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Deutschland im Nationalsozialismus
–
Totalitärer Staat, Nicht-Staat oder Doppelstaat?
Franz
Neumanns Analyse „Behemoth“ im Vergleich mit Fraenkels „Doppelstaat“
und totalitären Konzepten
War
der NS-Staat ein Staat oder eine „Bande, deren Anführer ständig
gezwungen sind, sich nach Streitigkeiten wieder zu vertragen“? Letzteres
konstatierte der deutsche Rechtssoziologe Neumann 1942. Seine Untersuchung
„Behemoth“ stellt ein frühes Standartwerk zum nationalsozialistischen
Deutschland dar, dass an Aktualität nicht verloren hat.
Ulrike
Müller
Franz
Neumanns „Behemoth“
stellt – neben Ernst Fraenkels „Doppelstaat“
– einen der beiden rechtssoziologischen Klassiker zum Nationalsozialismus
dar, die in der Emigration entstanden sind und schon früh analytisch
wichtige Perspektiven eröffnet haben. 1942 erschien die erste, 1945
die zweite Ausgabe, englischsprachig. Erst 1977 auf Deutsch herausgegeben
und explizit nur mäßig rezipiert, wird das Werk trotzdem immer
wieder als wegweisend für die spätere Faschismus- und Nationalsozialismus-Forschung
bezeichnet.
Neumanns Kernthese lautet, dass das nationalsozialistische Deutschland
nicht als starker Staat qualifiziert werden kann, sondern einen völlig
ungeordneten und regellosen Zustand der Herrschaft darstellt. Entscheidungen
werden von den vier souveränen Elementen der gesellschaftlichen Führung
– Partei, Staatsführung, Militär und Großindustrie
– ausgehandelt, ohne dass dafür eine Institutionalisierung
besteht.
Biographisches
Franz
Leopold Neumann, Jahrgang 1900, war von Hause aus Jurist und gehörte
zum gewerkschaftsnahen Kreis um Hugo Sinzheimer. Von 1928 an hatte
er in Berlin eine Kanzlei, zusammen mit Fraenkel. Als SPD- und Gewerkschaftsanwalt
wurde er 1933 kurzfristig verhaftet, konnte dann aber nach Großbritannien
emigrieren, wo er Politikwissenschaften studierte. 1936 siedelte er nach
New York über und arbeitete in Max Horkheimers Institute of
Social Research, dem aus Frankfurt/Main verlegten Institut für Sozialforschung.
Von 1943 an erstellte er für das US-amerikanische Office of Strategic
Services Analysen für die Deutschlandpolitik nach dem Krieg. Im Unterschied
zu Fraenkel kehrte Neumann nach 1945 nicht nach Deutschland zurück,
sondern war ab 1950 als Professor für Politische Wissenschaften an
der Columbia University in New York tätig.
„Behemoth“
– das Gegenstück zum „Leviathan“
Behemoth
ist – ebenso wie Leviathan – ein Ungeheuer in der jüdischen
Endzeitgeschichte. Mit diesen Namen beschrieb Thomas Hobbes 1682
bzw. 1651 unterschiedliche Gesellschaftszustände: Leviathan symbolisiert
den totalen Staat, Behemoth dagegen einen Zustand der Gesetzlosigkeit
und des Chaos, welcher nicht mehr als Staats bezeichnet werden kann. Neumann
stuft das nationalsozialistische Deutschland als solchen Nicht-Staat,
als „Unstaat“ ein. Damit widerspricht er verbreiteten Interpretationen
von NS-Deutschland als totalitäres Regime und auch Fraenkels Konzept
des – aus Maßnahme- und Normenstaat zusammengesetzten –
Doppelstaats.
Der
fehlenden staatlichen Institutionalisierung entspricht die fehlende Konsistenz
der politischen Theorie: Der Nationalsozialismus hat keine „Theorie
der Gesellschaft (...), keine konsistente Vorstellung ihrer Funktionsweise,
Struktur und Entwicklung“,
sondern passt seine ideologischen Äußerungen manipulativ an
die jeweilige politische Situation und die potentielle Akzeptanz durch
die Bevölkerung an. Damit konstatiert Neumann einen grundlegenden
Unterschied zum Bolschewismus, der schon damals mit dem NS verglichen
wurde. Den antisemitischen rassistischen Ideologie-Elementen schreibt
Neumann 1942 noch eine Sündenbockfunktion zu. 1944 dagegen deckt
er die gesellschaftlich integrative Wirkung der Vernichtung auf: „Die
Teilnahme an einem so ungeheuren Verbrechen wie der Ausrottung der Ostjuden
macht die deutsche Wehrmacht, das deutsche Beamtentum und breite Massen
zu Mittätern (...) und macht es ihnen daher unmöglich, das Naziboot
zu verlassen.“
Totaler
Staat?
Die
anfängliche nationalsozialistische Doktrin von der Totalität
des Staates trat, so Neuman, ab 1936 durch den realen Machtzuwachs des
Staates in Widerspruch zum Führungsanspruch der NSDAP. Die dann praktizierte
Ablehnung des staatlichen Vorrangs ist „mehr als ein ideologisches
Mittel (...); sie ist Ausdruck der realen Notwendigkeit des Systems, sich
der Herrschaft des rationalen Gesetzes zu entledigen“,
da die rationale, formal und gesetzlich organisierte Bürokratie keine
völlig situationsabhängige Willkürherrschaft ermöglicht.
Die reale politische Struktur beschreibt Neumann ab 1944 als völlig
ungeregelt: Der Ministerrat und andere Willensbildungsorgane funktionieren
nicht mehr, staatliche Kompetenzen sind nicht immer mit tatsächlicher
Macht verbunden, politische Entscheidungen kommen durch Verträge
zwischen den vier Machtgruppen zustande. Es handelt sich laut Neumann
also nicht um einen Staat – schon gar nicht um einen totalen –,
sondern um eine „Bande, deren Anführer ständig gezwungen
sind, sich nach Streitigkeiten wieder zu vertragen.“
Diese fehlende Institutionalisierung sieht Neumann nicht als Schwäche,
sondern gerade als Stärke des Herrschaftssystems an: Eine mögliche
Opposition müsste mehrere Führungspositionen stürzen.
Aber
kann nicht, solange die notwendigen Kompromisse immer wieder zustande
kommen, von einer Staatsgewalt gesprochen werden? Diese mag funktional
geteilt, von Konkurrenz gekennzeichnet und kaum berechenbar sein, aber
das faktische Ergebnis – die erfolgreiche Koordinierung und die
Ausübung der Herrschaft – gerät bei Neumann teilweise
aus dem Blickfeld. Letztendlich lässt sich hier Neumanns Definition
in Frage stellen: Was für eine Form der Institutionalisierung ist
erforderlich, um von einem Staat sprechen zu können? Ist eine solche
formale Berechenbarkeit der Entscheidungsfindung in den Territorien, die
allgemein als Staaten verstanden werden, immer gewährleistet? Trotz
dieser Unklarheiten hat Neumann mit seiner These gerade in Abweichung
zu Totalitarismustheorien einen entscheidenden analytischen Beitrag geleistet.
Parallele
Interessen in Politik und Wirtschaft
Neumann
beschreibt die Wirtschaftsordnung als „totalitären Monopolkapitalismus“,
also als privatkapitalistisches System, in welchem trotz umfassender staatlicher
Reglementierung marktwirtschaftliche Prozesse ablaufen. Mit dieser Einstufung
steht Neumann im Gegensatz zu vielen anderen Untersuchungen, die von einem
staatskapitalistischen System ausgehen.
Neumann begründet macht seine Erkenntnis daran fest, dass staatliche
Interventionen und Monopolisierung den Konkurrenzmechanismus nicht abgeschafft,
sondern auf andere Ebenen umgeleitet haben und Gewinne weiterhin privat
angeeignet werden. Er gelangt weder zu einem Primat der Politik noch zu
einem der Wirtschaft, sondern betont die Parallelität der Interessen,
die erst die tatsächliche Realisierung ermöglicht. „(Selbst)
in einem Einheitsstaat, der sich des Primats der Politik über die
Ökonomie rühmt, (ist) die politische Macht ohne ökonomische
Macht (...) stets gefährdet.“
Recht
als Herrschaftsmethode
Eine
weitere bedeutende These Neumanns lautet, dass im Nationalsozialismus
keine formal-rationales Recht mehr bestanden hat. Mit der Allgemeinheit
des Gesetzes sind auch der rationale Charakter und dessen freiheitssichernde
Funktion verschwunden. Möglich war dies, weil die ökonomische
Funktion des allgemeinen Gesetzes, Rechtssicherheit zu schaffen, überflüssig
geworden ist: monopolistische Unternehmen können ihre Interessen
auch ohne rechtliche Gebote durchsetzen. Um nicht das gesamte Rechtssystem
umgestalten zu müssen, sind nationalsozialistische Inhalte oft durch
Generalklauseln eingeführt worden. Als theoretische Grundlage dafür
benennt Neumann den Institutionalismus in Form von Carl Schmitts
„konkretem Ordnungs- und Gestaltungsdenken“. Dieses einzelfallbezogene
Agieren weist Neumann nicht nur im Straf- und Polizeirecht nach, sondern
auch im Arbeitsrecht und im allgemeinen Privatrecht - dort z. B. bei der
Frage nach der Geltung von Verträgen zwischen JüdInnen und NichtjüdInnen.
Behemoth
/ Doppelstaat: Gegenkonzepte oder historische Fortsetzung?
Fraenkels
Konzept des Doppelstaats verneint die Staatsqualität Deutschlands
nicht. Bei dem Nebeneinander von Maßnahmen- und Normenstaat handelt
es sich um unterschiedliche Methoden, nicht um eigenständige Instanzen.
Die NSDAP rechnet Fraenkel dem Staat im weiteren Sinne zu. Im Gegensatz
dazu sieht Neumann 1942 Partei und Staat noch als getrennt an, 1944 stellt
er eine Kontrolle des Staates durch die Partei, nicht umgekehrt, fest.
Ferner geht Fraenkel von einem Fortbestehen des formal-rationalen Rechts
im Normenstaat, insbesondere im Bereich der Wirtschaft, aus. Nur den Bereich
des Maßnahmenstaats beschreibt er als willkürlich und ausschließlich
an Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit orientiert. In diesem
Punkt geht Neumann explizit ablehnend auf Fraenkels Analyse ein. Zwar
erkennt auch er z. B. im Straßenverkehr und bei manchen alltäglichen
Verträgen noch Regelmäßigkeiten. Wegen deren nur technischen
Charakters in einer komplexen und arbeitsteiligen Gesellschaft qualifiziert
er sie aber als gesellschaftlich neutral und damit nicht als Recht.
Dieser
Gegensatz zwischen Fraenkel und Neumann ist teilweise begrifflicher Natur.
Neumanns definitorische Unterscheidung zwischen gesellschaftlich indifferenten
Regelmäßigkeiten und wertendem Recht kann selbst für die
von ihm angeführten Bereiche nicht konsequent zu Ende gedacht werden.
Die Unterschiede in den Darstellungen Neumanns und Fraenkels sind teilweise
auch historisch bedingt: Fraenkel hatte seine Untersuchung 1940 abgeschlossen,
Neumann hatte noch die Entwicklung bis 1944 einbezogen. „Erst in
den beiden letzten Phasen, die Fraenkel nicht mehr analysiert hat, wird
jene (...) Koexistenz von Maßnahmestaat und Normenstaat relativiert
und der Normenstaat in seiner Bedeutung für die politische Reproduktion
des Herrschaftssystems immer mehr verdrängt.“
Außerdem beschreibt Fraenkel das Nebeneinander von Normen- und Maßnahmenstaat
nicht als gleichgeordnet und fest, sondern weist die „Kompetenzkompetenz“
dem letzteren zu. Für die später von Neumann verzeichnete Entwicklung
ist Fraenkels Darstellung offen.
Zwei
grundlegende Differenzen bleiben aber bestehen. Zum einen in der Frage
nach der staatlichen Organisation Deutschlands: auch Fraenkel geht auf
weit gehende Selbstverwaltungskompetenzen ein, ohne zur Annahme von souveränen
Gruppen zu gelangen oder die Staatlichkeit des Deutschen Reichs in Frage
zu stellen. Zum anderen in der Frage, ob formal-rationales Recht in einer
monopolisierten Wirtschaft funktionsnotwendig ist oder von dieser zerstört
wird.
In
diesen Aspekten liegt auch der immer noch aktuelle Gewinn aus Neumanns
Untersuchung: Mit der Verneinung der Staatsqualität hat Neumann die
grundlegend neue Form der Verknüpfung von Politik und Ökonomie
aufgezeigt
und dabei eine „statische Subordination der Politik unter die Wirtschaft
genauso vermieden wie umgekehrt die bloß subsumierende Unterordnung
der Ökonomie unter einem Primat der Politik.“
In der verstärkten öffentlichen Debatte anlässlich des
60. Jahrestags der Befreiung vom Hitler-Faschismus wurde auch der „Behemoth“
zunehmend erwähnt.
Es ist zu hoffen, dass sich dieser Trend fortsetzt und Neumanns Erkenntnisse
angemessen wahrgenommen werden.
Ulrike
Müller
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