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Hugo Sinzheimer

Revolutionär des Arbeitsrechts, Reformist in der Politik



Obwohl eine Rechtsfigur Sinzheimers, nämlich der Tarifvertrag, für das moderne Arbeitsrecht eine “kopernikanische Umwälzung”1 in Gang setzte und er deshalb nicht zu unrecht als “Vater des deutschen Arbeitsrechts” bezeichnet wird, dürfte seine Biografie weitgehend unbekannt sein. So finden sich seine gesammelten Werke2 nicht einmal in der Bibliothek der Juristischen Fakultät unserer Universität.


[1.]

Nachdem der am 12. April 1875 geborene Hans Daniel Sinzheimer das Abitur bestanden hatte, absolvierte er als Sohn eines jüdischen Kaufmanns eine für diese soziale Schicht typische Ausbildung als Büroangestellter. Ab 1894 studierte er Rechtswissenschaften und Nationalökonomie in München, Berlin, Frankfurt/M., Marburg und Halle. 1901 promovierte er an der Uni Heidelberg zum Thema “Lohn und Aufrechnung” (Diss. 1903 veröffentlicht). Anschließend eröffnete er 1903 eine Anwaltskanzlei in Frankfurt/Main. Den Schwerpunkt seiner anwaltlichen Tätigkeit bildeten Strafsachen. Mit Beginn der Weimarer Republik standen neben Arbeitsrechtssachen politische Prozesse im Mittelpunkt seiner Rechtsanwaltsarbeit, so z. B. der Hochverratsprozess gegen Walter Bullerjahn.3 Einige Zeit später wurde er Rechtsberater des Deutschen Metallarbeiterverbandes (DMV), der damals größten freien Gewerkschaft.

Doch den Schwerpunkt seiner juristischen Tätigkeit bildete die publizistische und rechtspolitische Arbeit. Ab 1914 war er Mitherausgeber der Zeitschrift “Arbeitsrecht” und gehörte seit 1925 zusammen mit Gustav Radbruch und Wolfgang Mittermaier zum Herausgeberkreis des Organs des Republikanischen Richterbundes4 “Die Justiz”. Für diese Zeitschrift verfasste er neben seinem Schüler Ernst Fraenkel Chroniken. In der verfassungsgebenden Nationalversammlung 1919 war er maßgeblich an der Formulierung des Abschnitts “Das Wirtschaftsleben” beteiligt.

Wodurch Sinzheimer Bedeutung für das Arbeitsrecht gewonnen hat, ist die von ihm entwickelte spezifische rechtliche Konstruktion des Tarifvertrages.

Ende des 19. Jahrhunderts zeigte sich besonders in den Arbeitsbeziehungen eine gravierende Lücke zwischen sozialer Realität und Rechtsdogmatik. Der zwischen Unternehme(r)n und Gewerkschaften institutionell anerkannte Tarifvertrag (TV) war als Massenvertrag dem an Zwei-Personen-Verträgen orientierten Privatrecht fremd. Daraus resultierte eine Reihe dogmatischer Probleme, die mit der bestehenden Privatrechtsdogmatik nicht gelöst werden konnten. All diesen Problemen lag die Frage nach der Rechtsnatur des TV zu Grunde. Rechtsdogmatischen Versuchen, den TV als Vertrag zugunsten Dritter oder als gewöhnlichen Arbeitsvertrag zu konstruieren, trat Sinzheimer mit seiner Lehre entgegen. Seiner Ansicht nach ist der TV als Vertrag sui generis zu interpretieren, da er nicht nur die Tarifparteien berechtige und verpflichte, sondern auch bindende (Rechts-)Normen für die tarifunterworfenen Einzelarbeitsverträge schaffe.5 Die Vorstellung vom Tarifvertrag als unabdingbares, auf Vertrag beruhendes objektives Recht6 basierte auf Sinzheimers Idee der sozialen Selbstbestimmung im Recht. Der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und dem ihr hinterherhinkenden Recht sei nur dadurch zu lösen, dass freiorganisierte gesellschaftliche Kräfte (wie Gewerkschaften und ArbeitgeberInnenver- bände) unmittelbar und planvoll objektives Recht erzeugen und selbständig verwalten.7


[2.]

War Sinzheimer während seiner Studienzeit noch Mitglied in kleinen linksliberalen Parteien, trat er kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges der SPD bei. Innerhalb der Sozialdemokratischen Partei gehörte er zu den führenden Personen des rechten Flügels, der im Hofgeismarer Kreis der Jungsozialisten organisiert war. Sinzheimers Leben war seit dem eng mit der ArbeiterInnenbewegung verbunden. So wirkte er z. B. als Dozent und Mitglied des Verwaltungsrates der gewerkschaftsnahen Akademie der Arbeit.

Auch wenn sich eine politische Karriere Sinzheimers andeutete (Stadtrat Frankfurt/M. 1917/33, Nationalversammlung 1919), blieben ihm einflussreiche politische Ämter versagt. Zwar war er zweimal als Reichsjustiz- oder Reichsarbeitsminister im Gespräch, wurde aber jedes Mal übergangen.

Aufgrund seiner Bereitschaft, auch gegen die Interessen der ArbeiterInnenbewegung zu handeln, wenn er dies für gesamtgesell-schaftlich erforderlich hielt, geriet er nicht nur mit der Linken, sondern auch mit dem reformistischen Flügel der ArbeiterInnenbewegung einige Male in Konflikt. Dies geschah zum einen während der Novemberrevolution, als er als provisorischer Frankfurter Polizeipräsident Demonstrationen der radikalen Linken unterband, zum anderen beim Berliner Metallarbeiterstreik 1930, als er als Schlichter eine zweimalige Lohnkürzung um 5 resp. 3% durchsetzte, wodurch er die ihm sonst nahestehenden Gewerkschaften vor den Kopf stieß.


[3.]

Als Sozialdemokrat und Jude teilte Sinzheimer mit der Machtergreifung des NS-Faschismus das Schicksal vieler “streitbarer Juristen”, die als StrafverteidigerInnnen oder publizistisch gegen die reaktionäre Klassenjustiz in der Weimarer Republik auftraten oder als ArbeitrechtlerInnen Arbeiter-Inneninteressen vertraten. Nach einigen Tagen “Schutzhaft” im März 1933 ging er nach Amsterdam in die Emigration. In Amsterdam und Leiden erhielt er Professuren für Rechtssoziologie, während ihm die Nationalsozialisten 1937 seinen Doktortitel und die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannten. Neben rechtssoziologischen Abhandlungen schrieb Sinzheimer in der Emigration das Buch “Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft”. Es entstand als Reaktion auf eine Rede Carl Schmitts auf der Tagung der Reichsgruppe Hochschullehrer des NS-Rechtswahrerbundes8  “Das Judentum in der Rechtswissenschaft” (1936). Schmitt äußerte damals: “Wir werden den deutschen Geist von allen jüdischen Fälschungen befreien...”.9 Sinzheimer trat dem entgegen, indem er den Anteil jüdischer JuristInnen am Aufbau der deutschen Rechtswissenschaft nachwies. Nach der Okkupation der Niederlanden saß er erneut ab September 1940 vier Monate in “Schutzhaft”, jedoch konnte er sich und seine Familie nach der Entlassung bis zur Befreiung bei einem Freund versteckt halten. Am 16. September 1945 verstarb Sinzheimer siebzigjährig in Bloemendal an Entkräftung durch die Illegalität.

Marten





[Literatur]

  • Erd, Rainer: Hugo Sinzheimer, in: Kritische Justiz (Hrsg.), Streitbare Juristen - Eine andere Tradition, Baden-Baden 1988

  • Hannover, Heinrich / Hannover-Drück, Elisabeth: Politische Justiz 1918-1933, Bornheim 1987

  • Kubo, Keiji: Hugo Sinzheimer – Vater des deutschen Arbeitsrechts. Hrsgg. v. Peter Hanau. Schriftenreihe der Otto-Brenner-Stiftung. Köln 1985

  • Sinzheimer, Hugo: Ein Arbeitstarifgesetz. Die Idee der sozialen Selbstbestimmung im Recht. Unveränd. Nachdruck der 1. Aufl. 1916, Berlin 1977



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1    Kahn-Freund, Otto, zit. nach: Erd, in: Streitbare Juristen, S. 284.

2Kahn-Freund/Ramm (Hg.): Sinzheimer, Arbeitsrecht und Rechtssoziologie, Gesammelte Reden und Aufsätze, Frankfurt/Main-Köln 1976.

3Vgl. Hannover/Hannover-Drück: Politische Justiz 1918-1933, 192-199.

4Diese Vereinigung war ein Zusammenschluss der wenigen in der Weimarer Republik demokratisch und republikanisch gesinnten JuristInnen, die und deren Zeitschrift von der sich als unpolitisch verstehenden, tatsächlich aber vorwiegend monarchistischen, nationalistischen oder konservativen Mehrheit der Juristen offen angefeindet wurden (Hannover/Hannover-Drück: Politische Justiz 1918-1933, 13f.).

5Ausführlichere Darstellung in: Erd: Hugo Sinzheimer, in: Streitbare Juristen, S. 284ff.

6Sinzheimer: Arbeitstarifgesetz, S. 101.

7Sinzheimer: Abreitstarifgesetz, S. 186.

8Das Wort “Juristen” galt wohl als “undeutsch”.

9zit. nach Erd, in: Streitbare Juristen, S. 293.