akj



Home

Aktuell

Erklärungen

das
freischüßler

      Ausgabe 1/99
     
Ausgabe 2/99
     
Ausgabe 3/99
     
Ausgabe 1/00
     
Ausgabe 2/00
     
Ausgabe 3/00
     
Ausgabe 1/01
      Ausgabe 2/01
     
Ausgabe 1/02
     
Ausgabe 1/03

      Ausgabe 2/03
      Ausgabe 1/04

      Ausgabe 1/05

      Ersti-Heft

Vorträge

Projekte

Seminare

Links

Impressum



„Die Stimme, die der Wind von unten trägt“ 1

Macht - Menschen - Rechte in Mexiko


Vom 16. Februar bis 3. März 2002 bereiste die Internationale Zivile Kommission zur Beobachtung der Menschenrechte (Comisión Civil Internacional de Observación por los Derechos Humanos - CCIODH) zum dritten Mal innerhalb von 5 Jahren Mexiko (insbesondere Chiapas), um sich vor Ort ein Bild über die Lage der Menschenrechte zu verschaffen. Jetzt wurde ein ernüchternder Bericht vorgelegt: Trotz des geschichtsträchtigen Regierungswechsels 2000 wird darin das Fortbestehen von Militarisierung, Paramilitarismus, Folterungen, Vertreibungen, Gewissensgefangenen, der Straflosigkeit für MenschrechtsverletzerInnen und der Kriminalisierung sozialer Bewegungen dokumentiert.


Teil 1 - Geschichtliche Hintergründe


Mexiko im Kampf der Interessen


„Armes Mexiko, so weit weg von Gott und so nahe an den USA.“ Dieses Zitat des mexikanischen Diktators Porfirio Díaz charakterisiert die historische Zangenlage Mexikos zwischen den Interessen europäischer Mächte und den USA, das Mexiko im 19. Jhdt. als seinen „Hinterhof“ entdeckte und ihm mit zahlreichen Interventionen große Teile des Staatsgebiets abrang. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Auf der anderen Seite beschreibt es seine innere Zerrüttung und den Clash von unterschiedlichsten gesellschaftlichen Interessen und Strömungen.

In dem Maße, wie die großen Industriestaaten in Lateinamerika Fuß faßten und auf das Leben Einfluß nahmen, stieg das Interesse an politisch stabilen Verhältnissen. Nach den langen Unabhängigkeitskriegen und revolutionären Prozessen des 19. Jhdt., in denen innenpolitische Spannungen stets militärisch gelöst wurden, hatte das „chronische Bandenwesen“2 ebenso stark zugenommen wie die Zahl der Caudillos (lokale Führer). Das begünstigte die Konsolidierung starker Regierungen, die als Diktatoren revolutionäre Prozesse gewaltsam zu ersticken versuchten. Damit öffneten sie die Tore zu einer Produktionssteigerung, die auf der Grundlage ausländischer Investitionen, Regierungsanleihen und rücksichtsloser Ressourcenausschlachtung basierte und Mexiko in die Schuldknechtschaft fremder Mächte führte. Diese Entwicklung war nicht unmittelbare Folge direkter ausländischer Interventionen, sondern korrespondierten vielmehr mit den Interessen des städtischen Handelswesens und der einflußreichen Großgrundbesitzer.

Dem aus der Revolution geborenen Staat fiel eine neue Rolle zu. Das Beispiel des mexikanischen Diktators Porfirio Díaz (ab 1876) könnte fast repräsentativ für den gesamten lateinamerikanischen Kontinent stehen, da er sein Regime nicht nur mit besonderer Härte führte, sondern gleichzeitig eine Reihe von Modernisierungsmaßnahmen durchsetzte, die den ausländischen Interessen nachkamen und damit den wirtschaftlichen Aufstieg begünstigten, was wiederum den einheimischen Kaufleuten und Großgrundbesitzern nutzte. Durch die Spezialisierung der Landwirtschaft auf den Ausbau von Monokulturen machten sie sich andererseits zu Sklaven des Weltmarktes, auf dem die USA wachsende Bedeutung erlangten.

Die Bedingungen dieser wirtschaftlichen Entwicklung nach Überwindung der Sklaverei (1865) fußten auf der Ausbeutung der ArbeitnehmerInnen, vor allem im Bergbau und der Landwirtschaft, und der Herausbildung von Quasi-Sklaverei in Form von Schuldknechtschaft bzw. neuen Formen der Leibeigenschaft. Dies läßt sich vor allem im Umgang mit der indigenen Bevölkerung bis zum heutigen Tage verfolgen.
Der wachsende Einfluß des technischen Fortschritts und der europäischen Expansion auf die mexikanische Kultur verhalf auch den Rassentheorien zu neuer Geltung. Mit der Übertragung des Darwinismus auf das soziale Leben und die Verteidigung des Prinzips der stärkeren Lebenskraft bestimmter Völker wurde der Völkermord und die Unterjochung der indigenen Bevölkerung gerechtfertigt. Unter Verweis auf die mangelnde Zufriedenheit bei der Einführung der Lohnarbeit und des freien UnternehmerInnentums in einigen Bevölkerungsteilen sowie der Gleichgültigkeit, mit der diese den neuen Forderungen nach Produktionssteigerung gegenüberstanden, wurden insbesondere indigene und afrikanische Kulturen als „primitiv“ eingestuft und dauerhafter Diskriminierung ausgesetzt.

Bis heute scheint der Gedanke vom „Indianer“ als niedrige Rasse nicht ausgerottet. Das dokumentiert ein Kommentar des Abgeordneten Samuel Yocelevitz Fraustro von der rechtskonservativen Regierungspartei zum neuen Gesetz über indianische Rechte im Dezember 2001:

"Die Indigenas haben jetzt alle erdenkliche Autonomie für ihre Sitten und Gebräuche und alles, was sie wollen. Und sie haben das Recht, das Land zu bebauen. Wir wollen ja, daß der Indianer produktiv ist. Denn er ist ja tatsächlich fleißig. Doch er hat Probleme damit, Profit zu machen, weil er in abgelegenen Tälern lebt. Man muß ihnen also nicht nur beibringen, wie sie Erträge aus der Erde holen, sondern auch, wie sie diese Erträge kommerzialisieren können, und ihnen alle Möglichkeiten an die Hand geben. Was der Indianer im Grunde will, sind Dienstleistungen und Möglichkeiten zu arbeiten. Sie haben das Recht, das Land zu bebauen. Aber daß sie uns bloß nicht damit kommen, sie würden jetzt aufgrund ihrer Sitten und Gebräuche Marihuana anbauen."                                                                                                      


Der Zusammenprall der Kulturen wirkte sich schon immer besonders bedrohlich für jene indigenen Gemeinschaften aus, die sich ihre Unabhängigkeit hatten bewahren können und deren Landbesitz die Begehrlichkeit vieler weckte. Der Konflikt äußerte sich in Form von Antinomien: dem Gegensatz zwischen ChristInnen und HeidInnen, KatholikInnen und ProtestantInnen; der Verteidigung der Idee des Privateigentums gegenüber Gemeindeeigentum; dem Arbeitswillen und Wettbewerbsstreben einer Gesellschaft, die sich ganz allmählich der kapitalistischen Wirtschaft anpaßte, gegenüber der Indolenz und dem fehlenden Profitstreben anderer Gesellschaftsformen.


Revolution und Institutionalisierung

An der Frage der Wiederwahl des Präsidenten Porfirio Díaz entzündete sich 1910 die mexikanischen Revolution. In ihrer Gewalttätigkeit und Radikalität brachte sie die über Jahrhunderte aufgestauten sozialen Spannungen und Divergenzen zum Ausbruch. Dies scheint um so deutlicher, wenn mensch bedenkt, daß die Unabhängigkeit Mexikos spätestens nach der Niederschlagung der von Hidalgo und Morelos angeführten Bewegung kein Ereignis sozial fortschrittlichen Denkens war, sondern von den gemeinsamen Interessen des katholischen Konservatismus und der Großgrundbesitzer getragen wurde. Unter der Diktatur von Diaz verloren zudem schätzungsweise 5000 Indiodörfer ihren Landbesitz und wurden als „Zubehör“ den Haziendas der Großgrundbesitzer zugeschlagen, die diese Gebiete aufkauften. Eine Volkszählung von 1910 läßt erkennen, daß 96,8% der mexikanischen LandbewohnerInnen keinen eigenen Grund und Boden besaßen und lediglich 1% der Bevölkerung über 96% des Bodens verfügten.

In den revolutionären Prozessen der Folgejahre standen daher Forderungen nach Landverteilung und Garantien persönlicher Freiheit im Vordergrund. Dies konkretisierte sich im Plan von Ayala, in dem festgelegt wurde, daß die landlosen Bauern nicht nur ihren Grund und Boden wieder erhalten, sondern auch das Recht haben sollten, ein Drittel des Restes der großen Haziendas in Besitz zu nehmen. Unter dem Banner „tierra y libertad“ (Land und Freiheit) organisierten sich daher insbesondere Bauern indigener Herkunft um Bauernführer wie Pancho Villa und Emiliano Zapata. Die revolutionären Wirren, in denen die Großgrundbesitzer stets auf Seiten der Konservativen standen, nutzten die ZapatistInnen (AnhängerInnen Zapatas) zur tatsächlichen Landverteilung.

Schnell bemerkten auch liberale Revolutionsführer wie wichtig die Betonung sozialer Interessen zur Entscheidung des Machtpokers war. Mit der erneuten Machtergreifung durch Carranza wurde 1917 eine neue Verfassung verkündet, die der alten Verfassung von 1857 antiklerikale und sozialliberale Akzente hinzufügte. Im Rahmen dieser neuen Tendenz wurden alle Enteignungen indigenen Gemeindebesitz rückgängig gemacht und die ejidos (bäuerlicher Gemeindebesitz) für unveräußerlich erklärt. Das Recht des Landbesitzes wurde damit denjenigen zugesprochen, die es auch tatsächlich bearbeiten.

Die mexikanische Revolution ist in Lateinamerika einzigartig, das darauf fußende und entstandene politische System ist es ebenfalls: Nach der Ermordung Zapatas bündelte die National-Revolutionäre Partei (seit 1934 "Partei der Institutionalisierten Revolution" - PRI) die teilweise konträren revolutionären Kräfte und beendete damit die bewaffneten Auseinandersetzungen. Die Institutionalisierung der Revolution bedeutete, politische Entscheidungen und Konflikte unsichtbar werden zu lassen. So entstand ein System, daß seine Probleme in nach außen nicht erkennbaren, überwiegend friedlichen Machtkämpfen löste und außerdem die Kraft besaß, seine realen und potentiellen GegnerInnen in sich aufzusaugen. Auf eine Ära der bewaffneten Revolution, die eine Million Tote gekostet hatte, folgte die Ära der Korruption, deren Revolution sich alle 6 Jahre im Komplettaustausch der Führungsriegen und ihrer Seilschaften durch erangezogene NachfolgerInnen erschöpfte. Die Inkarnation des selben Systems - so kommt jedeR mal ran.

Dies ermöglichte eine Integration sozialrevolutionärer Strömungen im Gegensatz zu Repression und Unterdrückung der Linken in anderen mittel- und südamerikanischen Ländern. „Allerdings etablierte sich bald ein statisches System, dessen Hauptcharakteristikum Stabilität hieß.“3 Dem anfänglich sozialen und radikalen Geist des Generals Lázaro Cárdenas (1934-40), der Agrarreform vorantrieb, die nordamerikanischen Erdölgesellschaften enteignete, eine unabhängige Außenpolitik gegenüber den USA verfolgte und während des spanischen Bürgerkrieges die RepublikanerInnen unterstützte, folgte ein wachsendes Übergewicht des nationalen Bürgertums. Dieses bereicherte sich durch Spekulationen und Beteiligung an industriellen Unternehmen und schuf mit der Investition in Landbesitz die Grundlagen für eine kapitalistische Agrarwirtschaft.

Politisch kann die PRI mit ihren dreizehn Millionen Mitgliedern daher kaum zugeordnet werden. Ihre eigentlichen Stützen sind die Gewerkschaften bzw. deren Dachverbände. Die drei großen Verbände Conferderación Nacional Campenina (CNC - Bauernverband), Conferderación de Trabajadores de México (CNC- ArbeiterInnenverband) und Conferderación Nacional de Organizaciones Populares (CNOP - Verband der Staatsangestellten) sind kollektiv Mitglieder der PRI und ermöglichen deren immense Machtfülle in allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Die Gewerkschaften sind streng hierarchisch und zentralistisch organisiert, die Führer regelmäßig korrupt.

Die enge Verflechtung der Gewerkschaften mit der Regierungspartei hielt lange Zeit mit großer Elastizität die unzufriedenen Bevölkerungsgruppen ruhig und macht ihren Einfluß bis in die entlegensten Landwinkel geltend. Dabei bedient sie sich lokaler Strukturen informeller politischer Macht, die in patriarchalischer und rassistischer Gewalt durch inoffizielle politische Bosse (caciques) ausgeübt wird. Das System basiert auf dem Austausch von Vergünstigungen mit offiziellen Amtsinhabern (compadres). Vielerorts wird die den offiziellen Amtsinhabern obliegende politische Gewalt in der Praxis von caciques und ihren bewaffneten zivilen Unterstützern ausgeübt.

Als sich PRI im Juli 2000 nach über 70 Jahren erstmals durch einen oppositionellen Präsidentschaftskandidaten geschlagen geben mußte, war sie noch lange nicht am Ende: Partei- und Staatsapparat waren weitgehend identisch, Vetternwirtschaft, Korruption und Wahlbetrug wurden zur Tagesordnung. Über die allgegenwärtigen und mächtigen Parteisektoren wurden gesellschaftliche Forderungen kanalisiert und so jegliche Opposition vom Parteiapparat vereinnahmt. Noch immer ist sie stärkste Partei im Parlament und wirkt in allen politischen und sozialen Strukturen.


Ausgangssituation in Chiapas vor dem Aufstand der EZLN


Für die indigene Bevölkerung in Chiapas waren die verfassungsmäßig garantierten Bodennutzungsrechte nie mehr als Absichtserklärungen. Praktisch konnten sie in Chiapas nie richtig umgesetzt werden. Die kolonialen Besitz- und Sozialstrukturen blieben weitestgehend erhalten. Noch heute sind Klagen anhängig, die sich auf Dokumente der Landverteilung in den 40er Jahren berufen. Tatsächlich aber hatten sich einige reiche Familien europäischer (auch deutscher) Abstammung den urbar gemachten Boden durch geschicktes Taktieren und Ausspielen der verschiedenen Interessengruppen untereinander aufgeteilt. Die darauf lebende indigene Bevölkerung galt als dazugehöriges Inventar. Jährlich wurde ihnen ein bestimmtes Gebiet zur Bearbeitung zugewiesen, dessen Erträge sie an die GroßgrundbesitzerInnen abführen mußten.

Die Rechte der Landbevölkerung wurden lange Zeit ignoriert, ihre Anzeigen nicht verfolgt und durch Terror unterdrückt. Zuständige Institutionen und Behörden wurden weitgehend von den lokalen Eliten korrumpiert und waren auf allen politischen Ebenen mit dem PRI-Apparat verquickt. Sozialen Bewegungen und Protesten setzten die lokalen Eliten direkte Gewalt entgegen. Sie unterhielten paramilitärische Privatpolizeien: Guardias Blancas (Weiße Wachen), die unbequeme Landarbeiter ermordeten oder verschwinden ließen, in den Dörfern Terror verbreiteten und sie an der Flucht von den Ländereien der Rancheros hinderten. Dort arbeiten nahezu ausschließlich indigene ArbeiterInnen. Noch heute sprechen die wenigsten unter ihnen Spanisch und stehen damit außerhalb des Systems, werden als StaatsbürgerInnen nicht akzeptiert und erlangen keinen Zugang zur Justiz.

Das weitere Vordringen des Latifundien-Systems führte zu Landknappheit und förderte Bevölkerungsbewegungen. Teile der indigenen Urbevölkerung wurden aus ihren ursprünglichen, fruchtbaren Siedlungsgebieten in den Lakandonischen Regenwald und an die guatematekische Grenze verdrängt. Dort kam es vor allem in den 50er Jahren zu vielfachen Gründungen neuer Dörfer, die in gemeinschaftlicher Arbeit gegen äußerst widrige Umstände errichtet werden mußten. Andererseits bildeten sich bei der Beschäftigung indigener LandarbeiterInnen auf den Haziendas der Rancheros moderne Formen der Sklaverei heraus. So behielten diese den größte Teil des kümmerlichen Lohns als Miete für bereitgestellte Wohnbaracken ein, berechneten Transportkosten und zahlten den Rest in speziellen "Chips" aus, die nur in den völlig überteuerten Läden auf dem Landgut des Ranchero eingelöst werden konnten. Die ArbeiterInnen wurden so in direkter Abhängigkeit gehalten.

Die krasse Ungleichverteilung zwischen Boden und Macht hat den südlichsten Bundesstaat Mexikos bis heute weit hinter der industriellen und sozialen Entwicklung des Landes zurückgelassen. 10.000 Dörfer haben keinen Anschluß ans Trinkwassersystem, 30% der Gemeinden sind ohne Elektrizität, während Stromleitungen über die nicht angeschlossenen Dörfer hinweg in die Städte führen. Durchschnittlich leben sechs bis zehn Personen auf 16 m². 2/3 der Bevölkerung sind unter- oder fehlernährt, heilbare Krankheiten wie Durchfall und Erkältungen gehören zu den häufigsten Todesursachen und die Kindersterblichkeit liegt mit 18% weit über dem nationalen Durchschnitt. Ebenso sind die Gesundheitsfürsorge und die Schuleinrichtungen selbst im mexikanischen Vergleich katastrophal unterentwickelt. Analphabetismus ist weit verbreitet und betrifft vor allem Frauen.

Bodenknappheit und soziale Spannungen standen schon immer in unmittelbarem Zusammenhang. Subsistenzwirtschaftlicher Ackerbau auf zumeist indigenem Gemeindebesitz steht dem agrarkapitalistischem Monokulturismus der Racheros gegenüber. Dabei zeichnet sich Chiapas in einigen Region durch seltene Biodiversität aus, die bis zu 15 verschiedene Maissorten gedeihen läßt. Nicht selten werden Streitigkeiten zwischen Gemeinden daher von Rancheros und der PRI geschürt oder unterstützt. So schwelt in Chamula seit Anfang der Siebziger Jahre ein Konflikt zwischen den alten, PRItreuen Autoritäten (tradicionalistas) und einer Opposition, die sich mit dem Übertritt zu evangelischen Kirchen formierte. An die 20.000 Indigene wurden in den letzten Jahrzehnten unter dem Vorwand vertrieben, sie würden die kommune Struktur zerstören, weil sie sich nicht an den katholischen Festen beteiligten und eigene Autoritäten hätten.

Die wirtschaftliche Situation war jeher geprägt von der weltweiten und nationalen Rezession. Die Preise wurden von den lokalen Eliten diktiert. Dazu drohte durch den Beitritt Mexikos zur interamerikanischen Freihandelszone NAFTA 1994 und die damit verbundene Öffnung des mexikanischen Marktes für billige Agrarprodukte aus den USA eine weitere Verschärfung der sozialen Probleme.

Immer wieder kam es aufgrund dieser sozialen Mißstände in Chiapas zu Auflehnungen durch Kleinbauern- und Landlosenbewegungen. Mitte der 80er Jahre entstanden in bäuerlichen Selbstverteidigungsgruppen radikale Überlegungen zum bewaffneten Kampf und Widerstand.

Unterfüttert mit linksintellektuellem Know-How kam es Anfang der 90er Jahren zum Aufbau einer bewaffneten Guerillaarmee, der EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional - Nationale Zapatistische Befreiungsarmee).4 Als diese mit Inkrafttreten des NAFTA-Vertrages am 1. Januar 1994 zum offenen Kampf überging, brach der Mythos vom PRIgetragenen sozialen Frieden Mexikos endgültig zusammen.



Die EZLN und ihr Kampf


Die bewaffnete Erhebung der indianischen RebellInnen im ärmsten Bundesstaat Mexikos ist neben der Studierendenrevolte von 19685 der wohl bedeutsamste Konflikt seit der Revolution von 1910. Am frühen Neujahrstag 1994 überrannten die Guerilleros der EZLN unter dem Motto "Ya Basta!" (Jetzt reichts!) die Provinzstädte San Christóbal de las Casas und Ocosingo, besetzten die Gemeindeverwaltungen und übernahmen die Macht in zahlreichen indigenen Gemeinden des Hochlandes. Ganz im Sinne Zapatas begannen sie mit der „Rückgewinnung“ von Ackerland durch Besetzung der Haziendas, plünderten Pharmazien und Lebensmittellager und verteilten die erbeuteten Medikamente, orthopädischen Gerätschaften und Nahrungsmittel in der bedürftigen Bevölkerung.

Bei aller Gewalt vergaß es die EZLN nie, ihre Aktionen öffentlich zu machen und sich als lediglich sichtbarster Ausdruck einer breiten indianischen Protestbewegung zu präsentieren. Ein Anspruch, dem sie durch entsprechende politische Forderungen nachkam. Kennzeichneten sich indianische Widerstandsbewegungen in den 80er Jahren jedoch vor allem durch den Kampf um Autonomierechte und die verfassungsrechtliche Anerkennung der multiethnischen Zusammensetzung der Nationalbevölkerung wie in Kolumbien, Ecuador, Nicaragua und Panama, ging die EZLN darüber hinaus.

Ihre Forderung nach Autonomierechten für die indigenen Völker Mexikos meint in erster Linie Anerkennung ihrer traditionellen Rechts- und Eigentumsformen, auch wenn diese von denen des hegemonialen westlichen Demokratiemodells abweichen. In zweiter Linie aber geht sie über eine symbolische Anerkennung hinaus, wie sie von den meisten lateinamerikanischen Regierungen auf einer eher folkloristischen Ebene gewährt wurde. Es geht um den rein materiellen Begriffsinhalt: Das Recht auf Selbstbestimmung in Fragen der kommunalen Verwaltung, der Land- und Ressourcennutzung, der Durchführung von Entwicklungsprojekten und der Konfliktmediation.

Bei Autonomierechten ließ es die EZLN aber nicht bewenden, sondern forderte die vollwertige Staatsbürgerschaft. Daneben prägte sie mit ihren Konzepten von der gesellschaftlichen Erneuerung neue Vorstellungen von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Damit erlangte sie weit über ihre Gebietsgrenzen hinaus internationale Bedeutung und machte sich zum Fürsprecher aller sozialen Unterschichten.6

Der mexikanische Soziologe Andrés Barreda Marín führt dazu aus: „Sie schlagen eine sehr fortschrittliche Demokratie vor, die für alle Gruppen partizipativ ist, und die für die Ökonomie bedeutet, daß alle regionalen gesellschaftlichen Gruppen die Möglichkeit haben, sich an Entscheidungen über die Nutzung der natürlichen Ressourcen der Nation zu beteiligen. Diese Vorstellung von Demokratie ist ein Bollwerk gegen den Prozeß der Privatisierung von Infrastruktur, sie schiebt auch der geplanten Privatisierung des Erdöls einen Riegel vor.“7

Neben den Forderungen nach Arbeit, Ernährung, Häusern, Schulbildung und Gesundheit gingen die Forderungen der EZLN nach Frieden, Freiheit, Land, Gerechtigkeit, Demokratie und Würde auch über die bloße Aufhebung der sozialen Mißstände hinaus. Sie standen für eine politische Neugestaltung Mexikos, ein Ende des verfilzten Staatsapparats der PRI und betonten die Wichtigkeit einer Revitalisierung der mexikanischen Zivilgesellschaft in Opposition zu den "PRIistas". Unter Berufung auf die revolutionäre Verpflichtung warf die EZLN der Staatspartei Verrat vor und definierte sich als eine Nationale Armee, die vom Recht eines Staates bzw. Volkes auf Selbstverteidigung Gebrauch macht. Dem bewaffneten Arm der PRI, der mexikanischen Bundesarmee, erklärte sie daher ganz offiziell den Krieg.

Diese reagierte prompt und rücksichtslos. Sie bombardierte Dörfer, belagerte diese anschließend und stürmte die längst geräumten Städte. Nach zahlreichen Luftangriffen, dem Einsatz von 200 Panzern und 15.000 Soldaten, die sich zahlreicher Menschenrechtsverletzungen schuldig machten, mußten sich die KämperInnen der EZLN nach drei Tagen in die Berge des Lakandonischen Regenwaldes zurückziehen. In direkten militärischen Auseinandersetzungen konnten sie sich keine Chancen ausrechnen und stellten daher Mitte Januar auch alle übrigen Kampfhandlungen ein.

Dagegen hatten sie in der (Welt)Öffentlichkeit ein Interesse für ihre Forderungen geschaffen und setzten daher auch weithin auf Öffentlichkeitsarbeit. In ihren „Botschaften aus dem Lakandonischen Regenwald“ erklärte die Führung der EZLN immer wieder ihre Verhandlungsbereitschaft mit der mexikanischen Bundesregierung und beteiligte sich an der nun entstanden Diskussion.

Nachdem die Bundesarmee 12 Tage lang wüten konnte und auf der Suche nach EZLN-KämpferInnen vor Folterungen, Plünderungen und Exekutionen auch in der Zivilbevölkerung nicht zurückschreckte,8 willigte die mexikanische Bundesregierung in die Verhandlungsangebote ein und vereinbarte einen Waffenstillstand. Auf Vermittlung des engagierten Bischofs von Chiapas, Samuel Ruíz, begannen drei Wochen später die Verhandlungen in der Kathedrale von San Christóbal. Bis März '94 handelte der Regierungsvertreter Manuel Camacho Salís mit der EZLN einen dauerhaften Waffenstillstand, die Anerkennung der EZLN als politische Kraft, ein Investitionsprogramm für Chiapas und die Gründung einer Nationalen Versöhnungskommission (CONAI) aus, zu deren Vorsitzenden Bischof Ruíz ernannt wurde. Einen 34-Punkte-Friedensplan der Regierung lehnte die EZLN im Juni jedoch ab.

Daneben baute sie ihre Stützpunkte weiter aus. Es folgten weitere Landbesetzungen in ganz Chiapas durch SympathisantInnen der Guerilla. Neue Dörfer, Gemeinden und Landkreise wurden gegründet, die sich für zapatistisch und autonom erklärten und seither durch Kooperationen untereinander versuchen, unabhängig vom Staatsapparat für bessere Lebensverhältnisse zu sorgen. Gemeinsam mit UnterstützerInnen aus allen Landesteilen und aus bereits bestehenden Gemeinden bilden sie die soziale Basis der EZLN.


Michael Plöse
(Delegationsteilnehmer für den akj-berlin)


zurück

www.contravista.de  -  Deutsche Delegation der CCIODH

www.pangea.org/chichigu/cciodh2002.htm  -  CCIODH - Comisión Civil Internacional de Observación por los Derechos Humanos (Internationale Zivile Kommission zur Beobachtung der Menschenrechte)

Projekt Menschenrechtsbeobachtung


1Aus einem Communiqué des Subcomandante Marcos in La Jornada vom 27.1.1994.

2Gustavo Beyhaut, Fischer Weltgeschichte: Süd- und Mittelamerika II, Frankfurt a.M. 1993, S. 146.

3Stephan Köhler, epo-Spezial, Mexiko: Land und Freiheit, http://www.epo.de/specials/chiapas/land.html

4Neben der EZLN operieren in Mexiko noch die Revolutionäre Volksarmee (Ejército Popular Revolucionario - EPR) im Bundesstaat Guerrero und die Revolutionäre Armee des aufständischen Volkes (Ejército Revolucionario del Pueblo Insurgente - ERPI) in Oaxaca.

5Trauriger Höhepunkt der Revolte, an der sich im Vorfeld der Olympischen Spiele in Mexiko im Sommer 1968 über eine halbe Million Studierende beteiligten, war das Massaker von Tlateloco auf dem Platz der drei Kulturen, in dem über 500 DemonstratInnen ihr Leben ließen, zugleich aber den Zerfall der PRI provozierten.

6EZLN <http://www.ezln.org/>.

7Zitiert bei: Miriam Lang, Indianischer Widerstand gegen Privatisierung und Profit, 25.12.2001, <htt://www.gipfelsturm.net/latino.htm>.

8Human Rights Watch / Amerika 1994, 1995.