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Die Verfassung verlieren

Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches der DDR 1989/90



Entstehungsgeschichte des Entwurfs ...


Der Zentrale Runde Tisch der DDR, der von Dezember ´89 bis März ´90 tagte und hauptsächlich als Kontrollorgan und oppositionelles Forum wahrgenommen wurde, war zugleich Urheber eines fast vergessenen Verfassungsdokuments, nämlich eines Entwurfs für eine neue DDR-Verfassung, die „die Verfassungsgeschichte der DDR mit ihrer ganzen Widersprüchlichkeit, die Erfahrungen (...) der Bürger im Demokratisierungsprozeß“ festhalten und einen Schwerpunkt auf Grundrechte, auch soziale, legen sollte,1 entsprechend dem in der Bevölkerung verbreiteten Gefühl des gesellschaftlichen Aufbruchs und der Hoffnung auf eine Demokratisierung der DDR auf eigenständiger Grundlage. Im Bewusstsein eines ein baldigen Zusammenschluss von BRD und DDR, sollte vorher nicht nur der verfassungsrechtliche Konsens der DDR-Gesellschaft nach dem Umbruch herausgearbeitet, sondern auch der Weg zur Einheit demokratisch abgesichert werden – das war nicht nur die Meinung der BürgerInnenbewegung, sondern auch der ebenfalls am Runden Tisch vertretenen Schwesterparteien der BRD-Großparteien und der SED. Das GG war von Anfang an eine wichtige, aber auch kritisierte Grundlage : „Eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Wortlaut, den historischen Entstehungsbedingungen und den jahrzehntelangen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um das westdeutsche Grundgesetz, machte die Rede vom verfassungsmäßigen Optimum dieses Dokumentes zur Phrase.“2 Der Entwurf sollte nach den Wahlen in die Volkskammer eingebracht und anschließend in einem Volksentscheid zur Abstimmung gestellt werden. Schon bei den ersten Arbeitstreffen der AG Neue Verfassung, in der jede Gruppe aus dem Plenum des Runden Tisches eine Stimme hatte und als BeraterInnen u.a. Ulrich K. Preuß, Bernhard Schlink und Rosemarie Will tätig waren, blieb von der Vorstellung, die Altparteien und die BürgerInnenbewegung würden sich als zwei unversöhnliche Blöcke gegenübersitzen, nicht viel übrig: in den wesentlichen Fragen bestand ein tragfähiger Konsens, aber die Gegensätze zwischen radikaldemokratischem und konservativem Verfassungsverständnis wurden zunehmend stärker. Die neuen Fronten verliefen zwischen den Schwesterparteien der BRD-Großparteien und den originären DDR-Gruppierungen. Dennoch fand der im April ´90 fertiggestellte Text die Zustimmung aller Mitglieder der AG.



... der Inhalt ...


Die neue Verfassung sollte die DDR rechtsstaatlicher und freier gestalten und dabei die direktdemokratische Lebendigkeit der Umbruchssituation erhalten. Im Ergebnis geht der Entwurf dann auch im Bereich der Mitgestaltungsrechte über andere westliche Verfassungen hinaus. So werden konkrete Grundrechte im Kontext gesellschaftlicher Verbände thematisiert, z.B. erhalten BürgerInnenbewegungen Rechte auf Vorbringen und Behandlung ihrer Anliegen im zuständigen Organ der Volksvertretung. Als plebiszitäre Elemente sind Volksbegehren und –entscheid verankert. Die staatsorganisatorischen Bestimmungen ähneln weitgehend denen des GG, allerdings reagiert der Entwurf weniger auf die Erfahrungen der Weimarer Republik als stärker auf die friedliche Überwindung des SED-Regimes. „Nicht ein zersplittertes, sondern ein blockmäßig vereinheitlichtes und verödetes Parlament, nicht plebiszitäre Unvernunft, sondern vernünftige plebiszitäre Aktionen (...) bildeten den Erfahrungshintergrund, vor dem der Entwurf entstand.“3 Es wurden leichte Machtverschiebungen zugunsten der Volkskammer vorgenommen und ferner Bestimmungen über die Arbeitsweise der Volkskammer getroffen. Neben den klassischen Parlaments- und Abgeordnetenrechten wird die Chancengleichheit der Opposition und das Recht fraktionsloser Abgeordneter auf Mitwirkung in Ausschüssen geregelt.

Im Bereich der Grundrechte unterscheidet sich der Entwurf deutlich vom GG durch die Aufnahme sozialer Grundrechte, entspricht damit aber vielen anderen westlichen Verfassungen. Er gewährt Rechte auf soziale Sicherung, auf unentgeltliche Bildung und Ausbildung und auf angemessenen Wohnraum sowie Leistungs- und Teilhaberechte im Bereich Arbeit, Wirtschaft und Umwelt. Diese Rechte sind einklagbar, gehen also über den Status unverbindlicher Programmsätze hinaus. Um dem Vorwurf fehlender Realisierbarkeit zu begegnen, wurden verschiedene Ausdifferenzierungen und Konkretisierungen vorgenommen, was insbesondere beim Recht auf Arbeit bzw. Arbeitsförderung in Art. 27 gelungen ist: ausgehend von den individuellen Ansprüchen auf freie Verfügung über die Arbeitskraft, freie Wahl des Arbeitsplatzes, gleichen Lohn für gleiche Arbeit und Arbeitsförderung im Falle der Arbeitslosigkeit, wird die Verpflichtung des Gesetzgebers entwickelt, die Arbeitskraft durch Regelungen über die Arbeitssicherheit und die Arbeitszeit zu schützen; verfahrensrechtlich ist ein Arbeitnehmergrundrecht auf Mitbestimmung garantiert, schließlich legt eine sehr offene Abwägungsregel für die staatliche Wirtschaftspolitik den Vorrang des Ziels der Vollbeschäftigung fest.

Darüber hinaus formuliert der Entwurf im Bereich der Grundrechte nicht nur weitgehend die aus dem GG bekannten Freiheits- und Gleichheitssätze, sondern auch Neues: Im Zusammenhang mit dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit wird das Recht der Frauen auf selbstbestimmte Schwangerschaft festgehalten. Die institutionelle Garantie der Universitäten und ihrer akademischen Selbstverwaltung wird festgeschrieben, weiterhin auch das Kommunalwahlrecht für Ausländer sowie der Anspruch nicht-familiärer Lebensgemeinschaften auf Schutz vor Diskriminierung; der „Schutz der natürlichen Umwelt als Lebensgrundlage gegenwärtiger und künftiger Generationen“ wird mit der Möglichkeit der Verbandsklage festgeschrieben.

Einen gravierenden Unterschied zum GG enthalten auch die Bestimmungen über das Eigentum, die der Eigentumsbildung breiter Bevölkerungsschichten dienen sollen. U.a. sind persönlich genutztes und genossenschaftliches Eigentum unter besonderen Schutz gestellt, für das Eigentum an Grundstücken gibt es Beschränkungen hinsichtlich der zulässigen Größe.

In den Übergangs- und Schlußbestimmungen wird zum einen der Übergang zur neuen Verfassung, zum anderen die Anschlussfähigkeit an die BRD geregelt. Zu den umstrittenen Eigentumsverhältnissen aufgrund der Bodenreform in der frühen DDR bestimmt Art. 131, daß Eigentumsentziehungen, die in Übereinstimmung mit dem Recht der DDR erfolgten, als wirksam behandelt werden und auch bei unwirksamen Wohnungsübertragungen nur Entschädigungsansprüche bestehen. Für den Anschluß an die BRD und die Außerkraftsetzung der Verfassung zeigt der Entwurf in Art. 136 zwei gangbare Wege: entweder über eine gesamtdeutsche verfassungsgebende Versammlung, oder über einen Beitritt zum GG mit Zwei-Drittel-Mehrheit der Volkskammer. In beiden Varianten wäre ein Volksentscheid als Bestätigung erforderlich.



... und was davon übrig blieb


„Wie die Zitadellen der alten politischen Klasse der DDR durch die Übersiedlerwelle hinweggespült wurden, sind die erst noch zu gründenden Fundamente einer neuen DDR durch die informelle Wahl der D-Mark zur tatsächlichen Leitwährung der DDR unterspült worden. (...) Innerhalb weniger Wochen war das politische Ende der DDR entschieden, wodurch die Entwicklung einer neuen Verfassung folgerichtig vom Zentrum an die Peripherie des politischen Prozesses geriet.“4

Als Ergebnis eines weitgehend durch westdeutsche Unterstützung bestimmten Wahlkampfes5 stellten die Parteien der BürgerInnenrechtsbewegung in der neuen Volkskammer so wenige Abgeordnete, daß es ihnen nicht gelang, eine Verfassungsdiskussion voranzubringen. Die neu gewählte Volkskammer war hauptsächlich mit Gesetzgebung in Vorbereitung der deutschen Einheit beschäftigt. Daß sich diese nicht über eine Verfassungsneugebung gemäß Artikel 146 a.F. GG, sondern in einem Anschluss nach Artikel 23 a.F. GG gestalten würde, wurde bald nicht mehr ernsthaft in Zweifel gezogen. „Nach der Revolution kam so die Stunde der Exekutive“6 und die gerade noch zur demokratischen Beteiligung erwachte Bevölkerung wurde zum „Zuschauer der eigenen Geschichte“7. Einen letzten Versuch stellte die Vorlage des Runden-Tisch-Entwurfes in der Volkskammer dar. Der von der AG einstimmig verabschiedete Text wurde den Abgeordneten übermittelt und am 28. April von Bündnis 90 in die Tagesordnung eingebracht. Der Antrag zur Beratung des Textes wurde jedoch mit 179 zu 167 Stimmen abgelehnt - obwohl die Koalitionsvereinbarung vorsah, u.a. diesen Text als Grundlage für die Verfassungsübergangsregelungen einzubeziehen, und obwohl zuvor in der AG alle Parteien zugestimmt hatten. Dort wirkten die Großparteien wirkten jedoch nur unter dem Vorbehalt, daß die politischen Karten am Runden Tisch vorläufig verteilt waren8, mit. Im neu gewählten Parlament genügte es dann, die ignorierende Haltung ohne inhaltliche Auseinandersetzung, wie sie in den Zeitungen der DDR und der BRD stattgefunden hat, rein formal zu begründen: ein verfassungsgebender Prozeß würde als „demokratischer Ballast“9 im „Hauruck-Verfahren zur deutschen Einheit“10 wirken und zuviel eigenständige Identität der DDR begründen, so die einhellige Argumentation für einen Beitritt zum GG. Die Bevölkerung sah das anders: eine Infas-Befragung im April ´90 ergab, daß nur 9 % eine Übernahme des GG wünschten, 38 % plädierten für eine neue gesamtdeutsche Verfassung und 42 % für die Schaffung einer eigenen neuen Verfassung. In kurzer Zeit wurden 230.000 Unterschriften für den Entwurf gesammelt. Doch Rederecht in der Volkskammer erhielt der Überbringer des Antrags nicht einmal vor der Abstimmung über die Annahme zur Beratung. Damit wurde dieses Dokument der Verfassungsvorstellungen der DDR-Bevölkerung für weniger als diskussionswürdig befunden. Eine Verfassungsdiskussion, in der die eine deutsche Verfassungsrealität mit der anderen konfrontiert würde, kam den Großparteien der BRD und ihren kleinen Schwestern in der DDR offensichtlich nicht gelegen.

Letztendlich gelangte ´92 zwar noch der Gedanke von Staatszielbestimmungen in die Gemeinsame Verfassungskommission, ostdeutsche Verfassungsvorstellungen spielten dort aber nur in gelegentlichen Beteuerungen eine Rolle.11 In der GG-Reform finden sich u.a. die Staatszielbestimmung Umweltschutz sowie die Stärkung der Gesetzgebungskompetenz der Länder, ein Einfluß des Runden-Tisch-Entwurfs wird jedoch vergeblich gesucht. Damit ist die Aussicht, der Text möge mehr als ein historisches Dokument werden und zu einer Entwicklung des GG beitragen, verschwunden.


Ulrike Müller



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1Vgl. Wortlaut der Erklärung des Runden Tisches vom 7.12. ´89 u.a. bei Häberle, Verfassungspolitik für die Freiheit und Einheit Deutschlands, JZ ´90, 358 ff.

2Templin, Wolfgang, Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches, Gewerkschaftliche Monatshefte ´90, S. 370, 373.

3Schlink, Bernhard, „Deutsch-deutsche Verfassungsentwicklung im Jahre 1990“, in: Der Staat 30 (1991), S. 163, 165.

4Wolf, Rainer, Die Verfassung eines gesellschaftlichen Konkurses, Krit.Justiz ´90, S. 397, 400.

5Am Runden Tisch wurde zwar noch mehrheitlich ein Beschluß über die Nichtinanspruchnahme ausländischer Wahlhilfen gefasst, die VertreterInnen der Großparteien erklärten jedoch, sich nicht daran gebunden zu fühlen.

6Will, Hans.-Jürgen und Rosemarie, Die Verfassungsfrage in der DDR auf dem Weg zur deutschen Einheit, Krit. Vierteljahresschrift ´90, S. 157, 162.

7ebenda.

8Schlink, S. 169.

9Templin, S. 375.

10Sprecher von Bündnis 90 in der Fragstunde am 19. 4. 1990, zit. nach Häberle, S. 325.

11Incesu, Lotte Verspielte Chance. Die Arbeit der gemeinsamen Verfassungskommission, in: Krit. Justiz 1990, S. 475, S. 477.