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Der Zeitenwandel und die deutsche JustizDie (un)heimliche Tradition der deutschen Justiz Es ist ein wenig wie bei der Werbung für einen bekannten Haarfestiger... Was auch geschieht, die Frisur sitzt und die deutsche Justiz ist gegen einen Wandel resistent. Bismarck hat die deutsche Justiz „auf Linie“ gebracht. In Treue und Pflichtgefühl für das Vaterland wurde sie zur wirksamen Waffe im Klassenkampf geschmiedet. Im Wandel der Zeit trat die Weimarer Republik an die Stelle des Kaiserreichs. Die deutsche Justiz hielt stand und blieb, was sie war: reaktionär und demokratiefeindlich.
Karl Richter Die Zeiten wandelten sich erneut und das Dritte Reich machte den zaghaften deutschen Demokratieversuchen ein Ende. Die deutsche Justiz ergriff freudig erregt die Chance, ihre deutsch-nationale Ausrichtung unter Beweis zu stellen. Der Zeitenwandel führte schließlich zur Zerschlagung des Dritten Reiches und zur Gründung zweier deutscher Staaten. Die deutsche Justiz zog sich auf das Gebiet der BRD zurück und blieb standfest reaktionär, national und antikommunistisch. Wird die DDR auch in einigen Punkten als das „deutschere Deutschland“ bezeichnet, so vollzog die DDR-Justiz doch einen deutlichen Bruch mit der bisherigen Justiz-Tradition. Der Zeitenwandel seit der Gründung der BRD führte zumindest zu einer allmählichen Liberalisierung der deutschen Justiz. Die Tradition und die Kontinuitäten seit dem Kaiserreich sind jedoch bis heute lebendig. Vor der Gründung des Deutschen Reiches galt die deutsche Juristenschaft (mit Ausnahme der Staatsanwaltschaften) als Brutstätte der Revolution und unerträglich liberal. Bei der 1848’er Revolution waren die führenden Köpfe zumeist Juristen. Selbst in der linksradikalen Opposition stellten die Juristen die Mehrheit. Nicht umsonst prägte Bismarck den Spruch von den „Richtern und anderen Revolutionären“.
Der Ursprung Diese Erkenntnis brachte Bismarck dazu, als eine der ersten Maßnahmen nach der Reichsgründung 1871 ein gründliches und umfassendes „Säuberungsprogramm“ für die Juristenschaft durchzuführen. Zunächst wurde die Zahl der Gerichte extrem reduziert und ältere Richter aus dem Dienst entlassen. Die Neubesetzung von Richterstellen war somit für ein Jahrzehnt ausgeschlossen. Genug Zeit, eine neue Generation heranzuzüchten. Die Ausbildung wurde nun wie folgt konzipiert: An das Studium schloss sich ein vierjähriges, unbezahltes Referendariat an. Das Referendariat war jedoch nicht nur unbezahlt. Um eine Referendarstelle zu erhalten, mussten 7.500,- Mark Pfand hinterlegt werden (eine enorm hohe Summe für damalige Verhältnisse). Zudem musste der Nachweis über ein jährliches Auskommen von mindestens 1.500,- Mark erbracht werden, um sicherzustellen, dass der Referendar standesgemäß auftreten würde. Nach dem Referendariat galt es, ein acht bis zehnjähriges Assessoriat zu absolvieren. Das bedeutete eine Art Hilfsrichterstellung auf Probe ohne richterliche Unabhängigkeit. Es fand also eine extreme soziale Selektierung statt, die durch die Probezeit im Assessoriat mittels einer Gesinnungsauslese abgerundet wurde. So entstand der neue deutsche Jurist: frei von selbständigem Denken, standesbewusst, loyal gegenüber Staat und Obrigkeit, bereit, „Zucht und Ordnung“ beim Pöbel durchzusetzen und unbarmherzig gegen jede Art von Auflehnung und Abweichlertum. Hier einige Beispiele, wie vorbildlich die neue deutsche Justiz funktionierte:
Entscheidung des Reichsgerichts vom 21. Mai 1885 (RGSt 7, 317) Eine Arbeiterfrau hatte es gewagt, den Bräutigam ihrer Tochter am Vorabend der Hochzeit bei der Tochter übernachten zu lassen. Es folgte eine Zuchthausstrafe und die Entziehung der bürgerlichen Ehrenrechte wegen „Vorschubleistens der Unzucht“. Ein solches Urteil wäre im Falle einer Adligen undenkbar gewesen. Entscheidung des Dresdner Schwurgerichts von 1899 Der Zehnstundentag war soeben errungen worden. Einige Bauarbeiter erdreisteten sich, ihre Kollegen davon überzeugen zu wollen, dass diese Errungenschaft nun auch in die Praxis umgesetzt werden solle. Als der Bauunternehmer dies bemerkte eilte er mit einer Schusswaffe hinzu, beschimpfte die Arbeiter und schoss dabei um sich. Das setzte eine Tracht Prügel für den Bauunternehmer. Neun Arbeiter wurden zu insgesamt 53 Jahren Zuchthaus, acht Jahren Gefängnis und 70 Jahren Ehrverlust verurteilt. Bemerkenswert ist der Hintergrund dieser Entscheidung. Staatsanwaltschaft und Gericht stellten insbesondere auf die sogenannte „Zuchthausvorlage“ des Kaisers ab. Darin hieß es: „Jeder, der einen deutschen Arbeiter, der willig ist, seine Arbeit zu vollführen, daran zu hindern versucht, oder gar zu einem Streik anreizt, soll mit Zuchthaus bestraft werden...!“ Diese Vorlage wurde zwar nie Gesetz, da sie im Reichstag keine Mehrheit fand, doch des Kaisers Wille galt dem deutschen Juristen mehr als das Gesetz.
Die erste Bewährungsprobe Regen in London, die Frisur sitzt – oder Demokratieversuche in Deutschland: Die Justiz bleibt resistent. Dass die deutsche Justiz sich nie mit der Weimarer Republik abfinden konnte, ist hinlänglich bekannt. Daher seien hier lediglich beispielhaft Auszüge aus der Rede des Präsidenten des Reichsgerichts Dr. Walter Simons anlässlich des 9. November 1926 wiedergegeben: „Der deutsche Richter kann sich mit Republik und Demokratie nicht abfinden“. Die Republik habe das geliebte Kaiserreich auf illegale Weise abgelöst. Schließlich sei die Novemberrevolution nichts weiter als Meuterei, Aufruhr, Befehlsverweigerung, Zusammenrottung, Amtsanmaßung, Landfriedensbruch und Hochverrat gewesen...
Im Nationalsozialismus fühlte sich die deutsche Justiz wesentlich wohler. Freiwillig und in vorauseilendem Gehorsam schaltete sich die Juristenschaft, inklusive der Anwaltschaft, mit dem neuen System gleich. Juden, Kommunisten und andere „politisch unzuverlässige Elemente“ wurden entfernt und der Treueschwur auf den Führer galt als selbstverständliches Ritual zum Berufseinstieg. Die Justiz war aktiv an den nationalsozialistischen Massenmorden beteiligt, indem sie massenhaft Todesurteile wegen Nichtigkeiten verhängte und vollstrecken ließ, juristische „Rechtfertigungen“ für das KZ-System konstruierte, Massenmorde an Geisteskranken und Behinderten nicht anklagte obwohl sie gegen „geltende Gesetze“ verstießen usw. usw. Die Morde an Geisteskranken und Behinderten wurden u.a. dadurch gerechtfertigt, dass die Anordnung dazu direkt vom Führer kam und somit geschriebenes Recht zurückstehen müsse – so wie damals des Kaisers Wort die Juristen stramm stehen ließ.
Und wieder eine Bewährungsprobe Sturm, Hagel und was sonst noch alles, die Frisur erzittert, hält jedoch – oder wie die deutsche Justiz ihre Fratze unter einer demokratischen Maske vor Veränderung schützt. Die Befreiung der Welt vom Nationalsozialismus wurde durch die deutsche Justiz stets als bittere Niederlage empfunden. Noch heute wird wehmütig vom „Ende des Krieges“ oder dem „Tag der Kapitulation“ gesprochen – ein Verräter am Deutschen Volke, wer hier von Befreiung spricht. Als das neu gegründete Bundesverfassungsgericht es wagte, die Kontinuität der nationalistischen, reaktionären Justiz zu durchbrechen und vom Untergang des „Deutschen Reiches“ am 8. Mai 1945 sprach, empörte sich die deutsche Justiz in ungewohnter Schärfe und Einigkeit (BVerfGE 3, 58 ff.). Das Bundesverfassungsgericht hatte haarklein dargelegt, warum das „Deutsche Reich“ untergegangen ist und dass die Bundesrepublik Deutschland ein neu gegründeter Staat sei. Auslöser für diese Entscheidung war ein Streit über das sogenannte 131er-Gesetz, welches es alten Nazibeamten erlaubte, ihre alten Posten wieder zu besetzen bzw. entsprechende Pensionen zu kassieren. Dieses Gesetz wurde aufgrund der – als voreilig empfundenen – Entnazifizierungen durch die Alliierten notwendig. Ausgenommen von dieser Regelung waren Gestapo-Beamte, die oder deren Witwen versuchten, sich die Pensionen per Verfassungsbeschwerde einzuklagen. Das BVerfG stellte daher klar, dass die Beamtenverhältnisse mit dem Untergang des Staates erloschen seien und folglich nicht wieder aufleben könnten. Der BGH und die gesamte Juristenschaft verweigerten dieser Entscheidung die Gefolgschaft und zeigten sich solidarisch mit den Gestapo-Kameraden. Der Sturm der Entrüstung war so stark, dass das BVerfG seine Entscheidung widerrief (BVerfGE 3, 288 ff.). Somit wurde durch das 131er-Gesetz und durch die aus dem Osten flüchtenden Nazis die gesamte bundesdeutsche Beamtenschaft und Juristenschaft mit Nazis überschwemmt. Dadurch, dass in dem Gesetz eine Quote festgesetzt wurde, die besagte, dass jede Behörde mindestens 20% ehemalige Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliederungen beschäftigen musste, gab es eine Naziquote, wie sie Hitler selbst nie erreichte (BGBl. 1953 I S. 980). Bei einem Verstoß einer Behörde gegen die 20%-Klausel drohte ein Ordnungsgeld; es wurde somit faktisch zur Einstellungsvoraussetzung ein altes Parteibuch vorweisen zu können.
Integrative Kontinuität Die personellen Kontinuitäten in der deutschen Juristenschaft waren nahezu lückenlos. Kaum ein alter Nazijurist musste in der jungen BRD auf einen anderen Berufszweig ausweichen und noch viel weniger NS-Staatsanwälte und -Richter wurden wegen ihrer Verbrechen angeklagt. An den Unis wurden die alten Professoren wieder berufen – von den Nazis vertriebene Professoren hatten kaum eine Chance darauf. Auch die Gerichte und Staatsanwaltschaften waren bestens bestückt mit ehemaligen Eiferern des Naziregimes, die sich an der systematischen Vernichtung von Juden und Jüdinnen beteiligt hatten, die Todesurteile noch kurz vor Kriegsende wegen Kleinigkeiten durchsetzten, die juristische Aufsätze über die Herrlichkeit des Führers verfassten und die erzieherische Notwendigkeit der KZs bejubelten usw. Hier nur eine kleine Auswahl von personellen Kontinuitäten:
Senatspräsident des BGH Baldus Baldus – war zeitweise in der Führerkanzlei tätig, tat sich besonders durch Verurteilungen wegen „Rassenschande“ hervor und empfand es als vornehmste Aufgabe, Menschen den KZs zu überantworten;
Präsident des BGH Weinkauff Herrmann Weinkauff – sorgte in der Weimarer Republik im Auftrag des bayrischen Innenministeriums dafür, dass der Hitler-Putsch-Prozess zur Farce geriet, im Dritten Reich war er Mitglied es Reichsgerichts;
Generalbundesanwalt Fränkel Wolfgang Immerwahr Fränkel – war Abteilungsleiter der Reichsanwaltschaft und fanatischer Verfechter der Todesstrafe wegen Nichtigkeiten;
Ministerialdirigent Dreher Eduard Dreher (Ministerialdirigent im Justizministeriums und langjähriger Bearbeiter des StGB-Kommentars Tröndle/Fischer) – machte sich als Staatsanwalt beim Sondergericht in Innsbruck als Verfechter der Todesstrafe wegen Nichtigkeiten einen Namen;
Professor Larenz Prof. Karl Larenz – war ein herausragender Nazi-Professor an der Kieler Musteruni der Nazis, Mitglied des „NS Rechtswahrerbundes“, Begründer der Konstruktion, dass Juden keine „Volksgenossen“ seien und daher keine Rechte aus „deutschen Gesetzen“ geltend machen könnten...
Noch heute wird unter Juristen diese Tradition ignoriert, verschwiegen oder verharmlost. Nazigrößen wie Larenz werden als geniale Methodiker gepriesen; die Legende, dass Juristen im Dritten Reich lediglich ihren Job gemacht hätten, lebt. In Vorlesungen wird den Studis vermittelt, dass „der Gesetzgeber“ im Jahre 1935 dieses oder jenes Gesetz mit dieser oder jener Zielsetzung eingeführt habe und dass dies bei der Rechtsanwendung zu berücksichtigen sei usf. Die Juristenschaft hat als einziger Berufsstand bis heute jegliches Bekenntnis zu ihrer enormen Schuld im NS-Regime verweigert. So undenkbar es ist, dass ein Mediziner öffentlich bekundet, die Versuche Mengeles seien methodisch exzellent durchgeführt und ausgewertet worden, so selbstverständlich ist es in der Juristenschaft Larenz zu würdigen, der selbst die Rechtlosstellung der Juden „juristisch-methodisch sauber“ begründet habe. Die unsichtbare und verschwiegene antidemokratische und antihumanistische Tradition der deutschen Justiz lebt nach wie vor unter dem dünnen Lack des „demokratischen Rechtsstaates“ weiter . . .
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