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Geschichtsstunde mit ÜberraschungenRZ-Prozesse laufen weiter Am 19. Dezember 1999 inszenierten die Bundesanwaltschaft (BAW) und das Bundeskriminalamt (BKA) ein wahres Großereignis im Stil der siebziger Jahre. Vielleicht hatte Nostalgie die Staatsschützer befallen – war doch das, was man da jagte, schon seit Jahren Geschichte. An die 1000 Beamte der Berliner Polizei und der Bundesgrenzschutz-Einheit GSG 9 durchsuchten das Berliner Kultur- und Politikzentrum MehringHof nach einem Waffendepot der Revolutionären Zellen (RZ). Fündig wurden sie nicht. Am selben Tag nahmen Polizisten eine Frau in Frankfurt am Main und zwei Männer in Berlin fest. Erzählungen vom Hörensagen
Es waren die Behauptungen eines Karatelehrers, die den martialischen Aufmarsch in der Berliner Gneisenaustraße ausgelöst hatten: Tarek Mousli, dessen Erzählungen vom Hörensagen auch zu den Verhaftungen führten. Zunächst noch als „Rädelsführer“ der RZ in Berlin gehandelt, ist er zu einer zentralen Figur für die Gespensterjäger aus den Staatsschutzbehörden geworden. Im Berliner RZ-Prozess, der seit März 2001 vor dem Kammergericht geführt wird, sind Mouslis Aussagen das einzige „Beweismittel“. Auf der Anklagebank sitzen fünf Menschen: Axel Haug, ein Hausmeister des MehringHofs; Harald Glöde, Mitarbeiter der „Forschungsgesellschaft Flucht und Migration“; Matthias Borgmann, bis zu seiner Verhaftung Leiter des Akademischen Auslandsamtes der Technischen Universität Berlin; die Frankfurter Galeristin Sabine Eckle und ihr Ehemann, Rudolf Schindler.
Ein Kronzeuge wird gemacht
Während auf der politischen Bühne das Ende der Kronzeugenregelung zum Jahresende 1999 beschlossen wurde, arbeitete die Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt bereits seit Monaten daran, Mousli als Kronzeugen für ihren jüngsten so genannten Terroristenprozess aufzubauen. Das BKA setzte ihn systematisch unter Druck und vernahm ihn allein zwischen dem 23. November 1999 und dem 24. Januar des Folgejahres 44 Mal. Dabei stellten die Vernehmungsbeamten dem Karatelehrer Aktenbestandteile, Zusammenfassungen von Zeugenaussagen und anderes Material zur Verfügung. Nachdem er sechs GenossInnen bei den Ermittlungsbehörden als RZ-Militante angeschwärzt hatte, kam er in einem abgetrennten Verfahren mit einer Bewährungsstrafe davon. Die Anklage, die die BAW im Anschluss daran gegen die fünf Angeklagten präsentierte, beruht praktisch alleine auf den Aussagen des Kronzeugen. Laut Mousli sollen die fünf sich an verschiedenen Anschlägen im Berlin der achtziger und frühen neunziger Jahre beteiligt haben, zu denen der Sprengstoffanschlag auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber mit 5000 Mark Schaden vom Februar 1987 ebenso gehört wie ein misslungener Anschlag, der im Januar 1991 die Berliner Siegessäule treffen sollte. Gegen den sechsten Beschuldigten, Lothar E., läuft momentan ein Auslieferungsverfahren in Kanada.
Staatsschutzverfahren alter Schule
Das Gericht inszeniere „dieses Verfahren gemäß den Vorgaben der BAW als ein ‚Terroristenverfahren’ im Stil der siebziger und achtziger Jahre“, sagte Harald Glöde kurz nach Prozessbeginn. Damit zielte er nicht nur auf die Sicherheitsvorkehrungen im Gerichtssaal, sondern spielt auch auf die Art und Weise an, wie der 1. Strafsenat des Kammergerichts dieses Verfahren führt: In der Regel weist er Anträge der Verteidigung als „unzulässig“ oder „unbegründet“ zurück. Nicht interessiert zeigt sich das Gericht auch an den von der Verteidigung immer wieder aufgezeigten Aktenmanipulationen und dem Zurückhalten von Beweismitteln. Die Unterschlagung von Beweismaterial – insgesamt sind mehr als 700 Stunden abgehörte Telefongespräche der Verteidigung und dem Gericht vorenthalten worden – hat zuletzt dazu geführt, dass monatelang das einzige „Beweismittel“, der Kronzeuge nicht vernommen werden konnte.
Einlassungen der Beschuldigten
Hatten in der ersten Phase des Prozesses alle Angeklagten sich geweigert, Aussagen zu machen, haben seit Anfang diesen Jahres drei Angeklagte Angaben zur Sache gemacht. Hintergrund ist nicht zuletzt der sich „unerträglich dahinschleppende Verlauf dieses Verfahrens“, wie es Axel Haug in seiner persönlichen Erklärung ausdrückte. Ende Februar hat der MehringHof-Hausmeister Unterstützungsleistungen für die RZ Mitte der achtziger Jahre eingeräumt. Gleichzeitig widersprach er den Behauptungen des Kronzeugen zu seiner Beteiligung an den RZ-Anschlägen. Vehement sprach er sich dagegen aus, im MehringHof habe es ein Waffendepot gegeben: „Wäre ich zu irgendeiner Zeit mit einem solchen Ansinnen konfrontiert worden, hätte ich mich entschieden dagegen verwahrt...Der MehringHof ist vermutlich einer der bestüberwachten linken Treffpunkte der Stadt.“
Überraschender Schritt
Erst Anfang des Jahres hatte Rudolf Schindler für eine handfeste – und in der Solidaritätsszene nicht unumstrittene – Überraschung gesorgt: Er entschloss sich zu einem Deal mit dem Gericht. Mitte Januar machte er ein Teilgeständnis, in dem er sich zum einen als RZ-Militanter bekannte und zum anderen nicht von den RZ und ihrer Politik distanzierte. Er habe diesen Weg gewählt, weil er nur auf diese Weise zeigen könne, wo und in welchem Umfang die Aussagen von Tarek Mousli falsch sind, erklärte Schindler vor Gericht. Es sei ihm ein Rätsel, „warum er Leute als Mitglieder angibt, die keine waren und andere dafür rauslässt“. Mousli sei beim Sprengstoffanschlag auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber im Februar 1987 der Haupttäter gewesen, widersprach Schindler der Version Mouslis. Auch in anderen Punkten lieferte er eine Version der RZ-Aktionen, die deutlich anders war als die des Kronzeugen. Entschieden wandte er sich zudem gegen die Selbstdarstellung Mouslis als angeblich unscheinbarer Mitläufer: „Tarek Mousli war alles andere als ‚schwach’ oder ‚weich’, sowohl in seinen politischen Ansichten als auch in seiner Praxis.“
Der Senat [des KG – Anm. Marten] hatte bereits im Vorfeld deutlich gemacht, wie er die Einlassung honorieren würde: mit der Garantie, dass Schindlers Strafe nicht mehr als drei Jahre und neun Monate betragen und sie zudem zur Bewährung ausgesetzt werde. Außerdem solle Schindler, wenn er rede, sofort aus der U-Haft entlassen werden. Ein Versprechen, an das die Richter sich hielten. Die Verteidigung Sabine Eckles schloss sich namens ihrer Mandantin der Einlassung Schindlers an. Sie wurde daraufhin ebenfalls aus der U-Haft entlassen. Schindler hatte zuvor erklärt, dass er sich ausschließlich zu seiner Person und „mit ihrem Einverständnis“ zu seiner Frau äußere.
Der Kronzeuge hat immer recht
Zwar haben sich Gericht und BAW auf diesen Deal eingelassen, die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen sehen sie dadurch jedoch nicht erschüttert. „Das Gericht ist bereit, Rudolf Schindler zu glauben, was die Anklagevorwürfe gegen ihn stützt, nicht aber das zu glauben, was den Aussagen des Kronzeugen zentral widerspricht“, so Edith Lunnebach, die Verteidigerin von Matthias Borgmann. Mousli spielt eben immer noch die zentrale Rolle in diesem Prozess: Fällt seine Glaubwürdigkeit, stürzt die Anklage in sich zusammen. Eigentlich steht nun das Gericht vor der Aufgabe, endlich ernsthaft dem Wahrheitsgehalt der beiden nun vorliegenden Versionen auf den Grund zu gehen. Widersprüche und Ungereimtheiten in den Aussagen des Kronzeugen hatte die Verteidigung bereits mehrfach nachgewiesen. Bislang zeigten BAW und Gericht sich davon unbeeindruckt. Nach den Einlassungen von Schindler, Eckle und Haug dürfte diese Haltung nicht mehr lange aufrecht erhalten werden können, decken sich ihre Angaben zu den damaligen Vorgängen doch mit den polizeilichen Ermittlungen und belasten wiederum Mousli schwer.
Mittlerwile sitzt nur noch Harald Glöde in U-Haft. Axel Haug wurde nach seiner Einlassung am 28. Februar haftverschont. Zwei Wochen zuvor kam Matthias Borgmann gegen ein horrende Kaution wegen eines schweren Unglücksfalls in der Familie auf freien Fuß. Harald Glödes Haftverschonung wurde vom Gericht Ende Februar erneut abgelehnt. Sie komme nur in Frage, wenn er Aussagen mache, was er ablehnt. Der Prozess wird sich noch lange hinziehen, denn dem Gericht und der BAW geht es darum, das Verfahren unbedingt mit einer Verurteilung abzuschließen. Am „Sieg“ des Staates über seine „Feinde“ soll kein Zweifel aufkommen. Martin Beckveröffentlicht in: Die Rote Hilfe 1/2002 (S.16f.) weitere Informationen auf www.freilassung.de
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