmarkt/Börsenfähigkeit der DB AG” – die DB AG solle sich auf ein Bundesschienennetz von 20.000 km beschränken, die restlichen 38.000 km sollten den Ländern, Verkehrsverbünden oder Kommunen überlassen werden. Auf der Homepage der DB AG ist zu lesen, daß die Konzernleitung besonders stolz ist, daß “wie in keinem anderen Wirtschaftsbereich [...] bei der Bahn Ökonomie und Ökologie eng miteinander verbunden” sind – “Verbesserungen der Effizienz durch flexible Abläufe, Energie sparende Technik und bessere Auslastung der Züge entlasten zugleich die Umwelt.” Umweltschutz wird also ganz offen als eine Art zufälliges Nebenprodukt angesehen – primär am Umweltschutz orientierte Maßnahmen sind undenkbar. Bahnhöfe werden mit hohen Kosten zu Einkaufszentren mit Bahnanschluß umfunktioniert und die sinnlose Transrapidplanung verschlang einige hundert Millionen DM. Dagegen steht die fehlende Investitionsfreude bei der Bahnsicherheit. Das Bahnunglück von Eschede, dessen Ursache ein gebrochener Radreifen war, hätte vermieden werden können. Seit langem war bekannt, daß die fraglichen Radreifen zu Rissen und Brüchen neigen. 1997 lagen der Bahn (nicht zum ersten Mal) Prüfberichte vor, die diese Annahmen bestätigten. Im selben Jahr brach ein ICE-vergleichbarer Radreifen bei der Hannover Stadtbahn. Trotz allem verzichtete die DB AG auf entsprechende mögliche Sicherheitsmaßnahmen – ein simples Abtasten der Radreifen bei jeder Inspektion mußte genügen. Wie oben bereits angesprochen, sind auch die Bahnbeschäftigten betroffen. Die Privatisierung setzte Massenentlassungen in Gang. Und der Großteil der Beschäftigten (gem. Art. 143 a I 3 GG i.V.m. Art. 2, S. 2 Gesetz über die Gründung einer Deutsche Bahn Aktiengesellschaft) die weiter als BeamtInnen gelten, sind von Versetzungen auf niedere Posten u.ä. betroffen. Nicht die Rechtsabteilung der DB AG sondern ein “unabhängiges” deutsches Gericht (OVG Koblenz, NVwZ 98, 538) stellte dazu fest, daß bei der Frage der amtsangemessenen Beschäftigung die DB AG einen weiteren Gestaltungsspielraum habe als üblich. Konkret hieß es im Beschluß des Gerichts: “Sie [die Bahnreform] kann – wenn sie greifen will – nicht alles beim alten belassen und die überkommenen Strukturen zementieren, sondern muß vielmehr rationalisieren. Hierzu gehört nach der Unternehmensphilosophie der Deutschen Bahn AG eine ‚Verschlankung‘ der Strukturen, wie sie gerade hier mit der Einführung ‚flacher Hierarchien‘ beabsichtigt ist.” Die Konzernleitung fuhr durch die “Personalkosteneinsparungen” und Preiserhöhungen Millionengewinne ein. Es gibt also GewinnerInnen und VerliererInnen: alles in bester Wettbewerbsordnung. Die VerliererInnen sind sogar “sozial abgesichert” bzw. können sich daran erfreuen, daß der ICE eine computergesteuerte Warnfunktion bei überfüllten Toiletten besitzt. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die private Bahn von Sicherheitsmängeln, Unfällen, Streckenstillegungen, Preiserhöhungen und Arbeitsplatzabbau gezeichnet ist.
„Totaler Markt“ total daneben Wer tatsächlich behauptet, alles Heil liege in Privatisierungen und Deregulierungen, der oder die muß sich angesichts der katastrophalen Lage der Bahn vorwerfen lassen, eine rational nicht begründbare Ideologie zu verfolgen (es sei denn, er oder sie gehört zu den “GewinnerInnen” der Privatisierung). Sicher war die Bahn auch als Staatsunternehmen nicht vollends am Gemeinwohl orientiert und auch die auto- und flugzeugfreundliche Verkehrspolitik der rot-grünen Bundesregierung läßt erahnen, daß eine staatliche Bahn noch keine Garantie für ein wirkliches Gemeinschaftsgut Bahn wäre. Doch mit der Bahnprivatisierung ist das Gemeinwohl gänzlich verdrängt. Staat und Gesellschaft haben ein Instrument für eine an Allgemeininteressen orientierte Regulierung aufgegeben. Verblieben ist eine klassische Rechtsaufsicht der Verwaltung (Art. 87 e I 1 GG). Im “totalen Markt” ist ein effektiver Umweltschutz unmöglich und die Verschärfung der sozialen Gegensätze vorprogrammiert. Mit dem Privatisierungswahn wird der Staat immer mehr auf die sogenannten Kernaufgaben zurückgedrängt. Diese Kernaufgaben sollen sich nach “MarkthardlinerInnen” ausschließlich auf die Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols beschränken. Der Staat soll primär “dem Markt” dienen, indem er die neu gewonnene Macht der Privatwirtschaft sichern hilft. Dazu bedarf es eines starken Staates, der soziale Konflikte befrieden, soziale Interessen neutralisieren und Ansprüche abwehren kann. Genau das ist zu beobachten, wenn nach innen gegenüber den BürgerInnen immer schärfere Überwachungs- und Kontrollmethoden angewandt werden und nach außen die Grenzen des nationalen (bzw. des “europäischen”) Wirtschaftsraums gegen “ungebetene MitesserInnen” immer brutaler abgeschirmt werden. Angesichts der zunehmenden Umweltverschmutzung, der ungelösten sozialen Konflikte und insbesondere des sogenannten Nord-Süd-Konflikts wird die Frage, ob sich der “totale Markt” durchsetzt oder nicht, eine existentielle Frage für die Menschheit.
Volkmar Laufer
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