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Wissenschaft als Therapie

Ernst Fraenkels „Der Doppelstaat“ wiedergelesen

Bekannt wurde der Jurist durch politikwissenschaftliche Arbeiten. „Der Doppelstaat“ kann jedoch als sein Hauptwerk bezeichnet werden. Bis zu seiner Emigration 1938 entstand die Urform dieses Werks. Er erlebte die Realität des faschistischen Staates unmittelbar mit, daher konnte er aus einer Vielzahl von politischen, administrativen und judikativen Vorgängen typische Beispiele herausgreifen und an ihnen exemplarisch die Funktionsweise des nationalsozialistischen Regimes beschreiben. Seine These: Dessen Herrschaftssystem besteht aus zwei Teilen – dem Normenstaat und dem Maßnahmenstaat.

 

Hauke Schüler

Biographische Notiz


Ernst Fraenkel wurde am 26. Dezember 1889 in Köln als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Er schloss seine Schulzeit als 18jähriger mit dem Notabitur ab und wurde zum ersten Weltkrieg eingezogen. Nach dem Krieg studierte er Rechtswissenschaft und Geschichte in Frankfurt und Heidelberg. 1923 wurde er bei Sinzheimer promoviert und prägte mit diesem das entstehende Arbeitsrecht. Er engagierte sich gewerkschaftlich, ließ sich nach dem Assessorexamen in Berlin als Rechtsanwalt nieder und wurde Syndikus des Deutschen Metallarbeiterverbandes. Ab 1931 beriet er den Parteivorstand der SPD, deren Mitglied er seit 1921 war. Wegen seiner Teilnahme am 1. Weltkrieg konnte er trotz der Berufsverbotsgesetze nach 1933 zunächst weiter als Rechtsanwalt praktizieren. In dieser Phase zunehmender beruflicher Schikanen arbeitete er bis zu seiner Flucht im September 1938 an einer Analyse des politischen Systems des Nationalsozialismus, dem „Urdoppelstaat“, der erstmals 1999, im zweiten Band der Gesammelten Schriften zugänglich gemacht wurde. Parallel dazu schrieb er unter Pseudonym für den Internationalen Sozialistischen Kampfbund. Im Exil überarbeite Fraenkel das Manuskript, ließ es übersetzen und veröffentlichte es 1941 als „The Dual State“ bei Oxford University Press. Auf die dringende Bitte von Otto Suhr kehrte Fraenkel 1951 nach Berlin zurück und wurde Professor für Politologie an der Freien Universität. Durch die Annahme zahlreicher Gastprofessuren hielt er den Kontakt in die USA und war Gründungsdirektor des John-F.-Kennedy-Institutes. Erst 1971 ließ er sich dazu bewegen, eine deutsche Fassung des Doppelstaates auf den Weg zu bringen. Das Buch wurde unter seiner Betreuung rückübersetzt und erschien 1974 bei der Europäischen Verlagsanstalt. Kurz darauf, am 28. März 1975, starb Fraenkel in Berlin.

Nachdem 1999 und 2000 die ersten vier Bände der Gesammelten Schriften erschienen waren, folgte 2001 „Der Doppelstaat“ in zweiter Auflage, von Alexander von Brünneck herausgegeben und eingeleitet.


Carl Schmitt und der geschichtsphilosophische Sog

Die Rechtswissenschaft hat in ihrer Beschäftigung mit dem dritten Reich immer wieder Carl Schmitt in den Blick genommen, dessen Meisterschaft der Selbstinszenierung und -interpretation nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass seine Texte bis 1945 tief in den Nationalsozialismus hineinführen. Carl Schmitts eigene Neigung zu geschichtsphilosophischen Erzählungen und seiner martialischen Rhetorik des Kampfes und des Untergangs befriedigte nach 1945 das Bedürfnis nach einem Verständnis des Nationalsozialismus, das Auschwitz erklären und Auschwitz als notwendige Folge der Machtergreifung Hitlers begreifen musste. In hysterischem Chauvinismus erklärte Schmitt das Politische durch den Feind, der „eben der andere [ist], der Fremde“1 und seine Geburt aus der Einsamkeit der Duellanten: „Den extremen Konfliktsfall können nur die Beteiligten selbst unter sich ausmachen; namentlich kann jeder von ihnen nur selbst entscheiden, ob das Anderssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktsfalle die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft wird, um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren.“2 Hier wird die barbarische Leere der Definition des Politischen zum Platzhalter barbarischer Taten. Für die geschichtliche Betrachtung nach 1945 weisen diese bereits 1932 geschriebenen Worte, jedenfalls ihrer Potentialität nach, Richtung Auschwitz. Die innere Struktur und Intensität von Schmitts Arbeiten passt zu unserer Selbstverständigung über das Dritte Reich. Wir finden in ihnen etwas, das wir brauchen, um uns zum Dritten Reich in Beziehung zu setzen.


Ernst Fraenkel und Carl Schmitt

Auch Ernst Fraenkel lässt sich in seiner Analyse der ersten Jahre des Nationalsozialistischen Regimes „Der Doppelstaat“ von Carl Schmitt führen und verweist unermüdlich auf die inhaltlichen und stilistischen Koppelungen von Urteilen der Gerichte und Aufsätzen der Rechtswissenschaftler mit den Arbeiten Schmitts. An und gegen Carl Schmitt entwickelt er explizit oder verdeckt seine Deutung des nationalsozialistischen Staates der Jahre 1933-38. Aber dennoch hat der Doppelstaat nichts von der verständlichen, aber doch den Blick beengenden, erregten Empörung, der die Rechtsgeschichten des Dritten Reichs nach 1945 oftmals kennzeichnet.3 Dies war nur durch den historischen Moment, nur durch die Unkenntnis der Zukunft möglich. Fraenkel liefert so einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Nationalsozialismus im Ganzen: Noch 1938 konnte man im nationalsozialistischen Deutschland an Normalität glauben, an die Offenheit der Zukunft. Nur vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum viele Juden die Emigration trotz Möglichkeit aufschoben oder ablehnten. Bei der Lektüre von Fraenkels Buch sträubt man sich immer wieder gegen die Konsequenz mit der Fraenkel das Nebeneinander von Normalität und Ausnahmezustand beschreibt und möchte den Einwand erheben, dass die Normalität doch nur Mittel eines zum Äußersten entschlossenen Totalitarismus war, der sie für seine Zwecke punktuell einsetzte.4 Aber die These von der totalen Funktionalisierung ist eine historische. Wir fallen ihr immer wieder anheim, weil wir das Ende kennen.


Maßnahmenstaat und die Rechtsauslegung

Fraenkels Analyse setzt bei der „Verfassung“ des Dritten Reichs, dem Belagerungszustand und seiner „Verfassungsurkunde“, der Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat von 28. Februar 1933 (S.55)5 ein und erklärt von hier aus die Umwandlung der kommissarischen in eine souveräne Diktatur (S. 56)6. Die souveräne Diktatur findet ihren Ausdruck im Maßnahmenstaat, der eine Seite des Doppelstaates bildet. Ausdrücklich tritt Fraenkel der These entgegen, dass die Abgrenzung von Maßnahmenstaat und Normenstaat jene von Gremien der Partei und des Staates spiegele (S. 59).7 Er arbeitet den janusköpfigen Zugang heraus, mit dem einerseits die Legende von der legalen Revolution fortgesponnen und andererseits durch Ernst Rudolf Huber und andere auf einer eigenen, nicht auf der Weimarer Verfassung beruhenden Legitimität beharrt wurde (S.68). Er legt dar, wie trotzdem die Präambel der Notverordnung als ihr einziges Ziel die KommunistInnen auswies, ihre Regelungsmacht auf andere Lebensbereiche ausgedehnt wurde. Spitzfindig nahm etwa das Kammergericht „kommunistische Umtriebe“ bereits dann an, wenn allgemeiner Unzufriedenheit – etwa durch Systemkritik – Vorschub geleistet wurde, weil damit letztlich diejenigen begünstigt würden, die dem System Schaden wünschten (S. 72). Das OLG Braunschweig stand dem in nichts nach und erklärte, dass Verbote von Vereinigungen – konkret ein christlicher Verlag – möglich seien, da es sein könne, dass auch ohne Wissen des Vorstands sich dort KommunistInnen einnisteten (S. 77). Wie eine bösartige Karikatur bundesverfassungsgerichtlicher Schutzpflichtendogmatik liest sich der von Fraenkel zitierte Satz des OLG München: „Die Allgemeinheit hat ... einen Anspruch darauf, ... gegen eine Beeinflussung durch Feinde der Volksgemeinschaft geschützt zu werden“ (S. 99).


Grenzen der Gerichtsbarkeit und der Begriff des Politischen

Den nächsten Entwicklungsschritt bildeten Bestrebungen, sich für Entscheidungen der Polizeibehörden ganz der gerichtlichen Nachprüfung zu entledigen. Die theoretischen Stichworte liefert abermals Carl Schmitt, die Werner Best – damaliger Referent für Rechtsfragen und stellvertretender Leiter der Gestapo – abwandelnd zitiert: „Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft seines Selbsterhaltungsrechtes, wie man sagt.“8 Per Gesetz wurde verfügt, dass „in Angelegenheiten der Gestapo“ keine Nachprüfung durch die Verwaltungsgerichte mehr erfolge. Da Aufgabe der Gestapo der Schutz der Staatssicherheit vor politischen Umtrieben war, bedurfte es jetzt nur noch eines nicht sektoral gedachten Begriffs des Politischen. Auch den lieferte Schmitt: „Jeder religiöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegensatz verwandelt sich in einen politischen Gegensatz, wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind zu gruppieren.“9 „Das Politische kann seine Kraft aus verschiedenen Bereichen ziehen, aus religiösen, ökonomischen, moralischen und anderen Gegensätzen; es bezeichnet kein eigenes Sachgebiet, sondern nur den Intensitätsgrad [...]“.10 Fraenkel betont die vulgäre Esoterik des Nationalsozialistischen Diskurses, der exoterisch den zu vernichtenden Feind moralisch angreift und seine Eitelkeit an der Kenntnis der existentiellen Nacktheit der Freund-Feind-Unterscheidung als arcanum imperii11 wärmt (S. 97).


Behörden des Maßnahmenstaates

Gleichzeitig wurde aber von den Gerichten eine generelle Freistellung der Parteiorgane von jeder Gerichtsbarkeit verweigert. Da aber dennoch Träger von Parteiämtern als staatliche Hoheitsträger anerkannt wurden, standen ihre „politischen“ Handlungen keiner gerichtlichen Nachprüfung offen. Daraus ergab sich ein „Nebeneinander von gesetzesgebundenen und gesetzesentbundenen Behörden“ (S. 94), dass zu einem zweiaktigen Verfahren führt. Wenn der Normenstaat im Zuge gerichtlicher Verfahren und polizeilicher Verfügungen zu unerwünschten Ergebnissen kommt, korrigiert der Maßnahmenstaat das Ergebnis in der ihm genehmen Weise. Der Maßnahmenstaat hat das letzte Wort (S. 95).

Damit ist aber das Verhältnis zwischen beiden Herrschaftssystemen noch nicht abschließend geklärt. Fraenkels Buch enthält diesbezüglich nur Hinweise: Es werde das Verhältnis von Kirche und Staat gespiegelt. Fraenkel zitiert den Kirchenrechtler Sohm mit dessen Satz, „dass die Kirche an der sachlichen Wahrheit, das Recht umgekehrt an der Form [hänge]“ (S. 102). Der Maßnahmestaat wiederum kehre der formalen Rationalität den Rücken und kehre zur Substanz zurück. Es liegt nahe, Hellers berühmte Taufe des radikalen Nationalismus’ als „Katholizismus minus Christentum“ hinzuzufügen (ebd.). Eine Kapitulation der Form vor der „Wahrheit“ erblickt Fraenkel in dem Abschied der Rechtsprechung von dem Prinzip der Rechtskraft: Mit der Möglichkeit des einfachen Widerrufs von Urteilen hat sich der Rechtssatz dem Charakter der Maßnahme mimetisch angeglichen und ist der Ausnahmezustand im Rechtsalltag angelangt: „Was im englischen Staatsrecht seit mehr als 300 Jahren als Alptraum angesehen wird, ist im heutigen Deutschland the law of the land.“ (S. 108).


Souveränität und Totaler Staat

Im zweiten Kapitel reagiert Fraenkel auf den unweigerlich entstehenden Eindruck der Grenzenlosigkeit des totalen Staates. Wiederum finden die zusammengetragenen Zitate ihre theoretische Wendung bei Carl Schmitt: in der Unterscheidung zwischen dem qualitativ und dem quantitativ totalen Staat.12 Letztlich sei angesichts der inneren Souveränität jeder Verzicht des Staates auf Letztentscheidung freiwillig (S. 117). Der Ausnahmezustand wird zur rechtstaatlichen Normalität. In diesem staatsrechtlichen Paradoxon kann man sich verlieren. Was Fraenkel einen fruchtbaren Ausweg erlaubt, ist sein Blick für die gesellschaftliche Wirklichkeit, der ihn danach fragen lässt, welche Bereiche der „qualitativ totale Staat“ nur scheinbar freiwillig in freier Selbstregulierung belasse. Fraenkel bleibt bei seiner Methode der Auswertung von Rechtssprechung und Rechtswissenschaft, sucht den Normenstaat und findet ihn im Wirtschaftsleben.


Nationales Wirtschaftsleben

Hier verlässt die Entwicklung des nationalsozialistischen Rechtsregimes die von Schmitt angelegten Pfade und bleibt kapitalistisch.13 Auch gegen Einschätzungen von prozessbeteiligten Parteiangehörigen und entgegen der hetzenden Presse hielten die Gerichte – allerdings in Übereinstimmung mit der Parteielite – die Wirtschaftsordnung und ihre Grundsätze aufrecht (S. 128 ff). Die extremen Kosten der nationalsozialistischen Rüstungspolitik (S. 254) ließen das Regime zwar intervenieren, aber man begnügte sich wesentlich mit der Förderung von Monopolbildungen und Produktionssteuerung durch Subventionen. Die Wirtschaft selbst – mit Ausnahme der ArbeiterInnen – erhielt die Chance ständischer Selbstorganisation. Die Ablösung der Klassengesellschaft durch die Volksgemeinschaft bleiben für Fraenkel bloße Rhetorik. Statt dessen findet er prägnante Beispiele für den Fortgang der rechtlichen Diskriminierung der Arbeiterklasse (S. 139, S. 153 ff).


Doppelstaat und Rassenfrage

Auch im Wirtschaftsleben endet der Normenstaat bei der Rassenfrage.14 Im Mietrecht etwa gelang der Ausschluss der Jüdinnen und Juden aus dem Mieterschutz des Bürgerlichen Rechts im September 1938 durch eine Definition der Hausgemeinschaft als Unterbegriff der Volksgemeinschaft, zu der die Jüdinnen und Juden natürlich nicht gezählt wurden (S. 146). Kurze Zeit später bedurfte es gar keiner Verbrämung mehr: Das Berliner Landgericht führte einen Monat später aus: „Auch die Ansicht, dass jede einzelne Maßnahme gegen die Juden nur von der Regierung angeordnet werden könne, ist nicht zutreffend. Wollte man dem beitreten, so würde eine Auslegung der Gesetze zuungunsten der Juden nicht stattfinden dürfen und die Juden hierdurch besonders [sic!] geschützt sein. Es liegt auf der Hand, dass das nicht im Sinn der Sache ist“ (S. 146 f.). Dieses Urteil beantwortet Fraenkel mit dem Satz Schillers über die Inhumanität aus dem 4. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen und fällt so zum ersten Mal deutlich aus der Rolle des Wissenschaftlers.15

Seine Arbeit bewegt sich hier anlässlich der Schilderung einer vertragsrechtlichen Streitigkeit auf ihren intimen Mittelpunkt zu: Ein jüdischer Filmregisseur hatte 1933 einen Vertrag mit einer Filmgesellschaft geschlossen. In dem Vertrag war ein Rücktrittsrecht für den Fall aufgenommen worden, dass der Regisseur „durch Krankheit, Tod oder einen ähnlichen Grund nicht zur Durchführung seiner Regietätigkeit im Stande sein sollte“ (S. 148). Das Reichsgericht hatte zu entscheiden, ob jüdische Abstammung ein solcher „ähnlicher Grund“ sein könne. Nach kurzer Darstellung des liberalen Verständnisses der Rechtspersönlichkeit des Menschen bejaht das Gericht die Analogiefähigkeit als „unbedenklich“ unter Hinweis auf das alte Fremdenrecht. Die völlige Rechtlosigkeit sei dem leiblichen Tod als „Bürgerlicher Tod“ gleichzustellen (ebd.).16

Hier fällt der Wissenschaftler zum zweiten Mal aus der Rolle. Fraenkel zitiert Goethe und beendet das Kapitel.17 Mit den beiden Größen des deutschen Idealismus, jener Zeit, deren Philosophie das Denken des Menschen als Person auf bis heute gültige Höhen getrieben hat, versucht Fraenkel das Beobachtete zu fassen. Es wirkt kindlich, wie er die Idole seiner Kindheit und Jugend, deren Verse im Angesicht der Diktatur wie Nippes wirken, gegen die Wirklichkeit hält. Die existentielle Dimension des Verlustes an Sicherheit und letzten Werten tritt hier mit Macht zu Tage und lässt Fraenkels wissenschaftliche Anstrengung zusammenfallen.


Nationalsozialismus und Naturrecht

Im Fortgang seiner Untersuchung geht es ihm nur noch um ihre Verankerung in den vielgestaltigen Diskursen der Naturrechtslehre, den Zwängen des Kapitalismus und den Aporien18 der Rationalität. Er ruft in Erinnerung, wie klar der Nationalsozialismus seine Rolle als Totengräber des 19. Jahrhunderts sah, das von Gustav Walz als „intellektueller Aufstand“ tituliert wurde, der „an Stelle der schöpferischen Kraft und die Herrschaft lebendiger Menschen, Völker und Rassen eine hypostasierte Sollordnung von Werten aller Art, von Normen und Rechtssätzen einzusetzen sich vermaß und damit die ganze Unmittelbarkeit des ethischen und politischen Lebens19 zerstörte“ (S. 161). Nach Walz bestand der tiefere Sinn der Lex van der Lubbe20 in der Umwertung jener Werte (ebd.). Fraenkel begibt sich nun unmittelbar hinein in die Ambivalenz des nationalsozialistischen Naturrechtsdenkens.21 Wäre seine Arbeit in den 50er und 60er Jahren verbreiteter gewesen, hätte vielleicht der Einfluss der These gemindert werden können, dass der Positivismus in seiner – polemischen – Abkehr vom Gerechtigkeitsbegriff zum Unrecht des Dritten Reiches beigetragen habe. Fraenkel zeigt, wie einerseits gegen die Substanzlosigkeit „reiner Rechtslehre“ polemisiert und andererseits die vernunftrechtliche Tradition stoisch-christlich-idealistischer Herkunft vermieden wurde, um einen dritten Weg zu finden in ein Naturrecht, das völkischen Sehnsüchten einladender schien und auch die Historische Rechtsschule nicht zu bieten vermochte. Zwar enthält die Suche Savignys nach „volkshaftem“ und „wirklichem“ Recht bei vulgärer Lesart noch Anknüpfungspunkte für das NS-Programm, aber dessen Hinwendung zur Antike verabscheuten die Parteistrategen und in die Wälder Deutschlands führte Savignys Weg nicht. Fraenkel bietet aber noch einen weiteren Grund jener Ablehnung, der tiefer in die Funktionslogik des Dritten Reiches hineinführt: „Die Nationalsozialisten sind nicht die Bewahrer einer ererbten Tradition, sondern die Repräsentanten einer entwurzelten Generation“ (S. 175). Der Traditionsabbruch von 1933 lässt die Leere nationalsozialistischer Volksrhetorik hervortreten, die Katastrophe gründet auch in der Überforderung einer sich zur Selbsterfindung nötigenden Generation.


Rätselhafte Gemeinschaft

Um das Verhältnis des Nationalsozialismus zum Naturrecht weiter aufzuklären, weist Fraenkel auf eine oft übersehene Ausprägung des Naturrechtsdenkens hin, deren Tradition von Otto von Gierke in seinem Genossenschaftsrecht besorgt wurde (S. 186): Insbesondere bei Leibniz findet sich ein Naturrechtskonzept, dass sich aus der Gemeinschaft als organischem Bestandteil des Universums ableitet. Mangels einer Leibnizschen Theorie der Gesellschaft ist so aber noch wenig gesagt. Verbindet man jedoch diesen Ansatz mit der bekannten Begriffspolarität des Soziologen Ferdinand Tönnies, wird das Potential klar. Tönnies schreibt in seinem Buch Gemeinschaft und Gesellschaft: „Die Theorie der Gesellschaft konstruiert einen Kreis von Menschen, welche, wie in Gemeinschaft, auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind, und während dort verbunden bleibend trotz aller Trennungen, hier getrennt bleiben trotz aller Verbundenheiten“.22 Diese Polarität von Gemeinschaft und Gesellschaft sollte für die nationalsozialistische Ideologie eine zentrale Bedeutung erlangen. Selbst bei dem nüchternen Soziologen Tönnies erscheint die Gemeinschaft als Ort „wesentlicher“, substanzieller Verbundenheit. Setzt man Gemeinschaft und Gesellschaft nun in die vom Titel bereits angedeutete zeitliche Ordnung erscheint ein Naturrecht möglich, das die Gesellschaft als der Lebensform der Moderne ausspart und erst mit der Wiedereroberung der – völkischen – Gemeinschaft sich entfalten kann. Ein Naturrecht, dessen Inhalt letztlich der „Gemeinschaftsmonopolist“ NSDAP festsetzen kann.


Wissenschaft als Therapie

Fraenkel schließt sein Buch mit zwei Kapiteln über Ökonomie und Soziologie des Doppelstaates (S. 223 ff., 240 ff.). Hier treten die Rahmenbedingungen von Fraenkels Arbeit deutlich zutage. Wo seine Betrachtungen über das Rechtsleben von reicher Anschauung und einer Fülle an Material getragen sind, wirkt hier die Analyse karger und konventioneller. Aber gerade hierin erweist sich die grundsätzliche Richtigkeit von Fraenkels These des Dritten Reichs als ökonomischem und soziologischem Erben des kapitalistischen Industriestaates und die Rede von „Gemeinschaft“ als List im Klassenkampf. Dem Schwindel der Differenz zwischen der Perfektion funktioneller Rationalität und dem Defizit substanzieller Rationalität moderner Staatlichkeit begegnet der nationalsozialistische Staat mit – wie Fraenkel es nennt – substanzieller Irrationalität (S. 258).

In Fraenkels Normalitätssuche im Ausnahmezustand ist aber auch noch ein weitergehender Sinn enthalten, da ihm das Unzureichende seiner Arbeitsmittel klar vor Augen gestanden haben muss. Die Arbeit am „Doppelstaat“ bot die Möglichkeit einer Verarbeitung von Erfahrungen, die das Selbstbild eines Bildungsbürgers und Rechtsanwalts tief zu erschüttern drohten und erlangte eine therapeutische Funktion. Dass Fraenkel es nach Abschluss des Doppelstaates vermieden hat, sich erneut in vergleichbarer Breite und Tiefe mit dieser Zeit zu beschäftigen, mag als Indiz für die Richtigkeit der These herhalten. Die existentielle Notwendigkeit der wissenschaftlichen Distanz verleiht Fraenkels „Doppelstaat“ eine atemberaubende Authentizität von Fragestellung und Urteil und einen doppelten Wert als Quelle und Analyse.

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1C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 2002, S. 29.

2Ebd.

3Etwa B. Rüthers, Entartetes Recht, München 1989. Trotz aller Bemühungen gelingt es hier nicht, die Entwicklung des nationalsozialistischen Rechtsdenkens der Jahre 1933 bis 1938 abzubilden. Die zunehmenden Grotesken der letzten Jahre, denen Rüthers in seinen Titeln angemessenen Ausdruck verleiht („Grenzenlose Auslegung“) verstellen den Blick auf die in vielen Bereichen beibehaltene Normalität des Rechtslebens der frühen Jahre.

4In diese Richtung geht M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland Bd. 3, München 1999, S. 354.

5E. Fraenkel, Der Doppelstaat, Hamburg 2001 (im folgenden wird nur noch die Seite angegeben). Die getroffene Unterscheidung zwischen Verfassung und Verfassungsurkunde ist zwar gängig. Hier erinnert sie aber eher an die von C. Schmitt in der Verfassungslehre geforderte Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz.

6Auch hier knüpft Fraenkel an von C. Schmitt geprägte Begriffe an: Die Diktatur, München 1921, 134 ff.

7Dennoch behauptet K. Hildebrand, dass ebendies Fraenkels These sei, Das Dritte Reich, München 2003, S. 164. Dieses Missverständnis ist vor allem problematisch, weil Fraenkel so zu Unrecht zum tauglichen Kronzeugen von Historikern gemacht wird, die sich bemühten, den „reinen“ Staat in Schutz zu nehmen und das Unrecht alleine auf Seiten der Partei zu verorten.

8W. Best, in: D.A.Z. 1. Juli 1937. Zitiert nach Fraenkel, 6, S. 79. Zu Werner Best siehe auch in dieser Ausgabe S. 22 (Juristenbiographie).

9C. Schmitt, Fn. 2, S. 37.

10Ebd. S. 38. Hervorhebung im Original.

11Staatsgeheimnis; der lateinische Begriff enthält Anklänge an mittelalterliche Geheimlehren und stellt den Staat so in mystische Ferne. Fraenkel verwendet den Begriff daher bewusst.

12C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, in: Ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954, Berlin 1958, S. 359 ff.

13Dazu jetzt D. Gosewinkel (Hrsg.), Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur, Frankfurt a. M. 2005.

14Natürlich enthielt die Rassenpolitik eine gigantische Enteignung, wenn auch ihre Bedeutung umstritten ist. Vgl. dazu die Kontroversen um G. Alys Buch: Hitlers Volkstaat, Frankfurt a. M. 2005 in der Presse, etwa die Kritik von A. Tooze in: die tageszeitung v. 12.3.2005 S. 16, Magazin VII, die Gegenkritik von Aly in: die tageszeitung v. 15.3.2005, S. 17 sowie die Erwiderung von Tooze in: die tageszeitung v. 16.3.2005 S. 16.

15F. Schiller schreibt dort in Auseinandersetzung mit der Moralphilosophie Kants: „Der Mensch kann sich aber auf doppelte Weise entgegengesetzt sein: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören.“

16„Die Einheit, mit welcher das Recht rechnet, ist die Person“, schreibt Otto Mayer in seinem Deutschen Verwaltungsrecht, Berlin 1924, Bd. 2, S. 322. Wer keine Person mehr ist, zählt nicht mehr.

17Aus Der Gott und die Bajadere: „Soll er strafen, oder schonen/ Muß er Menschen menschlich sehen.“

18Philosophische Ausweglosigkeit, nicht auflösbares Problem.

19Träume, aus denen Hegel die Deutschen geweckt zu haben glaubte.

20Reichsgesetz vom 29. März 1933 mit dem teilweise das Rückwirkungsverbot aufgehoben wurde, um ein Todesurteil gegen den vermeintlichen Reichtagsbrandstifter Marinus van der Lubbe zu ermöglichen.

21Freilich eine etwas kümmerliche Abbreviatur.

22Darmstadt 1979, S. 34.