Jahrgang 1944, ist seit 1975 Professor für Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin und Leiter eines Forschungsprojekts zur „Untersuchung beruflicher Werdegänge ehemaliger NS-Juristen“. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Justizforschung, Recht im National-sozialismus und Recht der DDR. Rottleuthner veröffentlichte u.a.: Politische Steuerung der Justiz in der DDR (1994); Das Nürnberger Juristenurteil und seine Rezeption – in Ost und West (1997); Rechtfertigung nationalsozialistischer Terrorgesetze? – Eine Kontroverse (1998). akj
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Wären die Juristen wirklich Positivisten gewesen, hätten sie sich vielem verweigert Zur
Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Justiz
Konnten oder wollten die gleichgeschalteten Juristen im nationalsozialistischen Deutschland nicht anders? – Hubert Rottleuthner beschäftigt sich als Professor für Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung schwerpunktmäßig mit der Forschung zu Juristen und Recht im Nationalsozialismus. Mit ihm sprach das freischüßler über Ursachen für die Konformität des Juristenstandes, personelle und rechtliche Kontinuitäten bis heute in Rechtspflege, Verwaltung und Lehre sowie den Umgang mit diesen „Altlasten“ im Nachkriegsdeutschland und universitären Lehrbetrieb.
Ein Interview mit Professor Hubert Rottleuthner
Herr Rottleuthner, Sie bieten als einzigeR LehrendeR der Rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Freien Universität und der Humboldt-Universität regelmäßig und häufig Veranstaltungen zum Themenbereich „Recht und Nationalsozialismus“ an. Woher kommt Ihre Motivation, sich mit diesem sonst eher stiefmütterlich behandelten Gebiet zu beschäftigen? Da ich mich in meinem Studium viel mit Rechtsphilosophie, auch mit Rechtsphilosophie im Nationalsozialismus beschäftigt habe, war eine Ausgangserfahrung die, zu sehen, dass für alles, was in der Zeit des NS geschah, eine Rechtfertigung gegeben wurde – nicht nur von Juristenphilosophen, sondern – wie sich dann zeigte – auch von den unmittelbaren Tätern selbst. Den roten Faden meiner dann mehr rechtssoziologischen Beschäftigung mit der Justiz im NS bildete die Frage nach der Konformität des Rechtsstabes. Welche Faktoren trugen dazu bei, dass es von Seiten der Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte etc. keine Renitenz oder gar Resistenz gegen das System gab? Schon ein kursorischer Blick zeigt, dass dies in fast allen politischen Systemen der „Normalfall“ ist. Erklärungsbedürftig sind eher die wenigen Fälle von „Widerständigkeit“ der Justiz gegen die politischen Machthaber. Gleichwohl bleibt zu klären, was die spezifischen Bedingungen in Deutschland waren, die zu einem so hohen Maß von Kooperationsbereitschaft unter den Juristen geführt haben. In der letzten Zeit kam noch verstärkt die Bemühung hinzu, herauszufinden, was man damals wusste, was man hätte wissen oder in Erfahrung bringen können. Auf diese Weise kann man vielleicht die subjektive Rechtfertigungsperspektive mit der Erklärung der Konformität verbinden.
Beim Blick auf das Rechtssystem im und nach dem Nationalsozialismus ist eine erhebliche personelle Kontinuität festzustellen. Welche Erklärungen gibt es für die weitgehende Übernahme von Juristen, die im Staat der Nürnberger Rassegesetze gearbeitet haben? Haben Juristen bei der Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten weniger versagt als andere gesellschaftliche Führungsschichten? Man muss deutlich sehen, dass in den Westzonen, dann in der BRD eine Entscheidung getroffen wurde für die Integration der früheren Funktionseliten in Staat und Wirtschaft. In der westdeutschen Gesellschaft sollten NS-Mitglieder, auch belastete, und andere Personen, die den NS unterstützt hatten, nicht systematisch ausgeschlossen werden – von wenigen krassen Ausnahmen abgesehen. In die riesigen Integrationsbemühungen wurden auch Wehrmachts-angehörige und schließlich die Millionen von Vertriebenen und Flüchtlinge, eingeschlossen. Das sah in der SBZ, dann DDR anders aus. Das sah auch nach 1989 anders aus. Unter den verschiedenen Funktionseliten des NS kann ich keinen Unterschied ausmachen, was ihr Versagen bei der Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten angeht. Warum hätten sie das auch tun sollen, wenn „Demokratie“ und universelle „Menschenrechte“ nach 1933 nicht mehr in der zeitgeistigen Substanz verankert waren?
Sind bei der personellen Kontinuität Unterschiede zwischen den Bereichen Rechtsprechung, Verwaltung und Lehre zu erkennen? Die kann ich nicht erkennen. Interessant sind auch Wechsel von einem Zweig in den anderen: Richter, Staatsanwälte, die nach 1945 Rechtsanwälte wurden oder in die Verwaltung gingen – was es übrigens sehr schwer macht, ihre Lebensläufe zu ermitteln. Es gibt dann hin und wieder Zufallsfunde wie im jüngst wieder hoch gekommenen Fall Nüßlein. Der hatte es bis 1945 zum Oberstaatsanwalt ausgerechnet in Prag gebracht; in den 50er Jahren taucht er dann im diplomatischen Dienst auf. Und dann fragt man sich jetzt, was es mit „ehrenden Nachrufen“ des Außenministeriums für solche Figuren auf sich haben könnte.
Eine verbreitete Erklärung für die Konformität von Juristen während des NS verweist darauf, dass ein strenger Rechtspositivismus ein Infragestellen von nationalsozialistischem Recht verhindert hätte, die Juristen hätten sich ihrer Ausbildung und Überzeugung entsprechend wortlautgetreu an die Gesetze gehalten. Wie passt diese Ansicht damit zusammen, dass viele Normen generalklauselartigen Charakter hatten? Und was hat es mit der - ebenfalls oft als Entschuldigung vorgebrachten - politischen Neutralität des Zivilrechts auf sich? Die so genannte Positivismus-These – von Gustav Radbruch nach 1945 aufgebracht –, nach der die deutschen Juristen durch die Auffassung „Gesetze ist Gesetz“ widerstandslos gegenüber dem gesetzlichen Unrecht des NS gemacht worden seien, gilt heute als falsch. Es ist übrigens interessant, diese These von Radbruch mit der berühmten Radbruch-Formel zu konfrontieren. In dieser „Formel“ geht es um den Widerspruch zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, ein Widerspruch, der zugunsten der Gerechtigkeit zu lösen sei, wenn der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so „unerträgliches Maß“ erreiche, dass das Gesetz als „unrichtiges Recht“ der Gerechtigkeit zu weichen habe. Wieso sollten nach 1945 plötzlich diese positivistisch verbildeten Richter in der Lage sein, ein „unerträgliches Maß“ zu empfinden? Oder wer sonst sollte in dieser Problematik entscheiden? Zur Erklärung der Konformität der Juristen im NS wird heute eher ein Bündel von Faktoren angeführt: sie haben vor allem aus Überzeugung mitgemacht und darüber hinaus vorauseilenden Gehorsam geübt. Sicherlich spielte ab einer schwer zu bestimmenden Zeit auch die Angst vor Positionsverlust eine Rolle. Beachten sollte man allerdings ein hohes Maß an Berufszufriedenheit. Die Karrierechancen waren gut – auch durch Ausschluss jüdischer Richter. Der Geschäftsanfall sank, ohne dass die Planstellen reduziert wurden; die Bezüge stiegen leicht. Auch die verbliebenen Rechtsanwälte profitierten vom Ausschluss ihrer jüdischen Kollegen. Erstmals erhielten nach 1936 Referendare und Assessoren Bezüge; für diese wurden auch feste Anstellungsfristen statt unbegrenzter Wartezeiten eingeführt. Was die Generalklauseln angeht, so wurde z.B. von Carl Schmitt gleich zu Anfang des NS betont, dass man auf sie zurückgreifen solle, um die aus der Weimarer Zeit zunächst übernommenen Gesetze im neuen Geist auszulegen. Wären die Richter und Staatsanwälte wirklich „Positivisten“ gewesen, hätten sie sich vielen Maßnahmen verweigert. Z.B. der Einführung der strafrechtlichen Analogie, der Verabschiedung rückwirkender Normen oder von Gesetzen mit völlig vagen Tatbeständen und exzessiven Rechtsfolgen. Auch im Bereich des Zivilrechts konnte man nicht vor weltanschaulich brisanten Fragen gefeit sein, etwa in Scheidungsverfahren bei Mischehen oder bei Verträgen mit Juden - nicht nur im arbeits- oder mietrechtlichen Bereich. Diese Fälle machen quantitativ betrachtet nur einen kleinen Teil der Rechtsprechung aus, wie Rainer Schröder1 gezeigt hat; aber Quantitäten zählen nicht bei der Frage, was in einer Rechtsordnung möglich ist.
Oft wird die Notwendigkeit von juristisch geschultem Personal für eine geordnete Staatsführung als Grund für die Übernahme bspw. des Großteils der NS-Richterschaft in der Bundesrepublik angegeben. Inwiefern trägt dieses Argument, insbesondere im Vergleich zur personellen Umstrukturierung des Justizapparats in der DDR? Deren Praxis, nicht auf die altgedienten Juristen zu setzen, sondern möglichst schnell neues Personal auszubilden, wird oft mit einem Verlust an Professionalität und Rechtsstaatlichkeit gleichgesetzt. Zunächst ist festzuhalten, dass die Juristen, die im NS aktiv waren, eine traditionelle Ausbildung im Kaiserreich oder der Weimarer Republik erhalten hatten. Zwei Staatsexamina garantieren also keine Resistenz gegen Unrecht. In der SBZ wollte man eine radikale Entnazifizierung durchführen mit der Entlassung aller Richter und Staatsanwälte, die auch nur formell NSDAP-Mitglieder waren (das waren 1945 immerhin 80%). Die Entnazifizierung war so radikal, dass im Jahre 1950 wohl nur noch 17 Personen blieben, die der NSDAP oder einer Gliederung (HJ, SA u.a.) angehört hatten. Die Lücke sollte geschlossen werden durch die rasche Ausbildung so genannter Volksrichter. Diese Maßnahme war höchst ambivalent. Denn diese Volksrichter waren auch diejenigen, die den Steuerungsmaßnahmen der SED in den krass rechtsstaatswidrigen Waldheimer Verfahren 1950 uneingeschränkt Folge leisteten.
Ist es in der Weiterentwicklung der Bundesrepublik durch das zeitliche Moment zu einem anderen Umgang mit früheren NS-Juristen gekommen, wurden diese also durch die nachwachsenden jüngeren Generationen ersetzt? Die Richter und Staatsanwälte, die im NS schon aktiv waren, gelangten bis in die 60er Jahre gemäß dem herkömmlichen Beförderungsmuster in obere Ränge der Bundesgerichte (mit Ausnahme des Bundesverfassungsgericht) oder der Oberlandsgerichte. Die jüngere Generation stieg dann allmählich aus den ersten Instanzen „nach oben“ auf. Das hat wohl dann auch seit Ende der 60er Jahre, Anfang der 70er Jahre zu einer veränderten Einstellung geführt. Allerdings konnte es dann kaum noch zu Verfahren gegen frühere NS-Juristen kommen. Gegen den letzten Richter am Volksgerichtshof Reimers begannen erneut Ermittlungsverfahren im Jahre 1979. Ein Ermittlungsverfahren gegen ihn war schon einmal 1971 eingestellt worden. Anklage wurde dann 1984 erhoben, worauf sich Reimers, der schon 82 Jahre war, tötete. Bei der Analyse von Verfahren gegen frühere Richter und Staatsanwälte aus der NS-Zeit durch bundesdeutsche Gerichte zeigt sich eine Änderung in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in dem Moment, in dem eine neue Generation an dieses Gericht gelangt ist, die in der NS-Zeit noch nicht im Justizdienst sein konnte. Das war 1970 – aber das war auch das letzte BGH-Verfahren in diesen Sachen. Allerdings wurden die Vorgaben des BGH in diesem Revisionsverfahren von der unteren Instanz konterkariert.
Strafrechtliche Verurteilungen von NS-Richtern hat es in der Bundesrepublik fast keine gegeben, was maßgeblich mit der obergerichtlichen Rechtsprechung zu § 339 StGB, Rechtsbeugung, zusammenhängt: für das Abweichen von der Gesetzeslage wird direkter Vorsatz verlangt, was einer Straflosstellung des vermeidbaren Verbotsirrtums gleichkommt. Wurde hier eine Gelegenheit, sich mit der eigenen Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen, versäumt, oder entspricht diese Straflosigkeit einer nur untergeordneten, nicht strafwürdigen Verantwortung von NS-Richtern? Es wird immer noch behauptet, dass kein NS-Richter von einem bundesdeutschen Gericht verurteilt worden sei. Manchmal wird das eingeschränkt auf Richter am Volksgerichtshof. Dies ist richtig. Aber es gibt einige wenige Verurteilungen westdeutscher Gerichte (seit 1948). Insgesamt lassen sich wohl sechs Verurteilungen nachweisen – immer gegen Mitglieder von Standgerichten in der Endphase. Die Konstruktion des Rechtsbeugungstatbestandes, d.h. die Voraussetzung des direkten Vorsatzes und die „Sperrwirkung“ dieses Tatbestandes gegenüber einer direkten Verurteilung wegen Mordes, geht wiederum auf Radbruch zurück. Er hat damit den angeblich positivistisch verblendeten Juristen eine goldene Brücke gebaut. Der Bundesgerichtshof hat nach 1990 im Rahmen der Rechtsbeugungsverfahren gegen DDR-Juristen wiederholt davon gesprochen, dass die Verfolgung nationalsozialistischen Justizunrechts durch die Gerichte der Bundesrepublik Deutschland insgesamt fehlgeschlagenen sei. Und er sieht die Kritik an den fehlenden Verurteilungen von Richtern am Volksgerichtshof als berechtigt an. Nur wird nichts darüber gesagt, worin denn die Fehler bestanden. Irgendwelche rechtlichen Konsequenzen haben solche Äußerungen nicht. Oder sollte der Bundestag die Nicht-Verurteilungen von NS-Richtern demnächst für ungültig erklären? Wegen Rechtsbeugung wird man die bundesdeutschen Richter in diesen Verfahren wohl nicht zur Verantwortung ziehen können.
Auch inhaltlich gibt es Kontinuitäten zwischen Recht, welches während des Nationalsozialismus entstanden ist, und dem Recht der – insbesondere frühen – Bundesrepublik, wie z.B. das Rechtsberatungsgesetz, welches 1935 erlassen wurde, um die letzten jüdischen Juristen aus dem Bereich der Rechtsberatung zu „entfernen“, oder auch das KPD-Verbot. Sind solche parallelen Regelungen nach der Beseitigung dessen, was als spezifisch nationalsozialistisch abgesehen wurde, politisch neutral zu bewerten? Das Rechtsberatungsgesetz schloss insbesondere Juden aus, die nach 1933 ihre Zulassung als Rechtsanwalt verloren hatten. Aber es gab zu dieser Zeit noch Juden, die als Rechtsanwälte zugelassen waren aufgrund von Sonderbestimmungen (Frontkämpfer im 1. Weltkrieg, vor 1914 tätig). Diese Anwälte – wie z.B. Ernst Fraenkel2 - konnten noch bis zum September 1938 praktizieren. Dann durften sie nur noch als „Rechtskonsulenten“ tätig sein. Das Rechtsberatungsgesetz ist nach 1945 von seinen unmittelbar erkennbaren braunen Flecken gereinigt worden (die man heute noch in den Fußnoten des Schönfelder3 erkennen kann). Die Frage, die die Forschung beschäftigt, ist aber, ob die Einschränkung der Rechtsberatungsbefugnis verbunden mit einem Quasi-Monopol für Rechtsanwälte nicht auch insofern braunem Geist entsprungen ist, als dadurch die Berufszufriedenheit der Anwaltschaft im NS gesteigert werden konnte – als ein Mittel, deren Konformität zu sichern. Typisch für den NS ist eben die Verbindung von konformitätssteigernder Inklusion bestimmter Gruppen mit der Exklusion anderer. Zum KPD-Verbot erhoffe ich mir, dass endlich eine zeitgeschichtliche Forschung durchgeführt wird, die den politischen Hintergrund dieser Entscheidung durch archivische Recherchen zu erhellen versucht. Ein solches tiefschürfendes Vorgehen sollte nicht nur im Bereich der DDR-Justiz-Forschung praktiziert werden. Glücklicherweise gibt es in der letzten Zeit Versuche, die bundesdeutsche Justiz der 50er Jahre hinter- und untergründig aufzuhellen durch Untersuchungen der Personalakten der Richter am Bundesgerichtshof, des Kontextes des Lüth-Urteils4 oder des Prozesses gegen Otto John5.
Was für Erfahrungen haben Sie bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung der deutschen Rechtsgeschichte gemacht? Stoßen Sie auf Interesse bei Studierenden, KollegInnen an der Universität und bei JuristInnen allgemein? Die Studierenden versuche ich im Rahmen von Seminaren anzusprechen mit Themen zur NS-Justiz, zum Recht in der DDR und auch zur Aufarbeitung der Rechtsvergangenheit in der BRD. Der zeitgeschichtliche Kenntnisstand entspricht allerdings nicht immer dem Interesse. Da ist viel nachzuholen. Ansonsten sind die Bemühungen an der Deutschen Richterakademie sehr erfreulich, die juristische Zeitgeschichte im Themenspektrum zu etablieren. Die Veranstaltungen werden sehr gut angenommen. Inwiefern ist eine wissenschaftliche Aufarbeitung überhaupt möglich, wenn auch heute noch weite Teile der JuristInnen die Beteiligung der eigenen Disziplin am Nationalsozialismus nicht sehen bzw. nicht sehen wollen? In der universitären Ausbildung wird diese Epoche wenn überhaupt, dann höchstens kurz innerhalb der rechtsgeschichtlichen Grundlagenvorlesung - die ohnehin nur von wenigen besucht werden - behandelt, mehr Raum nimmt dort in der Regel das römische Recht ein. Immerhin gehört das Rechtssystem im Nationalsozialismus mittlerweile während der Referendariatsausbildung fest zum Programm. Seit den 60er Jahren gibt es doch eine Fülle von Bemühungen, die Vergangenheit der eigenen Disziplin und die Gerichtspraxis im NS zu bearbeiten. Selbst die Vereinigung der Staatsrechtlehrer hat sich vor einigen Jahren der Vergangenheit ihrer akademischen Väter-Generation gestellt. An Publikationen mangelt es nicht. Auch in Lehrbüchern der Rechtsgeschichte wird die NS-Zeit mitunter breit bearbeitet. Der akademische Unterricht lässt aber anscheinend sehr wenig Raum für die grundlegenden Fragen, die der NS an den Umgang mit dem Recht stellt. Ich jedenfalls versuche in meinen rechtssoziologischen und rechtsphilosophischen Veranstaltungen das Manko etwas zu kompensieren. Wer natürlich stromlinienförmig durch das Studium eilen möchte, wird sich solchen Irritationen nicht aussetzen. Wer sein Geld mit M&A6 machen will, dem wird die deutsche Geschichte ein böhmisches Dorf bleiben, auch wenn daraus ein Gefreiter entsprang (und dem wird der Sinn dieses Wortspiels wohl auch verschlossen bleiben).
Im Vergleich: Was für eine Form der wissenschaftlichen Aufarbeitung hat in der DDR stattgefunden? Konnte der frühere „staatlich verordnete Antifaschismus“ mehr leisten? Zu Recht und Justiz im NS sind mir aus der DDR nur wenige Arbeiten bekannt. Das ist vielleicht damit zu erklären, dass die Sache im Rahmen des offiziellen Antifaschismus ohnedies klar war und man z.B. mit Fragen wie der, ob das Ermächtigungsgesetz gültig war, diesem Terrorsystem zu viel Ehre erwiesen hätte. Immerhin stammt aus der DDR eine gute Veröffentlichung des Nürnberger Juristenurteils7, die man bei einer viel späteren, Nach-Wende Ausgabe in der BRD schlicht vergessen hatte. Im übrigen sind staatliche Vorgaben – seien sie thematischer oder finanzieller Art – für die Forschung im Bereich der Vergangenheitspolitik im allgemeinen nicht unbedingt förderlich.
Abschließend stellt sich noch die Frage, wie die Perspektive der Auseinandersetzung mit „Recht und Nationalsozialismus“ aussieht. Nachdem in der BRD eine erhebliche Anlaufzeit benötigt wurde, um sich überhaupt von offizieller Seite diesem Thema zu widmen, besteht jetzt die Gefahr, von einer allgemeinen Schlussstrichdebatte überrollt zu werden. Wie beurteilen Sie diese Aussichten? Einen Schlussstrich sehe ich nicht. Es wird immer noch fleißig geforscht, veröffentlicht und diskutiert. Im Zusammenhang mit dem 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs war – im Unterschied zu den vorangegangen runden Jahrestagen – auffällig, dass der Opfer-Status der Deutschen zum Ende des Krieges und auch während des Bombenkriegs im Vordergrund stand. In dem Maße, in dem die Überzeugung von der Loyalität und Kooperationsbereitschaft großer Teile der deutschen Bevölkerung sich im Zeitgeist verfestigt hat, kann man die Opfer-Rolle nicht mehr gegenüber dem NS, letztlich Hitler suchen und finden; dann müssen die alliierten Streitkräfte mit ihren Bombenangriffen, Vertreibungen und Vergewaltigungen herhalten, um den Opfer-Status aufrechtzuerhalten. Juristen aus der NS-Zeit haben bis in die 60er Jahre eine Opfer-Rolle gegenüber dem System, dem sie dienten gepflegt (ich verweise auf die Veröffentlichungen z.B. von Schorn8 und Weinkauff9). Sie verstanden sich ja nicht nur als Opfer des Positivismus; Hitler, gewiss ein Anti-Positivist, habe ihnen gar gedroht. Es ist aber noch niemand auf die Idee gekommen, das vorläufige Ende der Justiz, den Stillstand der Rechtspflege in einigen Regionen Deutschlands seit September 1944 (mit der Proklamation Nr. 1 des obersten Befehlshabers der Alliierten Streitkräfte General Eisenhower), als die alliierten Truppen erstmals auf deutschem Gebiet standen, zu beklagen. Die Befreiung bedeutete eben auch die Beseitigung von Sondergerichten und Standgerichten. Wer wollte dem Ende des alltäglichen Justizterrors nachtrauern?
Herr Rottleuthner, ich bedanke mich ganz herzlich für das Interview.
Interview: Ulrike Müller
Literatur zum Nachlesen:
Bernt
Engelmann:
Ingo
Müller:
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Bei sämtlichen Fussnoten handelt es sich um Anmerkungen der Redaktion:
1R. Schröder: „...aber im Zivilrecht sind die Richter standhaft geblieben!“ – Die Urteile des OLG Celle aus dem Dritten Reich, Baden-Baden 1988. Rainer Schröder ist Professor für Zivilrecht und neuere/neueste Rechtsgeschichte an der HU. Er lehrt und forscht schwerpunktmäßig zum Thema Nationalsozialismus und DDR. Er ist wegen seines totalitarismustheoretischen Ansatzes nicht unumstritten.
2Biografische Angaben zu Fraenkel siehe S. 36.
3Nach dem Begründer von 1931 benannte Textsammlung der wichtigsten Zivil-, Straf- und Verfahrensgesetze. Das Standardwerk der JuristInnen ab dem Hauptstudium. NB: Bis zur Neufassung 2002 hieß es im Vorwort über den Tod von Heinrich Schönfelder, er sei „im Felde“ geblieben.
41950 rief der Leiter des Hamburger Presseamtes, Erich Lüth, anlässlich der „Woche des deutschen Films“ zum Boykott von Filmen des Regisseurs Veit Harlan auf. Dieser hatte in der Nazi-Zeit den antisemitischen Propagandafilm „Jud Süß“ gedreht. Harlan erwirkte beim Landgericht Hamburg eine Untersagung derartiger Boykottaufrufe. Auf die Verfassungsbeschwerde von Lüth hin hob das Bundesverfassungsgericht das Urteil wegen Verletzung der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) auf (BVerfGE 7, 198). Siehe auch T.Henne/A.Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005.
5Otto John war erster Präsident des Bundesamt für Verfassungsschutz. 1954 trat er überraschend in der DDR öffentlich als „Überläufer“ auf und kritisierte die Politik der Bundesregierung. In den Westen zurückgekehrt, behauptete er, entführt und zu dem Auftritt gezwungen worden zu sein. Da ihm kein Glauben geschenkt wurde, verurteilte ihn der BGH zu einer Haftstrafe.
6M&A = „Mergers & Acquisitions“ (BWL-Neusprech) Etwa: „Fusionen und Übernahmen“. Deren rechtliche Vorbereitung und Betreuung ist ein zentrales Betätigungsfeld wirtschaftsorientierter Anwaltskanzleien.
7Verfahren vor einem US-amerikanischen Militärgericht in Nürnberg (17.2. - 13.10.1947) im Anschluss an die eigentlichen „Nürnberger Prozesse“ vor dem „International Military Tribunal“. Angeklagt waren hohe Beamte des Reichsjustizministeriums sowie maßgebliche Richter des Volksgerichtshofes (insgesamt 16). Der Prozess endete mit Verurteilungen zu einer lebenslangen und sechs zeitlichen Freiheitsstrafen sowie vier Freisprüchen. Die Verurteilten wurden Anfang der fünfziger Jahre entlassen, der Letzte im Jahr 1956. (Vgl. Kastner, JA 1997, S. 699 ff., auch im Internet: www.justiz.bayern.de/olgn/imt/lit/kastner_jurproz/kastner_jp.htm). Siehe auch H.Rottleuthner, Das Nürnberger Juristenurteil und seine Rezeption in Deutschland – Ost und West, in: Neue Justiz 1997, S. 617-623.
8Schorn, Hubert: „Der Richter im Dritten Reich“, 1959.
9Weinkauff, Hermann: Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, 1968.