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Stammheim*-Revival am Bosporus

Delegationsbericht aus der Türkei



Vom 14. – 17. September 2001 befand sich eine internationale JuristInnen-delegation in Istanbul. Die Delegation bestand aus fünf deutschen, einem schweizer und zwei niederländischen JuristInnen und wurde durch die Vereinigung Europäischer Demokratischer JuristInnen (EJDM), das Komitee gegen Isolationshaft (IKM-Hamburg), den TAYAD-Solidaritätsverein Bielefeld sowie den arbeitskreis kritischer juristinnen und juristen berlin (akj-berlin) unterstützt. Ziel der Delegation war es, Informationen über die Bedingungen in den Isolationsgefängnissen (F-Typ Gefängnisse) der Türkei zu erhalten.


Vorweg

Seit Jahren plante die Türkei Isolationsgefängnisse speziell für politische Gefangene einzurichten. Am 19. Dezember 2000 wurde mit einer „Verlegung“ der ersten Häftlinge in die neuen F-Typ Gefängnisse begonnen. Dies geschah in einer Militäraktion mit unglaublicher Brutalität, bei der mehr als 20 Gefangene getötet wurden. Seit dem 20. Dezember 2000 befinden sich mehrere politische Gefangene aus Widerstand gegen die F-Typ Gefängnisse in einem Todesfasten. Angehörige der Häftlinge schlossen sich diesem Fasten an. Mittlerweile sind dabei 89 Todesopfer und 257 dauerhaft Geschädigte zu beklagen (Stand: 21.3.02).

Der Widerstand der zum großen Teil inhaftierten Opposition richtet sich vornehmlich gegen die durch IWF-Auflagen erzwungenen massiven Kürzungen sozialer Leistungen, Privatisierungen und daraus folgender Arbeitslosigkeit und Massenverelendung. Den EU-Beitritt fest im Blick, läßt sich die Türkei vom IWF-konformen Kurs nicht abbringen und bekämpft stattdessen jeglichen Ansatz des Widerstandes mit allen Mitteln und unter Preisgabe der Gedanken- und Meinungsfreiheit. Willkürliche Inhaftierungen vermeintlicher Oppositioneller sind an der Tagesordnung. Das Verschwindenlassen von kritischen Stimmen bis hin zu militärischen Angriffen auf Widerstandszentren zeugt ebenfalls von der Missachtung der Menschenrechte in der Türkei.

KritikerInnen dieser Repressionspolitik müssen ihrerseits ebenfalls mit Repressionen rechnen. So sollte die Rechtsanwaltskammer von Istanbul komplett ausgetauscht werden, als diese sich kritisch zu den F-Typ Gefängnissen äußerte. AnwältInnen der politisch Verfolgten müssen mit Berufsverboten und Strafverfahren rechnen. Allein im ersten Halbjahr 2001 forderte die Staatsanwaltschaft für 1.519 Personen insgesamt 3.125 Jahre Haft wegen „Unterstützung terroristischer Organisationen“.

Der türkische Innenminister hatte kurz vor unserer Delegationsreise erklärt, daß jede/r mit noch verstärkten Repressionen rechnen muß, der oder die sich mit dem Widerstand Gefangener und ihrer Angehörigen solidarisiert. In der Tat scheint jeder Kontakt zu Angehörigen der Gefangenen und deren Organisationen als Solidarisierung aufgefaßt zu werden, denn auch unsere Delegation wurde massiv in ihrer Arbeit behindert.

Jeder Versuch von uns, nach Armutlu zu gelangen (einem Stadtteil Istanbuls und Zentrum des Widerstandes gegen die Isolationshaft) wurde von der „Anti-Terror-Einheit“ der Polizei im Ansatz vereitelt. So wurden wir bei unserem ersten Versuch in Gewahrsam genommen und drei Sunden, unter dem „Verdacht der Unterstützung des Terrorismus“, auf dem Polizeipräsidium festgehalten. Bei dieser Aktion wurden unsere beiden türkischen MitarbeiterInnen, die uns begleiteten, ohne Angabe von plausiblen Gründen für drei Tage inhaftiert. Unser zweiter Versuch endete damit, daß unsere Taxifahrer – nachdem wir in eine Straßensperre gerieten – die Anweisung erhielten, uns zum Flughafen zu verbringen. Glücklicherweise konnten wir die Taxifahrer nach einigem Verhandeln dazu bewegen, uns an einem anderen Ort (Aksaray) abzusetzen.

Wir wurden 24 Stunden am Tag observiert, unsere Telefonate wurden abgehört und jedem und jeder, der oder die mit uns in Kontakt kam, wurde durch das demonstrative Auftreten unserer zahlreichen Bewacher suggeriert, daß Kontakt mit uns unangenehme Folgen haben könnte.

Trotz der Festnahme unserer türkischen MitarbeiterInnen und trotz der massiven Versuche, unsere potentiellen GesprächhspartnerInnen und uns selbst einzuschüchtern, gelang es uns doch, drei Termine im Rahmen unserer Arbeit wahrzunehmen. Andere Termine und eine geplante symbolische Anklage gegen die Türkei wegen grober Verstöße gegen die Menschenrechte mußten leider ausbleiben.

Wir sprachen mit dem Rechtsanwalt und früheren Staatsanwalt Necati Özdemir, mit dem Rechtsanwalt Behic Asci vom „Anwaltsbüro des Volkes“, mit VertreterInnen des Menschenrechtsvereins IHD und mit VertreterInnen der Angehörigenorganisation TAYAD.



Die F-Typ Gefängnisse


Die neuen F-Typ Gefängnisse sind speziell für politische Gefangene eingeführt worden, um diese durch komplette Isolation unschädlich zu machen.

Die offizielle Begründung basierte darauf, daß in den alten Gefängnistypen Mafiastrukturen entstanden, durch die Leib und Leben der Gefangenen akut gefährdet waren. Die neuen Isolationszellen sollten dagegen Schutz bieten. Die Gefangenen dagegen befürchteten, durch die Isolation mehr als bisher den Foltermethoden der Gefängnisaufsicht zu unterliegen.

Interessant ist, daß durch viele Neuerungen und Hafterleichterungen in den alten Gefängnistypen, unter Federführung des damaligen Staatsanwalts Necati Özdemir, die Gewaltrate unter den Gefangenen rapide zurückging. Die politische Führung der Türkei sah durch diese fortschrittliche, menschenfreundliche und funktionierende Problemlösung ihr Projekt F-Typ gefährdet. Özdemir wurde abgesetzt und seine Neuerungen aufgehoben.

Elf dieser Gefängnisse mit jeweils 386 Insassen sind insgesamt geplant, davon sind bisher sieben in Betrieb. Es gibt zwei Arten von F-Typ Zellen: einmal für nur eine Person (8 qm) und einmal für maximal drei Personen (25 qm). Für drei Einzelzellen und jede Dreier-Zelle gibt es einen separaten Hof von ca. 25 qm, so daß die Gefangenen nie mit mehr als zwei anderen Gefangenen in Kontakt kommen. Die Zelle ist komplett geräuschisoliert und dauerverschlossen. Selbst das Essen wird lediglich durch eine Luke in der Tür in die Zelle gereicht. Der Gefängnisflur und der Hof sind videoüberwacht. Kontakt zur Gefängnisverwaltung besteht nur in dringenden Fällen per Klingelruf.

Als Belüftung der Zelle dient ein Belüftungsschacht, der als Disziplinarstrafe geschlossen werden kann. Disziplinarstrafen erfolgen bspw. auf Grund „falschen Verhaltens“ bei der Gefangenenzählung. In regelmäßigen Abständen werden solche Zählungen durchgeführt, bei denen die Gefangenen eine bestimmte militärische Haltung annehmen müssen. Tun sie dies nicht, oder nicht zur Zufriedenheit der Wärter, so folgen Folterungen und Disziplinarstrafen.

Es existiert ein Sportraum, eine Bibliothek und Arbeitsateliers. Diese können jedoch nur bei besonderem Wohlverhalten und auf Antrag genutzt werden und selbst dann nur unter strengster Bewachung und unter Isolationsbedingungen – bspw. sind Gespräche nicht erlaubt. Die Häftlinge verweigern sich auf Grund der Schikanen dieser „Möglichkeiten“ völlig.

Briefe können nach entsprechender Zensur durch die Verwaltung erhalten werden. Briefsperren sind jedoch als Disziplinarstrafen gebräuchlich. Bücher dürfen aus der Bibliothek bestellt werden, wobei maximal drei Exemplare pro Kopf auf der Zelle sein dürfen. Der Inhalt der angebotenen Bücher führt jedoch zu einer Verweigerung dieses „Angebots“ bei den politischen Häftlingen. Von außen zugesandte Bücher unterliegen der Prüfung und Genehmigung durch die Verwaltung.

Radio und Fernsehen sind bedingt möglich. Ein ständiges ein- und ausschaltbares Musikgeräusch bildet die einzige Geräuschkulisse in der Zelle und Fernsehen ist auf Antrag und gegen Bezahlung möglich. Besuche von Verwandten sind nur nach Genehmigung durch die Gefängnisverwaltung eine Stunde pro Monat möglich. Dabei kommen nur Verwandte mit dem gleichen Nachnamen in Frage.

AnwältInnen müssen sich vor MandantInnengesprächen einer gründlichen Untersuchung unterziehen. Akten und andere Schriftstücke können dem oder der MandantIn nur über die Verwaltung vorgelegt werden, wobei bei dieser Gelegenheit oft wichtige Akten ohne Begründung beschlagnahmt werden. Ein klarer Rechtsbruch; auch nach türkischem Recht. Eine direkte Übergabe von jeglichen Dingen ist streng verboten. Nur ein Zettel und einen Stift darf der oder die AnwältIn bei dem akustisch und optisch überwachten Gespräch mit Trennscheibe bei sich haben. Es darf nur jeweils mit einem oder einer MandantIn bei einem Termin gesprochen werden – eine Stunde pro Woche. Nach einer Verurteilung des oder der MandantIn sind AnwältInnenbesuche generell ausgeschlossen.

AnwältInnen politischer Häftlinge müssen selbst mit ständigen Repressalien rechnen und leben. So wurde ein Anwalt allein drei mal bei MandantInnenbesuchen festgenommen, um angebliche „Suchvermerke“ gegen ihn zu klären.

Häufig gibt es Strafverfahren gegen VerteidigerInnen politischer Häftlinge wegen „Hilfeleistung einer terroristischen Vereinigung“. Verteidigungen entsprechender Häftlinge sind dadurch faktisch mit bis zu 7 ½ Jahren Haft bedroht.



Die Isolation


Für „F-Typ Gefangene“ gibt es keinen Unterschied zwischen Untersuchungshaft und Haft. Die Häftlinge sitzen von Anfang an in F-Typ Zellen. Die Entlassung erfolgt ohne jede Vorbereitung aus dem vollen Vollzug von heute auf morgen. Mit Resozialisierung hat dies nichts zu tun und auch nicht mit dem viel beschworenen europäischen Standard, der angeblich in den F-Typ Zellen gewahrt ist.

Durch die Isolationsbedingungen sind die Folterungen an Zahl und Qualität gestiegen. Die Beschwerden Gefangener beim IHD gegen Folterungen haben sich seit Einführung der F-Typ Gefängnisse drastisch vermehrt. Die übliche Prozedur bei der „Einweisung“ in eine F-Typ Zelle beinhaltet die Vergewaltigung mit Polizeiknüppeln, Schläge und Tritte, die oft zu schweren Knochenbrüchen führen sowie ein abschließendes Werfen in eine Jauchebrühe. Auch während der Inhaftierung erfolgen regelmäßige Folterungen. Ali Ihsan, ein Todesfastender, war auf Grund seines gesundheitlichen Zustands nicht in der Lage, die geforderte Stellung bei der Gefangenenzählung einzunehmen. Daraufhin wurde ihm die Wirbelsäule gebrochen. Medizinische Behandlungen nach den Folterungen werden meist verweigert. Eine juristisch wirksame Beschwerde gegen diese Bedingungen, wie bspw. in Art. 13 EMRK gefordert, besteht nicht.

Im Handbuch der türkischen Gefängniswärter ist zu lesen: „Terroristen [politische Gefangene] sollen nicht miteinander kommunizieren. Denn wenn ein Terrorist nicht kommuniziert, dann stirbt er wie ein Fisch an Land“. Die sinnliche Wahrnehmung der Häftlinge wird auf ein Minimum begrenzt. Die menschlichen Sinne liegen brach, wodurch eine enorme psychische und physische Belastung erzeugt wird.

Der Reformprozeß zur Abschaffung der Todesstrafe in der Türkei ist angestoßen und die EU zeigt sich erfreut. Daß aber Menschen gleichzeitig zu lebendigen Toten gemacht werden, scheint niemanden zu stören.
Nach geltender Definition ist Folter jede Handlung, durch die jemandem von Trägern staatlicher Gewalt vorsätzlich starke körperliche oder geistig-seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden – Folter ist eine verschärfte Form absichtlicher grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe. Danach ist der F-Typ Vollzug eindeutig Folter.



Das Todesfasten


Nach der „Operation“ vom 19. Dezember 2000 begannen hunderte politische Häftlinge ein Todesfasten. Sämtliche beteiligten Männer des Todesfastens wurden in F-Typ Zellen verlegt. Dort wurden die Todesfastenden teilweise mehrfach zwangsernährt – die Rechnungen dafür gehen grundsätzlich an die Angehörigen. Ins Koma Gefallene unterlagen der Zwangsernährung, erwachten daraufhin und verweigerten die Zwangsbehandlung. Daher fielen sie erneut ins Koma und die Prozedur begann von neuem. Resultat dessen sind mehrere Häftlinge, die ihr gesamtes Erinnerungsvermögen eingebüßt haben und andere schwere körperliche Schäden davontrugen.



Der türkische Staat hat einige todesfastende Häftlinge wegen Haftunfähigkeit vorübergehend entlassen. Das Todesfasten wurde aber auch außerhalb der Gefängnisse in unveränderter Konsequenz weitergeführt. Nun war und ist es dem Staat aber nicht mehr möglich von sich aus Zwangsbehandlungen durchzuführen. Daher werden Familien der Todesfastenden „gebeten“, sie mögen der Polizei den Auftrag erteilen, ihre/n Angehörige/n zwangsweise zu ernähren. Teilweise ging diese Strategie auf. Die zumeist in Armutlu sitzenden Todesfastenden weigern sich aber mit allen Mitteln gegen jegliche polizeiliche Maßnahmen. Daraufhin kam es während unseres Besuches in Istanbul zu schweren Angriffen gegen den Stadtteil Armutlu. Es wurden Panzerwagen, scharfe Munition und sehr viele Gasgranaten eingesetzt. Ein Mensch wurde bei den Angriffen erschossen.



Schlußbemerkung


Die Forderungen der Todesfastenden sind vernünftig und unterstützenswert: Abschaffung der F-Typ Gefängnisse; Abschaffung der Anti-Terror-Gesetze; ein Recht auf uneingeschränkte Verteidigung und ärztliche Behandlung der Gefangenen; Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte; regelmäßige Kontrolle der Gefängnisse durch unabhängige Kommissionen und die Bestrafung der Folterer.

Von Staatsseite heißt es dagegen: mit den F-Typ Gefängnissen werden europäische Standards in der Türkei eingeführt. Die obigen Schilderungen beschreiben jedoch massive Verstöße gegen die UN- und die Europäische Menschenrechtskonvention sowie gegen den UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Daneben stehen die türkischen Gefängnispraktiken auch den vom Europarat empfohlenen „Grundprinzipien des europäischen Strafvollzugs“ entgegen. Danach ist der Strafvollzug unter „materiellen und sittlichen Bedingungen, welche die Achtung der Menschenwürde gewährleisten“ zu vollführen. Das Resozialisierungsgebot soll den Strafvollzug prägen und menschenwürdige Haftbedingungen sollen durch regelmäßige unabhängige Kontrollen gesichert werden (so auch im „Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe“ zu finden). Nichts von all dem findet sich im F-Typ Vollzug.

Durch die Isolationshaft werden also Menschenrechte mit Füßen getreten, um politisch unliebsame Personen dauerhaft unschädlich zu machen. Diese Praxis muß aufs schärfste verurteilt werden. Auch die europäischen Regierungen täten gut daran, ihre Haltung zu überdenken. Insbesondere die BRD stützt das türkische Gefängnissystem, bspw. indem sie der Türkei mit dem Export der „Stammheim-Technologie“ zu Hilfe kam. Folter und Willkür in der Türkei werden totgeschwiegen und verharmlost; ein EU-Beitritt dagegen für möglich erklärt. Die BRD schiebt weiter Menschen ab, die bei ihrer Ankunft in der Türkei gefoltert werden u.v.m..

Solange die Opposition in der Türkei allein gelassen wird, solange wird die Türkei fortfahren, wie bisher. Das Schweigen in Europa muß gebrochen werden, um weitere Tote zu vermeiden!


Volker Gerloff
(Delegationsteilnehmer für den akj-berlin)


* Stammheim ist ein in den 70er Jahren extra für die Gefangenen aus der Roten Armee Fraktion errichteter Knast. Seine Architektur ist auf die Isolation seiner InsassInnen ausgerichtet und diente somit den F-Typ Knästen in der Türkei als Vorbild.



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