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Die Opfer werden angeklagt... Delegationsbericht aus der Türkei
Am
28. August 2002 fand vor dem Staatssicherheitsgericht in Istanbul (DGM)
der zweite Verhandlungstag in einem Prozess gegen 19 linke Oppositionelle
statt. Aus diesem Anlass befand sich vom 25. – 29. August 2002 eine
Delegation aus Journalisten und Juristen in Istanbul. Wir hatten Gelegenheit,
mit türkischen Journalisten, Juristen, Gewerkschaftern, Menschenrechtsverbänden
und linken Organisationen zu sprechen.
Der Widerstand gegen die F-Typen Anlass des erwähnten Gerichtsverfahrens ist der Widerstand gegen die F-Typ-Gefängnisse. Diese Gefängnisse basieren auf der Stammheim-Technologie. Sie werden gezielt im Kampf gegen die linke türkische Opposition eingesetzt, wobei die Isolationsbedingungen zur Zerstörung des revolutionären Geistes der Gefangenen führen sollen. Dieser von der Staatsmacht gefürchtete Geist wendet sich vor allem gegen die IWF-Politik in der Türkei. Die Vorgaben des IWF beherrschen die Politik der Türkei und haben bisher zu Massenarmut und extremer staatlicher Repression geführt. Der aktuelle IWF-Plan steht bereits fest und muss bis 2004 umgesetzt werden. So rangen die politischen Parteien vor der Wahl im November allein darum, wer diesen Plan am effektivsten umsetzen kann. Das bedeutet, die Türkei wird sich weiter für den „westlichen Markt“ öffnen, den Rückgriff auf seine Ressourcen für „westliche“ Industriestaaten sicherstellen, Privatisierungen forcieren, Sozialausgaben kürzen und Repressionsausgaben anheben. Gegen diese Politik und gegen die F-Typen hatte sich im Istanbuler Armenviertel Armutlu ein Widerstandszentrum gebildet. In „Widerstandshäusern“ wurde u.a. ein Todesfasten geführt. Dabei handelt es sich um einen Hungerstreik, bei dem die Streikenden erst mit dem Hungern aufhören, wenn ihre Forderungen erfüllt sind oder sie den Folgen des Fastens erliegen. Die zentrale Forderung der Fastenden ist die Abschaffung der F-Typen. Am 5. November 2001 wurde Armutlu
von der Polizei mit Panzern und schweren Waffen angegriffen. Dabei wurden
4 Personen getötet und 13 Personen festgenommen. In einer Folgeaktion
der Polizei am 13. November 2001 kam es zur Festnahme von weiteren 10
Personen. Von den Festgenommenen stehen nun 19 wegen „einfacher
Mitgliedschaft in einer bewaffneten Bande“ vor dem DGM unter Anklage.
11 von Ihnen sitzen seit Monaten in Untersuchungshaft (U-Haft). Der Prozess Nach den Informationen und Beobachtungen der Delegation kann bei dem gesamten Prozess nicht von einem rechtsstaatlichen Verfahren gesprochen werden. Bereits die Anklageschrift ist derart mangelhaft, dass die Eröffnung des Verfahrens niemals hätte erfolgen dürfen. Abgesehen von der Tatsache, dass bei einem Massenprozess mit 19 Angeklagten die individuelle Schuld jedes einzelnen kaum verifizierbar sein wird, findet sich in der Anklageschrift kein einziger Bezug auf den Vorwurf der Mitgliedschaft. Anstatt darzulegen, in welcher „Bande“ die Angeklagten Mitglied gewesen sein sollen und woraus sich diese Mitgliedschaft ergeben soll, belässt es der Staatsanwalt bei einer allgemeinen Beschreibung der Zustände in Armutlu und der polizeilichen Aktionen vom 5. und 13. November 2001. Eine Zuordnung von konkreten Handlungen zu konkreten Zeitpunkten bezüglich einzelner Angeklagter fehlt gänzlich. Es werden allgemeine Widerstandshandlungen gegen die Polizei beschrieben, um danach festzustellen, dass die Angeklagten am Ort des Geschehens aufgegriffen wurden. Zudem arbeitet die Anklage mit bereits widerlegten Behauptungen der Polizei. Zum Beispiel, dass die Angeklagten sich selbst verbrennen wollten und die 4 getöteten Personen durch Selbstverbrennung gestorben seien. Die Polizei hätte lediglich rettend eingegriffen. Der Autopsiebericht stellt jedoch keinerlei Brandspuren bei den Getöteten fest und von den Angeklagten hatte sich lediglich einer tatsächlich selbst angezündet, als die Polizei in Armutlu einrückte. Auf diesen Angeklagten wurde mit Gummigeschossen gefeuert und als die Flammen erloschen waren, wurde er – laut Zeugenberichten – durch die Polizei erneut angezündet. Die Anklage behauptet weiter, die Polizei habe „nur“ Gummigeschosse eingesetzt. Die VerteidigerInnen vom Rechtsanwaltsbüro des Volkes in Istanbul präsentierten dem Gericht jedoch verschiedenste riesige Gewehrpatronenhülsen und verschiedene Gasgranatenreste, die in Armutlu nach dem 5. November 2001 gefunden wurden. Insgesamt liest sich die Anklageschrift nicht wie eine Anklage gegen die Opfer des Polizeieinsatzes sondern wie eine Verteidigungsschrift zur Legitimierung dieses Einsatzes. Zu
Beginn der Gerichtsverhandlung am 28. August 2002 mussten wir feststellen,
dass lediglich 20 BesucherInnen in dem sehr kleinen Gerichtssaal Platz
fanden. Angesichts der 19 Angeklagten war also nicht einmal Platz für
die engsten Angehörigen der – teilweise barfuß hereingeführten
– Angeklagten und die Öffentlichkeit war faktisch ausgeschlossen.
Nachdem der Richter(!) die Anklageschrift für die am ersten Verhandlungstag
verhinderten Angeklagten verlas, gaben die Angeklagten jeweils Erklärungen
ab. Einige waren gesundheitlich nicht in der Lage, selbst zu reden, so
dass andere ihre Erklärungen verlesen mussten. Der Tenor aller Erklärungen
besagte, dass die Angeklagten die Opfer einer brutalen Polizeiaktion seien
und nicht sie, sondern die Verantwortlichen für diese tödliche
Aktion auf die Anklagebank gehörten. Danach bestritten die AnwältInnen
die Anklage und stellten u.a. den Antrag auf sofortige Entlassung der
in U-Haft sitzenden Angeklagten, die sich zum Teil in einem sehr schlechten
Gesundheitszustand befinden. Daraufhin wurde die Verhandlung für
3 Monate unterbrochen und auf den 20.11.02 vertagt. Die U-Haft geht damit
weiter... Die Isolation in den F-Typen Am 19. Dezember 2000 begann die Türkei mit der „Verlegung“ von politischen Gefangenen in die F-Typen. Diese „Operation“ stellt einen Meilenstein in der menschenverachtenden Politik des türkischen Staates dar. Die Polizei stürmte die Gefängnisse mit schwerem Gerät, um die „Verlegung“ gegen den Willen der Gefangenen durchzusetzen. Dabei wurden Menschen bei lebendigem Leib verbrannt und es wurde mit scharfer Munition geschossen. Es gab 28 Tote und zahlreiche Verletzte. Viele Gefangene kämpfen noch heute mit schweren psychischen Schäden in Folge dieser „Verlegung“. Die Angehörigenorganisation TAYAD eröffnete ein Rehabilitationszentrum für diese Menschen und für Opfer der F-Typen, welches kurz darauf von der Polizei – die immer wieder betont, wie sehr ihr das Leben der Menschen am Herzen liegt – geschlossen wurde. Ein
ehemaliger Häftling, der die „Verlegung“ miterlebte,
sagte, er habe den 19. Dezember 2000 als Hölle empfunden, aber die
Isolation im F-Typ sei um ein vielfaches schlimmer gewesen. Die Isolationsbedingungen
und die ständigen Übergriffe seitens der Wärter führen
immer wieder dazu, dass Gefangene mit dem bereits erwähnten Todesfasten
beginnen. Das Todesfasten kostete bisher 97 Menschenleben und einige Hundert
Menschen leiden an den schweren Folgen der Zwangsernährung. Dennoch
wurde uns immer wieder versichert, dass das Todesfasten weiter gehen werde
und das bereits eine neue Gruppe bereitstehe. Ein Beispiel für den Widerstand der Angehörigen von Gefangenen Wir besuchten drei Angehörige (eine Frau und zwei Männer), die in einer Wohnung in einem Istanbuler Armenviertel einen Solidaritätshungerstreik durchführen. Zu Beginn dieses Hungerstreikes wurde die Wohnung von der Polizei durchsucht, die Hungerstreikenden und ihre Besucher sowie Freunde von ihnen in „4-Tage-Haft“ genommen. Die Streikenden müssen täglich mit der polizeilichen Erstürmung ihrer Wohnung rechnen. Die Frau aus der Dreiergruppe beteiligt sich am Hungerstreik, weil ihr Sohn (21) ein F-Typ-Gefangener ist. Sie erlebt bei Besuchen ihres Sohnes, wie sehr die Isolationsbedingungen die Gefangenen belasten. Sie sagte: „Wie kann ich etwas essen, während mein Sohn leidet, ich um sein Leben fürchten muss und seine GenossInnen im Todesfasten sind?“. Ein
Mann beteiligt sich am Hungerstreik, weil sein Sohn (16) beim Verkauf
der Zeitung Kurtulus erschossen wurde. Der Dritte der Streikenden hat
seinen Sohn (26) im F-Typ verloren. Sein Sohn wurde zwangsweise in einen
F-Typ verlegt und nach einiger Zeit dort erhängt in der Zelle aufgefunden.
Der Vater weiß nicht, ob es Mord oder Selbstmord war, er sagte aber
„in jedem Fall sind die F-Typen schuld am Tod meines Sohnes“. Die „neuen Gesetze“ und die Rolle der EU Trotz der menschenverachtenden Zustände in den F-Typen und der brutalen Repressionspolitik des Staates bejubelt die EU einen „Demokratisierungsprozess“ in der Türkei. Die EU unterstützt und fördert die IWF-Politik und die Durchsetzung der F-Typen. Die Einführung dieser Gefängnisse war sogar eine Bedingung der EU für die Beitrittsfähigkeit der Türkei. Die staatstreue türkische Presse spricht daher auch nicht von den F-Typen sondern von den EU-Typen. Dass die Isolationshaft von Menschenrechtsvereinen als „weiße Folter“ geächtet wird, ignoriert die EU ebenso, wie einen von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer eingebrachten Kompromissvorschlag bezüglich der F-Typen. Der Kompromiss hieß „Drei Türen drei Schlösser“ und sah im Kern vor, jeweils drei F-Typ-Zellen zusammenzulegen. Die Gefangenen akzeptierten diesen Vorschlag, die türkische Regierung und die EU setzen weiter auf vollständige Isolation. Der Menschenrechtsverein IHD beklagte die Rolle der EU und wies darauf hin, dass EU-Institutionen am 19. Dezember 2000 – dem Tag der „Verlegung“ mit massivsten Menschenrechtsverletzungen – für türkische Menschenrechtsvereine auf ebenso wundersame Weise nicht erreichbar waren wie amnesty international Büros. Dafür nahm die EU von den Anfang des Jahres in Kraft getretenen „neuen Gesetzen“ begeistert Notiz. Insbesondere die Umwandlung der Todesstrafe in Friedenszeiten in eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung wurde beklatscht. Alle unsere GesprächspartnerInnen in Istanbul waren sich darin einig, dass von der EU keine Verbesserungen der Menschenrechtslage zu erwarten sei und dass die „neuen Gesetze“ ein kosmetisches Vorzeigewerk darstellen. Bereits unter den „neuen Gesetzen“, nämlich am Montag (20.8.02) vor unserer Ankunft in Istanbul, wurden die Büros der F-Typ-kritischen Zeitungen „Ekmek ve Adalet“ und „Genclik gelecektir“ von der Polizei gestürmt und verwüstet. Die JournalistInnen berichteten von der 4-Tage-Haft (die Polizei darf Festgenommene für vier Tage ohne richterliche Überprüfung festhalten). Sie wurden vier Tage lang am Einschlafen gehindert. Sie mussten sich kalt waschen und sich bewegen. Sie berichteten von schweren körperlichen Misshandlungen, von gebrochenen Nasen und Gliedmaßen. Obwohl die Zeitungen nicht verboten sind, wurde ihr gesamtes Equipment beschlagnahmt und diese Prozedur wiederholt sich in Abständen von ca. 5-6 Monaten. Auch linke Gewerkschaften haben es schwer. Durch die ausufernden Privatisierungen und die IWF-Politik werden erkämpfte ArbeiterInnenrechte Schritt für Schritt abgebaut. Selbst geringste Kritik wird mit scharfer Repression beantwortet. So wurde bspw. die Gewerkschaft der JustizvollzugsbeamtInnen verboten, als diese sich kritisch über die „Verlegung“ vom 19. Dezember 2000 äußerte. Nahezu
bei all unseren Gesprächsterminen, trafen wir auf Personen mit sichtbaren
Verletzungen auf Grund von polizeilicher Gewalt. Insbesondere Frauen sind
starken Repressionen ausgesetzt. Sie müssen sich auf der Polizeiwache
nackt ausziehen und werden dann von mehreren männlichen Polizisten
„durchsucht“, wobei sich die Frauen „wie beim Frauenarzt“
vorkommen, so eine Betroffene. Vergewaltigungen durch Polizisten sind
keine Seltenheit, Folter und Willkür sind auch nach den „neuen
Gesetzen“ ein fester Bestandteil des türkischen Staatssystems. Schluss Trotz aller Repressionen stellen sich Menschenrechtsvereine, Anwaltsvereine, linke Organisationen und Gewerkschaften immer wieder gegen die F-Typ Gefängnisse. Die Haltung zum Todesfasten ist nicht einheitlich, doch sehen alle fortschrittlichen Kräfte die Ursache für dieses Fasten in den unmenschlichen F-Typ-Gefängnissen und sie richten sich deshalb gegen sie. So ist der linke Gewerkschaftsdachverband Disk Istanbul gerade dabei, eine erneute Unterschriftenliste von GewerkschafterInnen gegen die Isolationshaft zu erstellen, um sie der Justizministerin vorzulegen. Auch in den EU Staaten muss endlich erkannt werden, dass das Todesfasten erst mit der Abschaffung der F-Typen enden wird. Die Todesfastenden sind keine TerroristInnen, denn sie fordern lediglich die Einhaltung des menschenrechtlichen Verbotes der Folter. Daher sollte es allen fortschrittlichen Kräften in Europa ein Bedürfnis sein, diese Forderungen zu unterstützen und dem Sterben in der Türkei ein Ende zu machen. Volker Gerloff (Delegationsteilnehmer akj-berlin)
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