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Über die Herrschaft des Rechts

Rechtswissenschaft heute: Eine launige Darstellung



Du studierst also Jura. Ist das nicht das Auswendiglernen von Normen, die von den herrschenden Eliten aufgestellt werden, um ihre Vormacht zu festigen? Kann es in dieser Herrschaftswissenschaft auch linke und staatskritische Positionen geben? Über das wahre Leben im falschen. Von Bernd Mex


Respekt den RechtsverdreherInnen?

Es gibt Studiengänge, die haben komischerweise ein anderes Image als andere, zum Beispiel Jura. Wenn Du zur Absicherung Deines Existenzminimums, für Essen, Trinken und Deinen Schlafplatz oder für die neuen Bücher und den Urlaub neben dem Studium arbeitest, dann wirst Du das merken. Egal ob in der Kneipe, beim Taxifahren oder in der Industrie, irgendwann wird Dir die Frage gestellt, was Du denn studierst. Wenn Du dann ‚Jura‘ antwortest, dann wird Dir ein spezieller Respekt erwidert werden, denn die Menschen haben vorab bereits ein Bild von der Rechtswissenschaft und ihremn Gegenstand – dem Recht – im Kopf.

Dein Fahrgast in der Taxe wird nachfragen, ob das nicht besonders schwer ist, mit diesen ganzen Paragraphen, dem Auswendiglernen und so. Deine neue Bekanntschaft in der Kneipe wird vielleicht gerade ein kleines Problem mit der Hausverwaltung haben und Dich sofort konkret fragen, was denn in diesem speziellen Fall getan werden kann. Und die Kollegin in der Produktion, wird nachhaken, was Du denn werden willst, Rechtsanwalt, Richterin gar, Staatsanwalt womöglich oder vielleicht lieber Justitiarin bei einem Wirtschaftsunternehmen. Antwortest Du dann, dass aus Dir wahrscheinlich ein weiterer Rechtsanwalt werden wird, dann erfährst Du manchmal, welche Erfahrungen die Kollegin kürzlich mit ihrem Rechtsanwalt gemacht hat. Du wirst dann merken, der Berufsstand der Rechtsanwälte, das sind unter anderem RechtsverdreherInnen, die mal geschickt, mal aber auch fehlerhaft die Interessen ihrer MandantInnen vertreten und die MandantInnen sind ihnen ausgeliefert. Sie wissen nicht, was die AnwältInnen im Einzelnen richtig machen oder auch falsch. Und Recht, wird die Kollegin sagen, hat nocht immer was mit Gerechtigkeit zu tun.

An der Uni ist das mit dem Ansehen nicht viel anders. Zwar ist die Uni groß, manchmal fühlst Du Dich vereinzelt und denkst, Du bist Teil einer anonymen Masse, doch auch dort eilt Dir ein Ruf voraus. Die JuristInnen, Du, seid Ihr nicht eher karrieregeil und erfolgsorientiert? Ist bei Euch nicht der Einsatz der Ellenbogen besonders ausgeprägt, etwa wenn die Seiten in dem Aufsatz, der für die Hausarbeit son wichtig ist, herausgerissen sind? Ja, wirst Du seufzen, das passiert schon mal. Vor allem, wenn sich zweihundert Studierende auf zwei Zeitschriftenbände stürzen, dann kann es schon mal vorkommen, dass Du die NJW 1992, Seite 791 und folgende nicht in die Hände bekommst, obwohl oder weil genau dort geschrieben steht, wie Du eines der Probleme Deiner Hausarbeit in den Griff bekommst. Aber vielleicht hast Du ja Glück und triffst in der Mensa einen netten Menschen. Es stellt sich heraus, dieser Mensch studiert Sozialwissenschaften. Ihr seid Euch sympathisch, ihr kommt ins Gespräch. Du erfährst, die Vereinzelung der Menschen in der Uni, diese Entsolidarisierung, die muss nicht sein. Und dann erzählt auch dieser nette Mensch Dir was über Dein Studienfach. Jura, wird sie sagen und Dir dabei bedeutungsschwer in die Augen schauen, Jura, das ist eine Herrschaftswissenschaft, denn die Macht macht das Gesetz. Und Du wirst vielleicht komisch gucken, weil Du nun plötzlich mit dem auch schlechten Ruf der Rechtswissenschaft konfrontiert bist. Die herrschende Meinung ist die Meinung der Herrschenden, hörst Du. Plötzlich bist Du herausgefordert, Fragen zu beantworten, die Dir im Studium sonst nicht gestellt werden: Warum gibt es überhaupt Gefängnisse?1 War nicht die 68er Bewegung auch eine JuristInnen-Bewegung, die andere Vorstellungen von der richtigen Gerechtigkeit hatte?2 Ist es sinnvoll, Jura zu studieren, oder solltest Du als kritischer, fortschrittlicher Mensch nicht besser parteiisch in den sozialen Auseinandersetzungen einen Platz finden, um von dort aus am großen Projekt der Emanzipation des Menschen mitzuwirken?3 Du hörst all diese Fragen und wirst nachdenklich. Deine neue Bekanntschaft erwartet eine Antwort, das spürst Du. Und dann sagst Du, wie es wirklich ist, in der Rechtswissenschaft.


Die Herrschaft des Rechts

Selbstverständlich ist die Rechtswissenschaft eine Herrschaftswissenschaft. Dies bestreiten zu wollen, würde bedeuten, Ideologie zu verbreiten. Dass das Studium der Rechtswissenschaft dazu dient, eine Elite für den bürgerlichen Staat zu reproduzieren, kann auch nachgelesen werden. Denn auch für diese Fragen des Jura-Studiums gilt der legendäre JuristInnensatz von Harry Westermann: “Ein Blick ins Gesetz fördert die Rechtskenntnis.”

Schauen wir also in die entsprechenden Gesetze, in denen die JuristInnenausbildung und weitgehend auch ihre Berufsausübungsregeln festgelegt sind, in das Richtergesetz, in die Juristenausbildungsgesetze und ihre Verordnungen oder auch in die Bundesrechtsanwaltsordnung. Überall dort ist bestimmt, wer wie was werden darf, was er oder sie tun muss, um zu bleiben, was sie oder er geworden ist und auch grundsätzlich im Jura-Studium zu geschehen hat. In den Gesetzen steht, auch Staatsanwalt, Rechtsanwalt oder Notar kann nur werden, wer die Befähigung zur Ausübung des Richteramtes erlangt. Und deshalb werden an den Universitäten massenhaft potentielle RichterInnen ausgebildet, die mehr oder weniger jedes Rechtsgebiet in den Grundzügen beherrschen sollten. Weil die Jura-StudentInnen schließlich nach ihrer Ausbildung rechtsprechen können sollen, also die Aufgaben der judikativen Gewalt im Staat erfüllen können müssen, werden im Studium dementsprechend strenge Anforderungen gestellt. Und zur Sicherung der Qualität in der Judikative genügt es auch nicht, die Universitäten die Prüfungen organisieren zu lassen, nein, am Ende der Ausbildung stehen zwei Staatsexamen. Wer dort dann allerdings voll befriedigende Leistungen oder gar noch besseres abliefert, dem steht die juristische Welt offen. Diese JuristInnen können sich dann mit guten Aussichten um die Stellen bei Gericht und in den Staatsanwaltschaften bewerben. Und dort dann üben sie im Rahmen ihrer Befugnisse Staatsgewalt aus und sind – kann das bestritten werden? – Teil der Eliten im Gemeinwesen.

Nun mag eingewendet werden, dass die Stellung der JuristInnen im Gemeinwesen noch nichts über Herrschaft aussagt. Immerhin werden nur wenige und nur die am besten benoteten JuristInnen am Ende RichterInnen, die meisten werden den freien Beruf des Rechtsanwaltes ausüben. Auch sind die RichterInnen in ihrer Arbeit nicht frei, sondern an Recht und Gesetz gebunden und unterliegen einer Dienstaufsicht. Aber schauen wir nochmals in das Richtergesetz, so lesen wir, dass die RichterInnen nur der Wahrheit und der Gerechtigkeit dienen. Und an dieser Stelle nun wird es interessant: RichterInnen werden tätig, wenn sie zur Streitentscheidung aufgefordert werden. Sie bekommen einen Lebenssachverhalt, nehmen Recht und Gesetz und dann geben sie ein gerechtes Urteil. Nur, was sind Recht und Gesetz, was ist Gerechtigkeit und was ist nach der Überzeugung des Richters als Wahrheit bewiesen? Recht und Gesetz, klar, das ist das, was irgendwie vorgegeben und Gegenstand des rechtswissenschaft-lichen Studiums ist. Aber lernen die JuristInnen nicht auch, das es unbestimmte Rechtsbegriffe gibt, Rechtslücken sogar, Streitigkeiten über den Regelungen und in den Gesetzen und ihre Geltung? Ja, selbstverständlich lernen sie das, sie werden mit schwer- und auch leichtverständlichen Theorien vertraut gemacht und vorallem werden sie darin geschult, Streitfälle so zu entscheiden, dass das Urteil als unmissverständliche Folge von Recht und Gesetz erscheint. Und doch ist die Rechtsfindung nicht selten eine eigenständige Leistung der JuristInnen. Gewiss, der Wortlaut des Gesetzes ist genau so eine beachtliche Vorgabe wie die höchstrichterliche Entscheidung einer früher einmal offenen Zweifelsfrage. Was unstreitig Recht und Gesetz ist, darüber dürfen die JuristInnen nicht hinwegsehen. Auch werden sich die JuristInnen an der Mehrheitsmeinung in der Rechtswissenschaft orientieren, die Argumente für und wider einer bestehenden herrschenden Meinung abwägen und die Folgen ihres Handelns bedenken. Wo aber die Rechtswissenschaft und die Rechtsprechung unterschiedliche Entschei-dungsgründe anbieten, wo ein Begriff im Gesetz unterschiedliche Bedeutungen besitzen kann, wo aus der Rechtsdogmatik heraus und unter Berücksichtigung aller Auslegungsregeln unterschiedliche Rechtslösungen sich herleiten lassen, da werden die JuristInnen zu MachthaberInnen, denn dann legen sie fest, was Recht wird mit dem Anspruch auf Gerechtigkeit und Wahrheit. Wenn virtuos Richterrecht entsteht, dann bestimmen JuristInnen, was politisch gilt und Teil der herrschenden Ordnung wird. Und in diesem Augenblick dann werden JuristInnen als RichterInnen in letzter Instanz zu HerrscherInnen, als AnwältInnen zu PolitikerInnen auf dem Feld des Rechts und als GutachterInnen zu wichtigen RatgeberInnen. Und deshalb ist die Re-chtswissenschaft, die zur Schöpfung von Richterrecht befähigt und an der beständigen Anpassung des Rechts an veränderte Verhältnisse mitwirkt, auch eine Disziplin, die den richtigen Gebrauch von Macht lehrt und zum Fortbestand der Herrschaft des Rechts und ihrer letztinstanzlichen Interpreten, den JuristInnen anleitet.


Die andere Tradition

Die Rechtswissenschaft hat die Aufgabe, JuristInnen auszubilden. In ihrer Lehre soll sie zur fachmäßigen Anwendung des Rechts anleiten.4 Daneben aber forscht und untersucht sie auch. Die Rechtswissenschaft ist dann das Recht, das in den großen Lehrbüchern und Kommentaren steht. Sie ist die selbstorganisierte Suche nach dem wahren und eigentlichen oder auch nur nach dem rechtlich gerade noch zulässigen Sinn in den Gesetzen. Deshalb schreiben die JuristInnen auch in Zeitschriften reichlich viele Aufsätze zu den Problemen der Anwendung des Rechts. Eines davon, willkürlich ausgewählt und ohne besondere politische Brisanz steht dann in der NJW 1992, ab der Seite 791 und behandelt den postmortalen Zugang von Willenserklärungen. In solchen Aufsätzen kümmern sich dann die AutorInnen um die Entwicklung und Anpassung des Rechts, sie entwickeln Theorien, warum etwas dogmatisch richtig ist wie es ist und erarbeiten Lösungsvorschläge, die richtiger, gerechter oder einfach nur überzeugend sind.

In ihrer übergroßen Mehrheit, als JuristInnen können wir auch sagen, in ihrer herrschenden Meinung, ist die Rechtswissenschaft der bestehenden Ordnung verpflichtet. Gewiss, die große Flut an Aufsätzen, die Masse an rechtswissenschaftlichen Veröffentlichungen ist ein Beleg dafür, dass in der Rechtswissenschaft vieles immer wieder neu im Streit ist. Es findet ein reger Meinungsaustausch über alles statt. Und doch handelt es sich dabei um kein anarchistisches Palaver, um keine Anstiftung zur Revolution gar, nein, es sind Beiträge zum Verständnis der bestehenden Rechtsordnung. Schließlich will die Rechtswissenschaft in weiser Zurückhaltung nicht politisch sein. Ihr Forschungsgegenstand ist das Recht als das Hier und Heute geltender Normen. Das Morgenrot der Zukunft erörtert sie dagegen rechtswissenschaftlich korrekt zwischen den Zeilen als unausgesprochene politische Folge oder auf ihren Jurist(nur seltener auch -innen)tagen, wenn dann der Politik mal grundsätzlich die Möglichkeit der Rechtsentwicklung aufgezeigt werden.

Trotzdem wäre es falsch, von der Rechtswissenschaft als einem monolithischen Block zu sprechen. Auch in der Rechtswissenschaft gibt es Menschen, die nicht konservativ bewahrend, sondern fortschrittlich die Weiterentwicklung des Rechts betreiben. Wie in der kommenden JuristInnengeneration5, so gibt selbstverständlich auch in der gegebenen verschiedene politische Prägungen. Neben den christlich-demokratischen, den konservativen und den liberalen ProfessorInnen gibt es auch gewerkschaftlich-orientierte ArbeitsrechtlerInnen, linksliberale Bürger-rechtlerInnen, sozialdemokratische StaatsrechtlerInnen oder demokratische SozialistInnen6 in der Rechtswissenschaft. Allerdings ist die Zahl derer, die als solche die Kritik der herrschenden Meinung betreiben, verhältnismäßig klein. Die Zahl derer, die aufklärerisch und emanzipativ an der anderen Tradition der Rechtswissenschaft mitwirkten, war auch schon einmal größer, nach 1968 zu Beispiel. Und doch wirken sie auch heute in ihren Nischen. Sie bilden neue linke JuristInnen aus, die die Welt auch braucht, sie betreiben das müheselige Geschäft der Aufklärung der Öffentlichkeit, indem sie wichtige Bücher auf den Markt bringen, sie betreiben die parlamentarische Beratung der Parteien links der Mitte und verteidigen in Aufsätzen und Gutachten gleich den linken AnwältInnen vor Gericht die vermeintlich Rechtlosen, die aus der Gesellschaft ausgegrenzten Outlaws (Flüchtlinge, Einwanderer, Punks, Autonome, Drogen-gebraucherInnen, demnächst auch verhaltensauffällige Jugendliche).

Gäbe es diese andere Tradition in der Rechtswissenschaft nicht, unsere Welt sähe anders aus. Sicher, auch die linken, fortschrittlichen JuristInnen werden uns vom Übel dieser Welt nicht befreien. Das müssen wir schon selbst tun. Doch die Rechtswissenschaft gleicht einer Landschaft mit verschiedenen Plateaus.7 Diese Plateaus, das sind die allgemein anerkannten Rechtsinstitute und die anerkannten Strukturen des Rechts, wie zum Beispiel die Rechtsstaatlichkeit, die Wertordnung des Grundgesetzes, das sozialpflichtige Eigentum oder die Ausgestaltung der schuldrechtlichen Ansprüche im Zivilrecht. Auf diese so geformte Rechtsland-schaft wirken Kräfte ein, aus der Politik und Rechtswissenschaft, dort wo sie interessierte Öffentlichkeit ist. Daraus ergeben sich Brüche, Verschiebungen, Ausgrenzungen und Einschlüsse, die dazu führen, dass sich die Territorien, die anerkannt als Recht und Gesetz gelten, beständig verändern. Alles ist in Bewegung gleich einer geologischen Tektonik und kann als Rechtsentwicklung beobachtet werden. Die JuristInnen nun wirken in dieser Landschaft, indem sie die Plateaus vermessen, aber auch, in dem sie Verbindungen herstellen oder bestehende Kräfte als juristisch beachtliche Argumentationen anerkennen oder verwerfen. Gäbe es in diesem Wirkungsgefüge nicht auch linke, fortschrittliche JuristInnen, die Plateaus hätten eine andere Gestalt, die Kräfte würden anders wirken, das Recht als ein Netz, das die menschlichen Beziehungen strukturiert, wäre anders geknüpft.


Die Rechtsentwicklung verändern

Auch für die Zukunft brauchen wir kritische, linke, fortschrittliche JuristInnen. Sicher: Wer daran interessiert ist sich das Wir als wir, die Elite, die Herrschenden, die Deutschen, die Zufriedenen, die rechtlich und faktisch Privilegierten zu denken, wird dem widersprechen. Denn kritisch, links und fortschrittlich zu werden, würde bedeuten, die bestehende Ordnung, unseren Staat, sein Recht, Herrschaft und Macht sowie die ungleichen Freiheiten, Rechte und Pflichten der Menschen als StaatsbürgerInnen, als KonsumentInnen und als ProduzentInnen in Frage stellen. Doch sollen die Untertanen, die Outlaws, die Schwachen, die Gezwungenen bleiben, was sie sind? Gilt nicht weiter der Satz, dass alle Verhältnisse umzuwerfen sind, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist?8 Im Rechtsstaat, der die Herrschaft des Rechts begründet, bedeutet dies für die JuristInnen, sich in den Rechtsverhältnissen für die Achtung der Menschenwürde, für den Anspruch auf Emanzipation aller, für Solidarität im Gemeinwesen und für die politischen und sozialen Menschenrechte einzusetzen.


Die Rechtsentwicklungen der letzten Jahre zeigen, dass für die Zukunft eine solche Praxis wichtiger wird denn je. Zwar hat der Zusammenbruch des politbürokratischen Staatssozialismus zur Folge, dass nun in diesen Gesellschaften die bürgerlichen Freiheiten gelten. Dies ist angesichts der engen Schranken der Freiheit, der weitgehenden Eingriffe von Staat und Partei in die Lebensverhältnisse, der misstrauischen Bespitzelung des Volkes durch die Staatssicherheit und des Zwangs zur Unterwerfung unter die allein gültige Ideologie des Marxismus-Leninismus auch erfreulich. Doch immer deutlicher erleben wir in der Bundesrepublik insbesondere nach dem 11. September 2001 und seit dem eine deutsche Armee wieder deutsche Interessen auf der ganzen Welt zu schützen hat, wie die Bürger- und Menschenrechte in Gefahr geraten, weil aus der Politik heraus und durch die Rechtspraxis der Behörden sich wieder neu die alten Tendenzen zu autoritären, rigorosen eingreifenden Staat durchzusetzen beginnt. Selbst wenn es ein Zurück zum CDU-Staat vor 1968 nicht geben wird, weil die durch die 68er Bewegung bei ihrem Marsch durch die Institutionen durchgesetzten Liberalisierungen nicht rückholbar sind, bleiben sie gefährdet. So werden polizeiliche Befugnisse immer weiter ausgeweitet: Großer Lauschangriff, verdachtsunabhän-gige Kontrollen, die Verhängung von Aufenthaltsverboten, umfassende Datenspeicherung und Rasterfahndung, Schily I ff., unter den Schlagworten der Terror- und Verbrechensbekämpfung werden verbesserte Möglichkeiten zur Kontrolle der Gesellschaft geschaffen, die zugleich die Frei-heitsräume des Einzelnen einschränken. Denn auch wenn das Ziel der polizeilichen Ermittlung die Aufdeckung von Straftaten ist, so geraten im Zuge dieser Maßnahmen doch auch immer mehr unbeteiligte Dritte in den Zugriff polizeilicher Informationsbeschaffung, ohne dass sie diesen Eingriff in ihr Persönlichkeitsrecht auf informationelle Selbstbestimmung abwehren oder kontrollieren können. Es ist bezeichnend, dass in diesem Zusammenhang neuerdings in der Rechtspolitik vom Grundrecht auf Sicherheit die Rede ist. Wie immer, wenn es darum geht, spezifische Interessen durchzusetzen, so wird auch diesmal ein allgemeines Interesse reklamiert. Offensichtlich soll hier versucht werden, gegen den Einwand der Beschädigung bisher allgemein anerkannter Grundrechte sich mit dem konstruierten Argument zu schützen, es würden Grundrechte in praktischer Konkordanz zur Geltung gebracht. Nur: kann ‚Grundrecht‘ genannt werden, was nicht mehr und nicht weniger als das Recht des misstrauischen Staates auf umfassende Kontrolle der Gesetzestreue seiner Untertanen ist? Oder zieht hier nicht eine postmoderne Polizeiwissenschaft herauf, mit der die Kontrollgesellschaft ihr Gesicht bekommt?


Ein anderes Feld weitreichender Veränderung, das nicht ohne Begleitung durch die kritische fortschrittliche Rechtswissenschaft bleiben kann, ist das Völkerecht. Die Herausbildung einer umfassenden Weltrechtsordnung gewinnt fraglos an Dynamik. Neben dem Weltfriedensrecht in der UN-Charta ist nun die Sanktionierung von Verstößen gegen das Völkerstrafrecht durch den Internationalen Strafgerichtshof auf den Weg gebracht. Dies und die 1997/98 bekannt gewordenen Bemühungen um ein multilateral agreement on investment (MAI), das den globalen Eigentumsschutz ohne Sozialpflichtigkeit festschreiben sollte, werden offensichtlich neben GATT/WTO die Eckpunkte einer verrechtlichten Weltordnung. Nur: können mit einer solchen verrechtlichten Weltordnung auch die anerkannten sozialen und kulturellen Menschenrechte verwirklicht werden?

Ebenso kann bezweifelt werden, ob der Prozess der westeuropäischen Integration mit zunehmenden Zuständigkeiten der EU-Bürokratie und des Ministerrates vorangetrieben werden kann, ohne dass die entworfene Verfassung für die Union der europäischen Staaten eine unmittelbare demokratische Kontrolle der Entscheidungsträger garantiert oder die Beteiligung der BürgerInnen vorsieht.9 Auch auf diesem Feld der Rechtsentwicklung ist es erforderlich, dass sich linke, fortschrittliche JuristInnen als StaatsbürgerInnen, als kritische Intellektuelle und als Fachkräfte mit ExpertInnenwissen für Veränderungen einsetzen, soll nicht die Utopie von den Vereinigten Staaten von Europa an Nationalismus, Neofaschismus und Wohlstandschauvinismus in der Bevölkerung scheitern. Denn dort wie auch neuerdings im Sozial- und Medizinrecht setzt sich die ideologische Sichtweise durch, die die Menschen nur noch als KonsumentInnen, als Kostenfaktoren und als Objekte ökonomischer Kalkulation betrachtet. Werden die kalten Kalkulationen der neoliberalen Betrachtungsweise, wird die darin zum Ausdruck kommende ökonomische Rationalität in schwindende Rechtsansprüche übersetzt, so kann das Unbehagen in der Bevölkerung in Protest gegen die herrschende Rechtsordnung umschlagen.

Herausforderungen für kritische, linke, fortschrittliche JuristInnen gibt es also genug. Schön wär’s, gäbe es auch zukünftig JuristInnen, die die Herausforderung annehmen, auch nach dem Studium noch kritisch, links und fortschrittlich zu sein.



Quelle:

Barabara Nohr u.a. (Hrsg.): Kritischer Ratgeber Wissenschaft, Studium, Hochschulpolitik. BdWi-Verlag, Marburg 2000. Der Abdruck erfolgte mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.



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1Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisse, Frankfurt/M., 1976.

2Rudolf Wiethölter: Rechtswissenschaft. Frankfurt/M., 1968, wiederveröffent-licht Basel/Frankfurt/M., 1986.

3Bei Uwe Wesel: Aufklärung über Recht. Frankfurt/M., 1988, S. 126 f. ist diese Diskussion aus dem Jahr 1969 dargestellt.

4Die übergroße Zahl der werdenden JuristInnen, die im Zuge der Ex-amensvorbereitung das Angebot der Schulung bei privaten, kommerziellen Repetitorien annimmt, zeigt allerdings, dass die universitäre Jurist-Innenausbildung in ihrer jetzigen Form fragwürdig ist. Zugleich machen andererseits auch vor der Rechtswissenschaft die Versuche, im Sinne neoliberaler Ideologie das Studium zu ‚verschlanken‘ und auf seinen unmittelbaren Gebrauchswert für die Praxis hin umzustrukturieren, nicht halt. So werden an ausgewählten Fachhochschulen inzwischen spezialisierte WirtschaftsjuristInnen ausgebildet.

5Interessant in diesem Zusammenhang ist eine Untersuchung über die politischen Einstellungen der StudentIn-nen heute, aufgegliedert nach Fachrichtungen: Alex Demirovic/Gerd Paul: Demokratisches Selbstverständnis und die Herausforderungen von rechts. Frankfurt/M./New York 1996; siehe auch unser Interview auf S. 8.

6Siehe: Hubert Rottleuthner (Hrsg.): Probleme der marxistischen Rechtstheorie. Frankfurt/M. 1975; Norbert Reich (Hrsg.): Marxistische und sozialistische Rechtstheorie. Frankfurt/M. 1972. Aktuellen Einblick in die Diskussion der fortschrittlichen Rechtswissenschaft bietet die Zeitschrift Kritische Justiz (KJ).

7Das Bild vom Machtgefüge als Wirken innerhalb und auf einer komplexen geologischen Tektonik ist umfassend beschrieben bei: Gilles Deleuze, Felix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin 1992.

8Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: Marx-Engels-Werke 1, 15. Auflage, Berlin 1988, S. 385.

9Siehe Georg Polikeit: Mit schönen Worten rückwärts wandern. EU-Verfassung im Dienst der Machtkonzentration, freischüßler 2/2003, S. 3ff.