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Wo kein Wille ist, ist auch kein Weg

Über den leichtfertigen Umgang mit Art. 139 GG

[Art. 139 GG] – Die zur „Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“ erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt.

Lars Winkler

Anlässlich der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder am 10.4.2005 in Weimar folgende, wahrhaft ehrenvolle Worte: „Die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus, an Krieg, Völkermord und Verbrechen ist Teil unserer nationalen Identität geworden. Daraus folgt eine bleibende moralische und politische Verpflichtung.“ Sollte der Bundeskanzler diesen Worten allerdings Folge leisten wollen, so müsste er, was vor ihm noch kein anderer Bundeskanzler mit ausreichender Konsequenz getan hat, mit aller Kraft versuchen, mit Kontinuitäten zu brechen, die zum einen seinen Worten einen faden Beigeschmack zufügen und zum anderen bis heute in höchst bedrückender Weise fortwirken. Anhand des Art. 139 GG soll im Folgenden aufgezeigt werden, an welcher Stelle ein solcher Kontinuitätsbruch zuallererst stattfinden müsste.


Entstehung des Art. 139

Eingeführt, um der Entnazifizierung dienende Vorschriften gegen die Unvereinbarkeit mit Normen des Grundgesetzes zu sichern, war Art. 139 GG von Anfang an, d.h. noch vor der Konstituierung des Grundgesetzes, parteiübergreifend umstritten. Forderte Robert Lehr (CDU) im parlamentarischen Rat noch vor Inkrafttreten des Grundgesetztes die Streichung des damaligen Art. 146 GG, konstatierte Thomas Dehler (FDP) zutreffend, dass die Vorschriften über die Entnazifizierung nicht gelten würden, falls die Vorschrift nicht in das Grundgesetz aufgenommen würde, da sie in „schroffem Widerspruch zu den Grundrechten“ stünden. Auch Theodor Heuss, der wenig später zum ersten Bundespräsidenten der BRD gewählt wurde und noch 1933 für das Ermächtigungsgesetz stimmte, positionierte sich für eine Aufhebung des Artikels, die aufgrund von oben genannten praktischen Erwägungen jedoch nicht durchführbar gewesen wäre.

Einen Widerspruch zu den Grundrechten stellte Rudolf Katz von Seiten der SPD zwar auch fest; sprach dem Artikel jedoch im Gegensatz zu vielen anderen eine gewisse Notwendigkeit zu, was letztlich zu einer Rücknahme des Streichungsantrages durch den Vorsitzenden führte. Art. 139 GG wurde somit in das Grundgesetz aufgenommen, um Probleme einer Kollision der Entnazifizierungsvorschriften, die nicht der Dispositionsgewalt des deutschen Gesetzgebers unterstanden, mit Grundrechten zu vermeiden. Signifikant ist zudem, dass sich verfassungsrechtliche Bedenken insbesondere bzgl. der Entnazifizierungsvorschriften ergaben, die die Fernhaltung bzw. Entfernung von Nationalsozialisten aus dem öffentlichen Dienst zum Gegenstand hatten und durch Art. 139 GG „entschärft“ werden sollten.1 Was dabei in Bezug auf ehemalige Nazikollaborateure noch 1949 als „in schroffem Widerspruch zu den Grundrechten“ bezeichnet wurde, sollte 23 Jahre später im Rahmen des Radikalenerlasses in Bezug auf eine erstarkte Linke kein Problem mehr sein. Zudem ist auffällig, dass die im Wortlaut genutzten Anführungszeichen nicht nur die Funktion haben, die betroffene Rechtsmaterie zu kennzeichnen, sondern auch eine gewisse politische Distanzierung von der Entnazifizierung selbst darstellen.2

Es bleibt bis hierhin festzustellen, dass das Entnazifizierungsrecht selbst, aufgrund seiner Bedeutung, absolut nicht als gesetzliches Unrecht bezeichnet und Art. 139 GG nicht als der Verfassung entgegenstehendes Verfassungsrecht betitelt werden kann.


Funktional erfasste Rechtsvorschriften

Art. 139 GG findet nur auf die vor dem Inkrafttreten des GG erlassenen Vorschriften über die Entnazifizierung, die von den Besatzungsmächten 1946 in die Regie der Länder gegeben wurde, Anwendung. Fraglich ist dabei, ob damit sämtliche Normen erfasst werden, die in thematischem Zusammenhang mit dem Ziel der Beseitigung des Nationalsozialismus und Militarismus stehen. Hiernach würden Normen erfasst, die von der Liquidation militärischer Verbände und Aktivitäten über die Regelung zur Auflösung nationalsozialistischer Organisationen bis zu Bestimmungen über die Aufhebung nationalsozialistischen Rechts, die Einziehung von Literatur und Werken nationalsozialistischen Charakters und die Beseitigung der Denkmäler und Museen nationalsozialistischen Charakters reichten.3

Im Gegensatz dazu hat sich jedoch die Sichtweise bzgl. des Art. 139 GG insofern entwickelt, dass er nur auf Entnazifizierungsvorschriften „in engerem Sinn“ Bezug nimmt. Danach sind lediglich die deutschen, landesrechtlichen Ausführungsgesetze einschlägig, deren Grundlage die 1946 erlassenen Kontrollratsdirektiven Nr. 24 und Nr. 38 sind und das Entnazifizierungsverfahren mit dem primären Ziel der Entfernung von Nationalsozialisten, die den Bestrebungen der Alliierten feindlich gegenüberstanden, aus allen Schaltstellen des öffentlichen Lebens regelten.

Für die herrschende Meinung ist Art. 139 GG somit schlicht nicht mehr existent, weil unter die Befreiungsgesetze des Art. 139 GG nur Entnazifizierungsgesetze gefasst werden, welche wiederum 1954 aufgehoben wurden.4 Diese Verkürzung des Geltungsbereiches ist allerdings nicht gerechtfertigt, da das Ziel der Befreiungsgesetze nicht nur die unmittelbare Liquidierung des Naziregimes unmittelbar nach Beendigung des 2. Weltkrieges war, sondern die Überwindung des Nationalsozialismus auf Dauer.5 So erkannte das BVerfG schon früh, dass „die gesamte deutsche Rechtsordnung [...] vom Besatzungsrecht überlagert“ bleibt.6

Nach der engen Auffassung bedürfe Besatzungsrecht, im Gegensatz zu den landesrechtlichen Ausführungsgesetzen keiner verfassungsrechtlichen Absicherung, da es nicht dem Maßstab des Grundgesetzes unterliegen würde. Auch deshalb würden das Kontrollratsgesetz Nr. 2, welches ein Gründungsverbot neonazistischer Organisationen statuierte, und das Gesetz Nr. 5 der amerikanischen Militärregierung, durch das die NSDAP aufgelöst und Nachfolgeorganisationen verboten wurden, von Art. 139 GG nicht erfasst. Besatzungsrecht bliebe damit solange, unabhängig von seiner Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz, in Kraft, bis es nicht durch die Besatzungsmächte selbst oder nach dem Inkrafttreten des Überleitungsvertrages 1955 durch den deutschen Gesetzgeber, der dadurch unter gewissen Vorbehalten Dispositionsbefugnis erlangte, geändert oder aufgehoben würde.

Dass mit dem Gesetz Nr. 16 der Alliierten Kontrollratskommission, welches das o.g. Gesetz Nr. 2 außer Geltung setzte, und dem es 1955 ersatzlos aufhebenden Gesetz A-38 genau das passierte und folglich keine Rechtsgrundlage mehr existierte, die es erlauben würde, spätere neonazistische Organisationen zu verbieten, ist dabei höchst bedenklich. Schließlich war es noch 1945 eine der Grundintentionen des Potsdamer Abkommens den Nationalsozialismus auf Dauer zu beseitigen. Es zeigt jedoch zugleich, im Gegensatz zur italienischen Verfassung von 1947, die den prototypischen Gegner seiner Ordnung ausdrücklich benennt,7 einmal mehr den bewussten und erfolgreichen Versuch, dem Grundgesetz von Anfang an keine explizit antifaschistische Gesinnung einzuhauchen.

Nachdem in den 80er Jahren mehrere Städte und das Verwaltungsgericht Frankfurt a.M.8 vergeblich versucht hatten, das Gesetz Nr. 5 der amerikanischen Militärregierung iVm. Art. 139 GG zu bemühen, um gegen rechtsextremistische Organisationen vorzugehen, scheint unklar, ob diese Möglichkeit seit Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrages, der den Übergang der vollen Souveränität nach innen und außen auf die BRD regelt, überhaupt noch existiert.

 

Das Echo des T. Maunz und die Grundsatzaussage des Art. 139 GG

Es wäre jedoch absolut nicht angebracht, dem Art. 139 GG lediglich eine funktionale Aufgabe zu übertragen, die er aufgrund seiner nunmehr fehlenden unmittelbar konkreten Rechtswirkung nicht mehr erfüllen könnte. Es ist vielmehr zwischen der Ausnahmeregelung und der in Art. 139 GG enthaltenen, allgemeinen Grundsatzaussage über die Haltung des Grundgesetzes gegenüber nationalsozialistischen und faschistischen Staatsauffassungen zu unterscheiden.9 Danach bringt Art. 139 GG eine entschiedene Ablehnung des totalen Staates, der Rassendoktrin, des Einparteiensystems, des „Führerprinzips“, eines nationalsozialistischen Mythos und der Vorstellung vom Vorrang des Staates vor dem Einzelnen zum Ausdruck,10 woraus sich die Möglichkeit ergibt, eine eindeutige Ablehnung und Bekämpfung nationalsozialistischer Tendenzen verfassungsrechtlich zu legitimieren.

Die von der herrschende Lehre befürwortete enge Auslegung des Art. 139 GG kommt zu dem Schluss, dass Art. 139 GG mit Abschluss der Entnazifizierung in funktionaler wie auch in allgemeiner Hinsicht obsolet geworden sei. Eine solche Argumentation ist hingegen eindeutig verfehlt, da der verfassungsändernde Gesetzgeber schließlich ausreichend Gelegenheit gehabt hätte, den Artikel aufgrund seiner Gegenstandslosigkeit schon lange aufzuheben. Zudem ist es äußerst zweifelhaft, von mehreren denkbaren Auslegungsvarianten gerade diejenige zu wählen, die der Norm keinerlei Bedeutung beimisst.11

Roman Herzog spricht im Grundgesetz-Kommentar von Maunz/ Dürig dem Art. 139 GG gegenwärtig jegliche Rechtsfolgen ab und unterstreicht, dass insbesondere der Versuch abzulehnen ist, den Artikel als Grundsatzaussage über die Haltung des GG gegenüber nationalsozialistischen und verwandten Staatsauffassungen anzusehen. Es ist deshalb kein Wunder, wenn sich NPD- Anwälte wie Horst Mahler die Interpretation Herzogs aneignen, um u. a. damit eine vom VG Münster untersagte Demonstration der NPD am 1. Mai 2001 in Essen vor dem BVerfG zu legitimieren.

Herzog befindet sich jedoch mit seinen Äußerungen in bekannter Rechtstradition seines 1993 verstorbenen Lehrers Theodor Maunz. Dieser brachte gegen die Grundsatzaussage des Art. 139 GG die Menschenwürde aus Art. 1 GG in Stellung, die aus ihrer Überstaatlichkeit und Zeitlosigkeit den Entnazifizierungsvorschriften des Art. 139 GG übergeordnet sein müssten. Diese seinen „lediglich staatlich gesetztes Recht vorübergehender Natur“.12 Den Art. 139 GG für obsolet zu erklären, konnte sich Maunz aufgrund seiner eigenen Beteiligung am NS- Staat wohl nicht erlauben. Widmete sich der wohl bedeutendste Grundgesetzkommentator, der während der Nazi-Zeit Professor für öffentliches Recht in Freiburg war und anschließend Mitglied des Verfassungskonvents in Herrenchiemsee wie auch bayrischer Kulturminister der CSU, bis 1945 mit aller Kraft der Legalisierung des Gestapoterrors sowie der „Schutzhaft“ in Konzentrationslagern. In „Gestalt und Recht der Polizei“ (1943) verkündete er das Ende des subjektiv-öffentlichen Rechts und erklärte die Verhaftungen durch die Gestapo zu justizfreien Hoheitsakten.

Dass sich der „Erfolg seines Lebenswerkes“ kontinuierlich entfaltete,13 war auch in den von ihm bis 1993 unter einem Synonym erschienenen Texten in der Deutschen Nationalzeitung der rechtsradikalen DVU des Dr. Frey zu erkennen. Kontinuierlich setzte auch Roman Herzog die Arbeitslust seines Lehrers fort, als er sich des Art. 139 GG annahm, ihn für obsolet erklärte und jegliche antifaschistische und antinazistische Grundsatzaussage ganz im Sinne seines Lehrers Maunz abzustreiten versuchte. Im Gegensatz dazu komplimentierte der spätere Bundespräsident den Artikel 139 als unzulässige „Sondervorschrift nach rechts“ aus dem Grundgesetz heraus und pflanzte als deren Ersatz die Totalitarismustheorie hinein.14

Eine solche Interpretation widerspricht jedoch absolut einer Stellungnahme der Bundesregierung anlässlich ihres Antrages auf Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen von 1970, in der sie die wirkliche Tragweite des Art. 139 GG verlauten ließ: „Das ausdrückliche Verbot von neonazistischen Organisationen und die Tatsache, daß man nazistischen Tendenzen vorbeugt, folgern gleichermaßen aus dem Grundgesetz, und zwar in der Richtung, daß die von den Alliierten und deutschen Behörden zur Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus in Kraft gesetzte Gesetzgebung auch weiterhin in Kraft ist.“.

Selbst wenn mit der „Beendigung“ der Entnazifizierung der unmittelbar funktionale Anwendungsbereich des Art. 139 GG weggefallen sein soll, vermag eine systematisch allgemeine Interpretation sehr wohl, aus dem Fortbestehen der Norm rechtsrelevante Schlüsse zu ziehen. Als „Sondervorschrift nach Rechts“ ist sie gut in den Kontext der streitbaren Demokratie einzuordnen und kennzeichnet dort gerade als Übergangsvorschrift die besondere, historisch determinierte „Befangenheit“ des Grundgesetzes gegenüber nazistischem Gedankengut.15

Sollte das Grundgesetz geschichtlich als lehrhaftes Beispiel dienen und historisch einen Sinn implizieren, so kann gerade Art. 139 GG ein solcher Kontext innewohnen; vorausgesetzt ein solches Bewusstsein bestünde. Er könnte durchaus die Basis eines allgemeinen antinazistischen Rechtsgedankens sein, der zudem durch verschiedene antinazistische/antifaschistische Vorschriften des StGB und anderen verfassungsrechtlichen Bestimmungen gestützt werden würde. Eine Verletzung dieses Rechtsgedankens durch nazistische und faschistische Organisationen würde demnach einer entsprechend artikulierten Grundsatzaussage des Grundgesetzes widersprechen und einen Rechtsbruch bedeuten.

Ein solcher expliziter Rechtsgedanke würde zudem nicht nur Ausdruck eines kontinuitätsbrechenden Umgangs mit der NS- Vergangenheit sein, sondern könnte auch zukünftig eine justiziable Grundposition konstituieren, welche einem möglichen massiven Druck neuartiger nazistischfaschistischer Anschauungen ein aufgeklärtes Rechtsdenken entgegenzustellen hat. An einer solch gefestigten Grundeinstellung zur Gesellschaft mangelte es offenkundig 1933 und danach insbesondere unter der damaligen Juristengeneration.

Sollte der Bundeskanzler aus den Geschehnissen nach 1933 tatsächlich eine bleibende moralische und politische Verpflichtung herleiten, wäre es sicherlich nicht nur an ihm, diese eigentlich selbstverständliche, lebensbejahende Grundposition offen in die Gesellschaft hineinzutragen und diese explizit zu formulieren.

Voraussetzung dafür wäre jedoch, dass man sich rechtspolitisch wie moralisch bewusst auf eine solche Grundintention besinnt, denn wo ein Wille ist…

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1Lübbe-Wolff, NJW 1988, 1289 [1291]

2AK/Ladeur Art. 139 GG, Rdnr. 1

3NJW 1988, S. 1292.

4Vgl. Darstellung in freischüßler 3/2000, S. 9 f.

5NJW 1986, S. 2661.

6BVerfGE 2, 181.

7Battis/Grigoleit in NVwZ 2001, S. 124.

8VG Frankfurt a.M., Beschluss vom 14.11.1985.

9Hamann/Lenz, Art. 139 Anm. A

10Hamann/Lenz, Art. 139 Anm. A

11Battis/Grigoleit in NVwZ 2001, S. 124.

12Freitag, Nr. 5/05, 4.2.2005, S. 3.

13Peter Lerche, FS Theodor Maunz zum 80. Geburtstag, Vorwort, 1981.

14Freitag, Nr. 5/05, 4.2.2005, S. 3.

15Battis/Grigoleit in NVwZ 2001, S. 124.